LSG Bayern, Urteil vom 26.07.2017 - 12 KA 13/16
Vorinstanzen: SG München 08.12.2015 S 28 KA 1344/14
Tenor I.
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 08.12.2015, S 28 KA 1344/14 wird zurückgewiesen.
II.
Der Beklagte und die Beigeladenen zu 2) und 6) tragen die Kosten des Berufungsverfahrens zu je 1/3. Die Kosten der übrigen
Beigeladenen sind nicht zu erstatten.
III.
Die Revision wird zugelassen.
Entscheidungstext anzeigen:
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Frage, ob die individuelle Beratung nach § 106 Abs. 5e SGB V durch die Zustellung des, die Beratung erstmalig festsetzenden, streitgegenständlichen Widerspruchsbescheids des Beklagten
erfolgt ist.
Die Beigeladene zu 1. ist eine allgemeinärztliche Gemeinschaftspraxis. Gegen diese setzte die Prüfungsstelle im Rahmen einer
Richtgrößenprüfung 2006 (Arzneimittel und Sprechstundenbedarf) mit Prüfbescheid vom 17.12.2008 wegen Überschreitung des Richtgrößenvolumens
um 26,12 % einen Regress in Höhe von 5.744,64 EUR fest. Es handelte sich um die erste Richtgrößenprüfung der Beigeladenen
zu 1.
Der Beklagte gab dem hiergegen eingelegten Widerspruch der Beigeladenen zu 1. mit Widerspruchsbescheid vom 8.7.2014 teilweise
statt (Ziffer 1) und sprach statt des Regresses eine Beratung nach § 106 Abs. 5e SGB V aus (Ziffer 2 Satz 1). Im Übrigen wurde der Widerspruch zurückgewiesen (Ziffer 2 Satz 3). Es ergebe sich zwar nach der Bereinigung
des Gesamtverordnungsvolumens um Praxisgegebenheiten eine neue (bereinigte) Überschreitung iHv 30,63 %, allerdings habe gem.
§ 106 Abs. 5e SGB V abweichend von Abs. 5a bei einer erstmaligen Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 Prozent eine individuelle Beratung zu erfolgen.
Der Ausnahmetatbestand des § 106 Abs. 5e SGB V sei hier erfüllt. Ein Regress sei daher nicht festzusetzen gewesen. Gemäß Ziffer 2 Satz 2 sollte die Beratung mit der Zustellung
des Widerspruchsbescheides erfolgen.
Hiergegen erhob die Klägerin am 13.8.2014 Klage zum Sozialgericht München und stellte klar, dass sich die Klage nicht gegen
den Ausspruch der Beratung nach § 106 Abs. 5e SGB V unter Ziffer 2 Satz 1 des Widerspruchsbescheides richte. Aufgehoben werden solle der Widerspruchsbescheid nur insoweit, als
die Beratung mit Zustellung des Widerspruchsbescheides erfolgt sein solle, denn an eine individuelle Beratung gem. § 106 Abs. 5e SGB V seien höhere Anforderungen zu stellen als an eine "schriftliche Beratung" im Rahmen eines Maßnahmenfestsetzungsbescheids.
