Aufhebung einer bereits erfolgten Vollziehung
Interessenabwägung im Eilverfahren
Bestimmung des Streitgegenstands
Gründe:
I.
Mit Bescheid vom 14. Januar 2015 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller für die Zeit vom 1. Februar 2015 bis 31. Juli
2015 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Bewilligt wurde der monatliche Regelbedarf (Februar 164,40 Euro, folgende Monate 399 Euro). Bedarfe für Unterkunft und
Heizung werden mit diesem Bescheid nicht bewilligt.
Mit Änderungsbescheid vom 16. Januar 2015 wurde für den Monat Februar die Minderung des Auszahlungsanspruchs (Sanktion) zurückgenommen,
der Bescheid vom 14. Januar 2015 wurde insoweit aufgehoben.
Mit Bescheid vom 26. Januar 2015 minderte der Antragsgegner das Arbeitslosengeld II (Sanktion), wobei für die Zeit vom 1.
Februar 2015 bis 30. April 2015 ein vollständiger Wegfall seines Arbeitslosengeldes II festgestellt wurde. Als von der Absenkung
betroffen wurde der Regelbedarf angegeben. Die Bewilligungsbescheide vom 14. Januar 2015 und 16. Januar 2015 wurden insoweit
für die Zeit vom 1. Februar 2015 bis 30. April 2015 ganz aufgehoben (§ 48 Abs. 1 SGB X). Dem Antragsteller seien am 12. November 2014 Beschäftigungsverhältnisse angeboten worden, der Antragsteller habe trotz
schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen keine dieser Beschäftigungen aufgenommen. Ihm seien am 12. November 2014 folgende
Beschäftigungsverhältnisse angeboten worden:
- Helfer Ver- und Entsorgung bei der Firma B
- Helfer Reinigung bei dem Arbeitgeber C H
- Helfer Reinigung bei der Firma S T L GmbH.
Diese Angebote seien unter Berücksichtigung seiner Leistungsfähigkeit und persönlichen Verhältnissen zumutbar.
Mit Bescheid vom 23. April 2015 wurde für die Zeit vom 1. Mai 2015 bis 31. Juli 2015 ein vollständiger Wegfall seines Arbeitslosengeldes
II festgestellt. Das Arbeitsarbeitslosengeld mindere sich um 399 Euro monatlich. Im Einzelnen seien von der Minderung betroffen:
Der Regelbedarf, die Leistungen für Unterkunft und Heizung. Der Bewilligungsbescheid vom 14. Januar 2015 wurde insoweit für
die Zeit vom 1. Mai 2015 bis 31. Juli 2015 ganz aufgehoben. Zur Begründung wurde ausgeführt, ihm seien am 06. März 2015 folgende
Beschäftigungsverhältnisse angeboten worden:
- Helfer Lagerwirtschaft, Transport bei der Firma I Personalservice GmbH & Co.KG
- Helfer Lagerwirtschaft, Transport bei der Firma A Arbeitnehmerüberlassung und Constructions GmbH & Co.KG
- Gebäudereiniger bei der Firma E Personal-Service GmbH
- Helfer Lagerwirtschaft, Transport bei der Firma Z Umzüge AG.
Da er mehrfach seinen Pflichten nicht nachgekommen sei (vorangegangene Pflichtverletzungen am 29. September 2014 und 12. November
2014), falle sein Arbeitslosengeld II für den Minderungszeitraum vollständig weg.
Beim Sozialgericht Berlin ist ein Klageverfahren rechtshängig zu S 196 AS 7421/15 betreffend den Bewilligungsbescheid vom 14. Januar 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02. April 2015, gegen den
am 09. April 2015 Klage erhoben wurde. Der Kläger begehrt dort die Auszahlung der bewilligten Leistungen ab Februar 2015 in
ungekürzter Höhe. Dort wird der Bescheid vom 23. April 2015 nach §
96 Sozialgerichtsgesetz als Gegenstand des Verfahrens behandelt.
Mit dem am 29. April 2015 beim Sozialgericht Berlin eingegangenen Antrag macht der Antragsteller geltend, mit Bescheid vom
23. April 2015 habe der Antragsgegner seine Leistungen zum Lebensunterhalt um 100 % gekürzt. Die Sanktion sei nicht gerechtfertigt,
entgegen dem Bescheid vom 23. April 2015, in dem die neuen Sanktionen ausgesprochen worden seien, bestreite er, dass er mit
Schreiben vom 06. März 2015 Arbeitsangebote erhalten hätte. Abgesehen davon wäre es aufgrund der Sanktionen für ihn auch nicht
möglich gewesen, die angebotenen Beschäftigungsverhältnisse wahrzunehmen, da ihm bereits seit dem Februar eine Sanktion zu
100 % ausgesprochen worden sei. Mit dem neuen Bescheid werde ihm auch die Ausgabe von Gutscheinen bzw. geldwerten Leistungen
verweigert, wo sich die Frage stelle, wie man ohne entsprechende Leistungen sich überhaupt für ein Beschäftigungsverhältnis
bewerben solle. Auch Fahrkarten habe das Jobcenter für die Anbahnung der angebotenen Beschäftigungsverhältnisse nicht zur
Verfügung gestellt bzw. angeboten.