Das Angebot einer individuellen Beratung setze voraus, dass die Prüfgremien auf die betroffenen Ärzte, sei es in schriftlicher
oder mündlicher Form, zugingen und diesen eine Beratung, die speziell auf die jeweilige Praxis abgestimmt sei, zur Disposition
stelle. Es bestehe keine Rechtsgrundlage dafür, dass die Beratung nach § 106 Abs. 5e SGB V mit Zustellung des Widerspruchsbescheides erfolge. Soweit den Prüfgremien bei der konkreten Ausgestaltung der Maßnahme nach
§ 106 Abs. 5e SGB V überhaupt ein eigenes Ermessen zugestanden werden könne, sei dieses vom Beklagten jedenfalls nicht ausgeübt worden. Die "individuelle
Beratung" iSd § 106 Abs. 5e Satz 1 SGB V unterscheide sich aufgrund der Begrifflichkeit von der "schriftlichen Beratung" iSd § 106 Abs. 5a Satz 1 i.V.m. Abs. 1a SGB V. Zum einen ergebe sich aus § 106 Abs. 5e Satz 3 SGB V, dass den betroffenen Ärzten bei erstmaliger Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 Prozent eine individuelle
Beratung "angeboten" werden müsse. Bei einer mittels eines Bescheids einseitig auferlegten "schriftlichen" Beratung werde
weder auf die Vertragsärzte mit dem Ziel eines persönlichen Gesprächs zugegangen noch werde ihnen die Beratung zur Disposition
gestellt. Der streitgegenständliche Widerspruchsbescheid unterscheide sich seinem Inhalt nach nicht von den üblichen schriftlichen
Beratungen der Prüfgremien nach § 106 Abs. 5a Satz 1 SGB V. Konkrete Darlegungen zu betragsmäßigen Einsparpotentialen, geschweige denn zielführende Lösungsansätze lasse der Bescheid
vermissen. Es sei eine klare Trennung zwischen Festsetzung der Maßnahme, deren Vollziehung sowie einer abschließenden Feststellung
über die Vollziehung vorzunehmen. Es könne offen bleiben, ob eine individuelle Beratung bei Ärztinnen und Ärzten, die schon
seit Jahren ihr Richtgrößenvolumen überschritten, eine bloße Förmelei darstellen würde. Jedenfalls handele es sich vorliegend
um das erste Richtgrößenverfahren der Beigeladenen zu 1. Im Übrigen sei die individuelle Beratung in der ab dem Quartal 1/15
geltenden Prüfvereinbarung in deren § 17 ausdrücklich in der von der Klägerseite vertretenen Form geregelt. Warum der Beklagte
für die Altquartale eine andere Auslegung weiterverfolge, erschließe sich der Klägerin nicht. Der Beklagte trug vor, die Durchführung
einer Beratung bezüglich eines Verordnungsverhaltens von vor neun Jahren sei nicht zielführend und bloße Förmelei. Der Beklagte
habe den Zeitpunkt der individuellen Beratung davon abhängig zu machen, ob in dem erstinstanzlichen Bescheid Beratungspunkte
aufgeführt gewesen seien oder nicht. Mangels Beratungspunkten im erstinstanzlichen Prüfbescheid sei vorliegend die Beratung
nach § 106 Abs. 5e SGB V mit Versand des Widerspruchsbescheids am 8.7.2014 erfolgt. Damit genieße die Beigeladene zu 1. bis einschließlich Quartal
3/2014 Regressschutz. Aus der Normenkette des § 106 Abs. 5e i.V.m Abs. 5a i.V.m. Abs. 1a SGB V ergebe sich lediglich eine Beratungsaufgabe der Prüfungsstelle anhand von Übersichten. Dies könne auch schriftlich im Bescheid
erfolgen.
Das SG hat der Klage mit Urteil vom 8. Dezember 2015 stattgegeben und den Bescheid des Beklagten vom 8.7.2014 insoweit aufgehoben,
als unter Ziffer 2 Satz 2 festgestellt wurde, dass die ausgesprochene Beratung nach § 106 Abs. 5e SGB V mit Zustellung des Widerspruchsbescheides erfolgt sei. Anders als die Beratungen nach Abs. 1a seien die Beratungen nach Abs.
5a und 5e zwingend durchzuführen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu § 106 Abs. 1a i.V.m. Abs. 5a Satz 1 und 2 SGB V habe die Prüfungsstelle hinsichtlich der Ausgestaltung der Beratung einen Ermessensspielraum, soweit die Partner der Gesamtverträge
keine Bestimmungen in den Prüfungsvereinbarungen träfen. Das BSG führe im Urteil vom 05.06.2013 (Az. B 6 KA 40/12 R, Rn. 10) hierzu aus, dass dem Sinn und Zweck der Maßnahme am ehesten ein persönliches Beratungsgespräch gerecht werden dürfte.
Unabhängig von der Art ihrer Ausgestaltung erfolge mit der Festsetzung einer Beratung jedenfalls eine Beurteilung des Verordnungsverhaltens
des Vertragsarztes. Die Prüfgremien träfen die Feststellung, dass eine Überschreitung der Richtgrößen nicht durch Praxisbesonderheiten
begründet, das Verordnungsverhalten des Vertragsarztes mithin unwirtschaftlich gewesen sei. Der Vertragsarzt müsse sich der
Maßnahme der "Beratung" unterziehen, auch wenn diese unter Umständen nur in der Kenntnisnahme des Festsetzungsbescheides bestehe.
Diese zu § 106 Abs. 1a i.V.m. Abs. 5a Satz 1 und 2 SGB V ergangene Rechtsprechung des BSG könne jedoch nur eingeschränkt auf § 106 Abs. 5e SGB V übertragen werden. Anders als in § 106 Abs. 1a, 5a SGB V sei in § 106 Abs. 5e Satz 1 von einer "individuellen" Beratung die Rede. Zwar ließe sich argumentieren, dass auch eine im Rahmen eines Festsetzungsbescheids
vorgenommene Beratung eine individuelle Beratung sei, weil sie im Rahmen eines individuellen Bescheids gegenüber dem einzelnen
Bescheidsadressaten erfolge. Die Betonung der Individualität durch den Gesetzgeber spräche jedoch eher dafür, dass damit eine
auf die speziellen Verhältnisse, insbesondere auf den speziellen (Beratungs)Bedarf des Vertragsarztes gerichtete Beratung
gemeint sei. Dass der Gesetzgeber eine über den "Festsetzungsbescheid mit Beratungsfunktion" hinausgehende Beratung im Sinn
gehabt habe, sei auch den Regelungen des § 106 Abs. 5e Sätze 3 und 4 SGB V zu entnehmen. Satz 3 regele die Frage der Festsetzung eines Erstattungsbetrages, "wenn ein Vertragsarzt die ihm angebotene
Beratung abgelehnt hat". Danach gehe der Gesetzgeber jedenfalls davon aus, dass die Prüfungsstelle dem Vertragsarzt eine Beratung
anbiete. Satz 4 räume den Vertragsärzten die Möglichkeit ein, im Rahmen der Beratung nach Satz 1 in begründeten Fällen eine
Feststellung der Prüfungsstelle über die Anerkennung von Praxisbesonderheiten zu beantragen. Diese Regelung könne nur Wirkung
entfalten, wenn die Beratung bzw. das Beratungsangebot über die Kenntnisnahme eines Festsetzungsbescheids hinausgehe. Die
Notwendigkeit, dass vor Festsetzung eines Regresses dem Vertragsarzt zumindest ein Beratungsangebot gemacht werden müsse,
lasse sich auch aus der Gesetzesbegründung zum GKV-Versorgungsstrukturgesetz (GKV-VStG) entnehmen. Unter dem Angebot einer Beratung sei dabei zu verstehen, dass die Prüfungsstelle dem Vertragsarzt die Möglichkeit
zur Inanspruchnahme einer tatsächlichen, auf den speziellen (Beratungs-)Bedarf des Vertragsarztes ausgerichteten und auf den
betroffenen Prüfungszeitraum bezogenen Beratung gebe. Ob diese Beratung schriftlich oder mündlich erfolge, liege im Ermessen
der Prüfungsstelle. An eine individuelle Beratung i.S.d. § 106 Abs. 5e Satz 1 SGB V seien demnach grundsätzlich höhere Anforderungen zu stellen als an eine Beratung i.S.d. § 106 Abs. 1a i.V.m. Abs. 5a Satz 1 und 2 SGB V. Allein die Festsetzung einer Beratung im Rahmen eines Maßnahmenbescheides und die Kenntnisnahme durch den Vertragsarzt genügten
jedenfalls nicht. Etwas anderes könnte allenfalls für den - hier nicht vorliegenden - Fall gelten, wenn es sich um einen Vertragsarzt
handele, der schon seit Jahren sein Richtgrößenvolumen überschreite und davon auszugehen sei, dass er aufgrund früherer Maßnahmen
der Prüfgremien mit Beratungsfunktion keinen Beratungsbedarf mehr habe, eine Beratung also nur mehr bloße Förmelei darstellen
würde.
In seiner Berufung vom 20.1.2016 rügt der Beklagte zunächst die Formulierung der Urteilsformel als nicht bestimmt genug. Es
sei nicht klar, ob der Vertragsarzt als beraten gelte oder ob der Beschwerdeausschuss noch eine Beratung durchzuführen habe.
Materiell-rechtlich wiederholte und vertiefte der Beklagte seine bisherigen Ausführungen. Der Gesetzgeber habe gerade nicht
formuliert, dass die Beratung persönlich stattzufinden habe, so dass bei § 106 Abs. 5e SGB V auch eine schriftliche Beratung zulässig sei. Soweit auf die Möglichkeit der Feststellung der Prüfungsstelle über die Anerkennung
von Praxisbesonderheiten abgestellt würde, könne dieser Antrag nicht nur innerhalb eines persönlichen Gesprächs, sondern auch
bereits aufgrund eines erlassenen Prüfbescheides gestellt werden. Ausweislich der Gesetzesbegründung zum GKV-VStG ziele die Beratungsregelung insbesondere auf Jungpraxen. Ein Beratungsbedarf bei einer Praxis, die wie die vorliegende schon
länger in der Prüfung sei, sei geringer, ein Beratungsgespräch demnach bloße Förmelei. Zudem sei die vorliegende Praxis im
Rahmen von Prüfbescheiden für die nachfolgenden Quartale auf mögliches Einsparpotenzial hingewiesen worden. Ein persönliches
Beratungsgespräch für den Prüfzeitraum 2006 im Jahre 2016 würde daher nicht mehr zu einem geänderten Verordnungsverhalten
ab dem Jahr 2007 beitragen. Bei der wörtlichen Auslegung des Gesetzestextes werde dem Wort "individuell" zu viel Bedeutung
beigemessen. Zudem sei nicht nachvollziehbar, warum nur Praxen mit einem Überschreitungswert von über 25 % in den Genuss einer
individuellen Beratung kommen sollten, obwohl ein unwirtschaftliches Verhalten auch bei Praxen mit einer Überschreitung unter
25 % und gegebenenfalls höherem Einsparpotenzial für die GKV vorliegen würde. Es sei nicht ersichtlich, warum die Durchführung
eines persönlichen Beratungsgespräches ein effektiveres Mittel der Wirtschaftlichkeitsprüfung darstellen solle als das Aufzeigen
von Einsparpotenzialen im Wege eines schriftlichen Bescheides. Im vorliegenden Fall würde die Durchführung eines zusätzlichen
(zum schriftlichen Widerspruchsbescheid) persönlichen Beratungsgesprächs den Zeitpunkt einer "individuellen Beratung" nach
§ 106 Absatz 5e SGB V nochmals nach hinten verschieben. Diese Vorgehensweise sei mit rechtlichen Unsicherheiten verbunden. Es würde sich die Frage
stellen, gegen welche Maßnahme der betroffene Arzt vorgehen müsse, falls er Rechtsmittel "gegen die Beratung" einlegen wolle.
Die Beratung nach Absatz 5e sei im Widerspruchsbescheid bereits ausgesprochen worden, fraglich sei demnach, ob noch Rechtsmittel
gegen die Vollziehung der schriftlichen Beratung als Folge eines (möglicherweise eigenen) Verwaltungsaktes zulässig wären.
Die Beratung sei damit faktisch in zwei Verwaltungsakte gesplittet. Diese Aufsplittung diene aber nicht der Rechtssicherheit,
die das BSG dem Erlass eines schriftlichen Bescheides zugewiesen habe. Die neue Rahmenvorgabe des Spitzenverbandes der GKV und KBV zur
Durchführung der Wirtschaftlichkeitsprüfung vom 30.11.2015 sehe in § 5 Abs. 3 Satz 2 und 3 dementsprechend auch vor, dass
die individuelle Beratung statt im Rahmen eines persönlichen Gesprächs auch schriftlich durchgeführt werden könne, auf Wunsch
des Arztes ergänzt durch eine zusätzliche mündliche Beratung. Auch die historische Auslegung des Begriffs der "individuellen
Beratung" nach Absatz 5b zeige, dass ursprünglich eine Regressierung allein bei Überschreiten von mehr als 25 % des Richtgrößenvolumens
vorgesehen war. Es sei nachvollziehbar, dass dieser Umstand zu der Einführung der streitigen Regelung geführt habe, der vor
einer Regressierung das Aufzeigen konkreten Einsparpotenzials zwingend vorschalten wollte. Allerdings verweise die streitige
Regelung auf Absatz 5a in Verbindung mit Absatz 1a, wonach eine Beratung anhand von Übersichten stattzufinden habe. Darunter
sei eine Beratung nach den hier verwendeten ATC- und PZN-Listen zu subsumieren, was auch im Bescheid möglich sei. Der Vertragsarzt
könne dem Bescheid die anerkannten Praxisbesonderheiten sowie die Beratungspunkte entnehmen. Damit sei der Rechtssicherheit
aller Beteiligten genüge getan. Die ab dem Prüfquartal 1/15 geltende Prüfvereinbarung sei auf den streitgegenständlichen Zeitraum
nicht anwendbar.
Der Beklagte stellt den Antrag,
das Urteil des Sozialgerichts München vom 8.12.2015, S 28 KA 1344/14 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin und Berufungsbeklagte stellt den Antrag,
die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
Die Klägerin hält das Urteil des SG für zutreffend. Der Beklagte verkenne, dass die Beratung nach der streitgegenständlichen Regelung des Absatz 5e gesplittet
werden könne in die Festsetzung im Bescheid sowie die Durchführung im Rahmen einer persönlichen Beratung. Auch das BSG gehe in seinem Urteil (B 6 KA 3/14 R) von einer tatsächlichen Durchführung einer individuellen Beratung aus. Daher dürfe gerade nicht auf eine schriftliche Beratung
mittels festsetzenden Bescheids abgestellt werden. Eben diese Rechtsprechung setze das Urteil des SG um. Auch spreche die Regelung des Absatz 5e davon, dem Betroffenen sei eine Beratung "anzubieten". Sinn und Zweck einer Beratung
sei es, auf die individuellen Bedürfnisse der Praxis einzugehen, was nur in einem auf die Praxis abgestimmten Beratungsgespräch
möglich sei. Prüfeinrichtungen seien nach § 35 SGB X ohnehin zur Begründung ihrer Verwaltungsakte und damit zur Mitteilung aller wesentlichen entscheidungserheblichen rechtlichen
und tatsächlichen Gründe verpflichtet. Dies stelle aber nicht gleichzeitig eine Beratung im Sinne der streitgegenständlichen
Regelung dar.
Die Beigeladenen zu 2) und 6) stellen den Antrag,
das Urteil des Sozialgerichts München vom 8.12.2015, S 28 KA 1344/14 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Eine Beratung müsse vom Sinn und Zweck her geeignet sein, den Vertragsarzt in die Lage zu versetzen, sein Verordnungsverhalten
zu prüfen und zu korrigieren. Dies könne mündlich oder schriftlich erfolgen. § 106 Abs. 1a SGB V nenne als Grundlagen die Übersichten des geprüften Arztes, anhand derer die Beratung zu erfolgen habe. Absatz 5e mit seinem
Verweis auf Abs. 1a solle daher die Beratung trotz des Zusatzes "individuell" als solche nicht anders gestalten als bisher,
sondern lediglich den Grundsatz "Beratung vor Regress" bei den Richtgrößenprüfungen bei erstmaliger Überschreitung des Richtgrößenvolumens
im Gesetz verankern. Es sei nicht nachvollziehbar, warum das SG an die individuelle Beratung grundsätzlich höhere Anforderungen stelle als an die Beratung im Sinne des § 106 Abs. 1a SGB V. Die schriftlichen Ausführungen im Widerspruchsbescheid zu den Überschreitungen sowie den anerkannten Praxisbesonderheiten
genügten den Anforderungen an eine Beratung im Sinne von Absatz 5e, da sie geeignet seien, den geprüften Arzt zu einem zukünftig
wirtschaftlicheren Verordnungsverhalten zu veranlassen.
Beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurden die Akten des Beklagten und der Prüfungsstelle sowie
die Gerichtsakten beider Instanzen. Auf den Inhalt der beigezogenen Akten und die Sitzungsniederschrift, die zum Gegenstand
der mündlichen Verhandlung gemacht wurden, wird im Übrigen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die nach § 143 Sozialgerichtsgesetz ( SGG) statthafte und gemäß § 151 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, aber nicht begründet. Das SG hat zu Recht Ziffer 2 Satz 2 des Widerspruchsbescheides aufgehoben. Der Senat schließt sich der zutreffenden Begründung des
SG an und verweist auf dessen Ausführungen, § 153 Abs. 2 SGG.
Auch die in der Berufungsinstanz vorgetragenen Argumente führen zu keinem anderen Ergebnis.
Der Urteilstenor, mit dem das SG den Bescheid des Beklagten vom 8.7.2014 insoweit aufgehoben hat, als unter Ziffer 2 Satz 2 festgestellt wurde, dass die ausgesprochene
Beratung nach § 106 Abs. 5e SGB V mit Zustellung des Widerspruchsbescheides erfolgt ist, ist bestimmt genug. Denn aus den zur Auslegung des Tenors heranzuziehenden
Entscheidungsgründen des Urteils (Keller in Meyer/Ladewig, Komm. zum SGG, 12. Aufl. 2017, § 136, Rn. 5) ergibt sich, dass der Beklagte die in Ziffer 2 Satz 1 des Bescheides ausgesprochene Beratung zumindest noch anzubieten
hat.
Das SG hat die streitige Ziffer auch zu Recht aufgehoben.
§ 106 Abs. 5e SGB V (idF vom 19.10.2012, BGBl. I S. 2192) lautet wie folgt: "Abweichend von Absatz 5a Satz 3 erfolgt bei einer erstmaligen Überschreitung des Richtgrößenvolumens
um mehr als 25 Prozent eine individuelle Beratung nach Absatz 5a Satz 1. Ein Erstattungsbetrag kann bei künftiger Überschreitung
erstmals für den Prüfzeitraum nach der Beratung festgesetzt werden. Dies gilt entsprechend, wenn ein Vertragsarzt die ihm
angebotene Beratung abgelehnt hat. Im Rahmen der Beratung nach Satz 1 können Vertragsärzte in begründeten Fällen eine Feststellung
der Prüfungsstelle über die Anerkennung von Praxisbesonderheiten beantragen. Eine solche Feststellung kann auch beantragt
werden, wenn zu einem späteren Zeitpunkt die Festsetzung eines Erstattungsbetrags nach Absatz 5a droht. Das Nähere zur Umsetzung
der Sätze 1 bis 5 regeln die Vertragspartner nach Absatz 2 Satz 4. Dieser Absatz gilt auch für Verfahren, die am 31. Dezember
2011 noch nicht abgeschlossen waren."
Auf die vorliegende Richtgrößenprüfung der Beigeladenen zu 1. war § 106 Abs. 5e SGB V anzuwenden, da das Prüfverfahren am 31.12.2011 noch nicht abgeschlossen war und die Entscheidung des Beklagten nach dem 25.10.2012
ergangen ist (vgl. BSG, Urteil vom 22.10.2014, Az. B 6 KA 3/14 R). Soweit argumentiert wurde, inwieweit sich eine erstmalige Überschreitung des Richtgrößenvolumens nur auf den Zeitraum nach
Inkrafttreten der Neuregelung des Absatz 5e bezieht, hat sich der Senat hierzu schon in mehreren Urteilen geäußert (vgl. zuletzt
Urteil des Senats vom 24.5.2017, L 12 KA 19/16). Die Neuregelung sollte demnach keine Zäsur bzw. Amnestie insoweit darstellen, dass eine erstmalige Überschreitung nur den
Zeitraum nach der Neuregelung betrifft, vielmehr liegt bei Überschreitungen vor der Neuregelung dann keine erstmalige Überschreitung
mehr vor (so auch BSG, Urteil vom 22.10.2014, B 6 KA 3/14 R, Rn. 58 ff.).
Nähere Regelungen der Partner der Gesamtverträge nach § 106 Abs. 5e Satz 6 SGB V zur Frage der Umsetzung des § 106 Abs. 5e Sätze 1 bis 5 SGB V existieren für den streitgegenständlichen Prüfungszeitraum nicht.
§ 106 Abs. 5e Satz 1 SGB V verweist bezüglich der individuellen Beratung auf Absatz 5a Satz 1, der wiederum auf Absatz 1a Bezug nimmt. Danach berät
in erforderlichen Fällen die in Absatz 4 genannte Prüfungsstelle die Vertragsärzte auf der Grundlage von Übersichten über
die von ihnen im Zeitraum eines Jahres oder in einem kürzeren Zeitraum erbrachten, verordneten oder veranlassten Leistungen
über Fragen der Wirtschaftlichkeit und Qualität der Versorgung.
Nach der Gesetzesbegründung zum GKV-VStG sollte bei erstmaliger Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 v.H. "kein Regress festgesetzt werden, bevor
den betroffenen Vertragsärztinnen und -ärzten daraufhin nicht zumindest eine einmalige Beratung angeboten wurde" (BT-Drs.
17/6906, S. 79). Dementsprechend führt auch das BSG aus, dass Sinn und Zweck der Einfügung des § 106 Abs. 5e SGB V gewesen sei, Ärzte nach erstmaligem Überschreiten des Richtgrößenvolumens nicht unmittelbar einem - trotz der betragsmäßigen
Begrenzung durch § 106 Abs. 5c Satz 7 SGB V wirtschaftlich belastenden - Regress auszusetzen, sondern ihnen über eine eingehende "Beratung" zunächst ohne finanzielle
Konsequenzen für die Praxis die Möglichkeit zu geben, ihr Verordnungsverhalten bei Arznei- und Heilmitteln zu modifizieren
(BSG, Urteil vom 22.10.2014, Az. B 6 KA 3/14 R, Rn. 65).
Das SG hat hierzu zutreffend ausgeführt, dass die individuelle Beratung nach Absatz 5e zusätzlich zu der ohnehin nach § 35 Abs. 1 SGB X notwendigen Begründung der Überschreitungen und möglichen Einsparpotenzialen im Widerspruchsbescheid zu erfolgen hat. Diese
Notwendigkeit ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der maßgeblichen Vorschrift, denn nach Absatz 5e Satz 3 kann ein Vertragsarzt
die ihm "angebotene" Beratung ablehnen. Ein Angebot setzt bereits begrifflich die Möglichkeit der Annahme oder der Verweigerung
voraus, was allein nach Ausspruch einer "erfolgten" Beratung in einem schriftlichen Bescheid nicht möglich ist. Im Übrigen
gehen die Ausführungen im Widerspruchsbescheid zu den Einsparpotenzialen der Beigeladenen zu 1. auch nicht über das hinaus,
was im Rahmen der Begründungspflicht nach § 35 SGB X zu verlangen ist. Hierin gleichzeitig eine vom Gesetz verlangte individuelle Beratung zu sehen, würde der Intention des Gesetzgebers,
mit dem ausdrücklichen Beratungsangebot eine Änderung des Verordnungsverhaltens herbeizuführen, nicht gerecht. Auch hätte
es des Umsetzungsauftrages des § 106 Absatz 5b Satz 6 an die untergesetzliche Ebene nicht bedurft, wenn sich durch die Neuregelung
keine Änderung gegenüber der alten Rechtslage hätte ergeben sollen. Entsprechend haben die Vertragspartner die Prüfvereinbarung,
gültig ab dem Quartal 1/15 in § 17 entsprechend angepasst. Nach § 17 Abs. 1 Satz 1 der (neuen) Prüfvereinbarung erfolgt die
individuelle Beratung nach § 106 Abs. 5e S. 1 SGB V durch Festsetzung im Bescheid. Nach Satz 2 der Vorschrift wird die Maßnahme der individuellen Beratung von der Prüfungsstelle
vollzogen, findet in einem persönlichen (auf Wunsch des Vertragsarztes auch fernmündlichen) Gespräch statt und soll dem Vertragsarzt
zeitnah angeboten werden. Lehnt der Vertragsarzt eine Beratung ab, stellt die Prüfungsstelle in einem Feststellungsbescheid
fest, dass der Vertragsarzt als beraten im Sinne des § 106 Abs. 5e S. 1 SGB V gilt. Der weitere Ablauf der Beratung wird in § 17 Abs. 2 der PV (neu) näher dargestellt. Mit dieser (neuen) Regelung wird letztlich das kodifiziert, was der Beklagte für den
streitgegenständlichen Zeitraum für rechtlich und praktisch nicht umsetzbar hält.
Die von dem Beklagten monierte Trennung der Beratung in eine Festsetzung im Prüf- bzw. Widerspruchsbescheid und die verwaltungsmäßige
Umsetzung (Vollzug) in einem nachfolgenden Beratungsgespräch bzw. dessen Angebot begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Verwaltungsaktqualität
hat zunächst nur die Festsetzung der Beratung im Bescheid, die Durchführung der Beratung ist lediglich dessen Vollzug, der
nicht angefochten werden kann. Dies zeigt sich insbesondere daran, dass der Vertragsarzt eine angebotene Beratung auch ablehnen
kann. Das reine Angebot der Beratung hat schon mangels Regelungscharakter keine Verwaltungsaktqualität. Rechtsunsicherheit
ist durch diese Auslegung - wie auch die Umsetzung in der neuen Prüfvereinbarung zeigt - nicht zu befürchten. Der Beklagte
verfängt auch nicht mit dem Argument, der Zeitpunkt der Beratung würde sich durch eine zusätzlich zum schriftlichen Bescheid
erforderliche Beratung immer weiter nach hinten hinaus schieben. Vielmehr hat es der Beklagte bzw. die Prüfstelle durch zeitnah
angebotene Beratungen selbst in der Hand, auf einen kurzen Verfahrensablauf hinzuwirken. Zudem kann eine Beratung nur auf
eine Verhaltensänderung in der Zukunft hinwirken. Insoweit geht das Argument des Beklagten - eine Beratung könne am Verordnungsverhalten
für zurückliegende Zeiträume nichts ändern und sei bloße Förmelei - ins Leere.
Soweit die Beigeladene zu 2. ausführt, dass mit Abs. 5e lediglich der Grundsatz "Beratung vor Regress" Einzug ins Gesetz finden
sollte, ohne zusätzliche Anforderungen an die Beratung zu stellen, für dies zu keinem anderen Ergebnis. Es hätte des Zusatzes
"individuelle" Beratung nicht bedurft, hätte die Regelung nur zur Verankerung des Grundsatzes gedient. In diesem Fall wäre
der alleinige Hinweis in Abs. 5e Satz 1 auf Abs. 5a Satz 1 ausreichend gewesen. Auch die Argumentation, die Regelung hätte
nach der Gesetzesbegründung in erster Linie Jungpraxen im Auge, greift nicht. Die Regelung wollte vielmehr das wirtschaftliche
Risiko einer erstmaligen Überschreitung des Richtgrößenvolumens kalkulierbar halten, indem in diesem Fall zumindest eine einmalige
Beratung angeboten werden soll. Bei einer erstmaligen Überschreitung sind Jungpraxen aber nicht schutzbedürftiger als bisher
nicht auffällig gewordene Altpraxen. In diesem Sinne argumentiert auch das BSG in seinem Urteil vom 22.10.2014, das eine Schutzbedürftigkeit von bereits in der Vergangenheit auffällig gewordenen Praxen
verneint und insoweit eine Privilegierung von Vertragsärzten, die seit längerem nicht mit dem Wirtschaftlichkeitsgebot im
Einklang handeln, verneint (BSG, aaO, Rn 66). Diese Ärzte bedürften keiner Beratung, "diese wäre vielmehr bloße Förmelei". Eine Anwendung des Grundsatzes
ausschließlich auf Jungpraxen, wie der Beklagte meint, hat aber auch das BSG nicht gesehen. Wenn der Gesetzgeber dies gewollt hätte, hätte es seinen Niederschlag im Gesetzestext finden müssen. In der
hier maßgeblichen Fassung des § 106 Abs. 5e SGB V stellt der Wortlaut aber nur auf die erstmalige Überschreitung ab, unabhängig davon, ob es sich um eine Jung- oder eine Altpraxis
handelt.
Das SG hat daher Ziffer 2 Satz 2 des streitgegenständlichen Bescheides in zutreffendem Umfang aufgehoben.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 2 und 3 VwGO und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.
Die Revision ist wegen grundsätzlicher Bedeutung, § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG, zuzulassen.
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