Er hat erstinstanzlich beantragt,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, umgehend Leistungen nach dem SGB II ohne Absenkung fortlaufend ab 1. Mai 2015 weiter zu gewähren sowie die Kosten für das Wohnheim fortlaufend weiter zu gewähren.
Der Antragsgegner hat erstinstanzlich beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Der Antrag sei aufgrund doppelter Rechtshängigkeit als unzulässig zu erachten. Der Antragsteller habe bereits unter dem Az.:
S 148 AS 8862/15 ER ein einstweiliges Rechtsschutzverfahren angestrengt.
Mit Beschluss vom 22. Mai 2015 hat das Sozialgericht Berlin den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs
vom 27. April 2015 gegen den Sanktionsbescheid vom 23. April 2015 sowie den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
abgelehnt. Der Antrag sei wegen doppelter Rechtshängigkeit unzulässig. Der hier streitgegenständliche Sanktionsbescheid vom
23. April 2015 sei bereits anhängig zum Verfahren S 196 AS 7421/15 ER I.
Mit der am 27. Mai 2015 gegen den Beschluss eingelegten Beschwerde macht der Antragsteller geltend, es sei in dem Verfahren
vor der 196. Kammer nur teilweise um einen gleichen Sachverhalt gegangen, nämlich bei den Unterkunfts- und Heizkosten für
das Wohnheim (S 196 AS 7421/15 ER I). Die in dem Verfahren vor der 140. Kammer zu prüfenden Sanktionierungen der Leistungen zum Lebensunterhalt seien nicht
Gegenstand der Prüfung der 196. Kammer gewesen.
Der Antragsteller beantragt:
1. Der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 22. Mai 2015 wird aufgehoben.
2. Der Beschwerdegegner wird verurteilt, umgehend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ab dem 1. Mai 2015 ohne Absenkung
fortlaufend weiter zu gewähren und als Barzahlung auf das Konto zu überweisen sowie
die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung nachzuzahlen und fortlaufend zu übernehmen.
Der Antragsgegner beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Er meint, einer Entscheidung stehe der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 7. Mai 2015 (S 196 AS 7421/15 ER I) entgegen, auch dort sei Gegenstand des Beschlusses der Wegfall der Regelleistung aufgrund des Sanktionsbescheides vom
23. April 2015 gewesen. In Umsetzung des Beschlusses habe der Antragsgegner bereits am 15. Mai 2015 eine Kostenübernahmeerklärung
für das Wohnheim für den Zeitraum vom 1. Mai 2015 bis 31. Juli 2015 ausgestellt.
Wegen der weiteren Einzelheiten und des Sachverhalts im Übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt der vorliegenden Gerichtsakten,
der Gerichtsakten S 196 AS 7421/15 ER und den Auszug aus der Gerichtsakte S 196 AS 7421/15 ER I.
II.
Die zulässige Beschwerde ist wie tenoriert begründet. Der Antragsteller hat einen Anspruch auf Erlass einer Entscheidung im
Wege einstweiligen Rechtsschutzes.
Dem Erlass einer solchen einstweiligen Anordnung steht die Rechtskraft des Beschlusses des Sozialgerichts Berlin vom 7. Mai
2015 (S 196 AS 7421/15 ER I) nicht entgegen. Das Sozialgericht hat unzutreffender weise abgelehnt, den Antrag des Antragstellers im vorliegenden
Verfahren inhaltlich zu prüfen. Im vorliegenden Rechtsstreit kann nur eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs
bzw. der Klage gegen den Sanktionsbescheid vom 23. April 2015 dem Begehren des Antragstellers zum Erfolg verhelfen. Eine Entscheidung
dazu ist mit dem Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 7. Mai 2015 (S 196 AS 7421/15 I ER) nicht erfolgt. Diese Entscheidung bindet das Gericht daher hier nicht.
Nach §
141 Abs.
1 Nr.
1 erste Alternative
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) binden rechtskräftige Urteile, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist, die Beteiligten. Diese Vorschrift
findet entsprechende Anwendung auf Entscheidungen im vorläufigen Rechtsschutz (Meyer-Ladewig, aaO., § 141 Rdnr. 5, § 86 b
Rdnrn. 44 a). Maßgebend für die Bestimmung des Streitgegenstands ist der geltend gemachte prozessuale Anspruch, dh Klageantrag
und Klagegrund im Hinblick auf einen bestimmten Sachverhalt (BSG SozR 4-5425 § 24 Nr 11 RdNr 11; BSG SozR 4-1500 § 51 Nr 4 RdNr 26 mwN). Entschieden wurde nicht über den im vorliegenden Verfahren zu entscheidenden prozessuale Anspruch. Hier
begehrt der Antragsteller in 2. Instanz - Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ab dem 1. Mai 2015 ohne Absenkung
fortlaufend weiter zu gewähren. Hierin ist ein Antrag auf den Regelbedarf ohne Absenkung fortlaufend ab 1. Mai 2015 enthalten.
Und hierüber liegt keine rechtskräftige Entscheidung vor, auch anhängige Verfahren sind dazu nicht bekannt.
Soweit der Antragsteller darüber hinaus beanspruchen sollte, die Kosten für das Wohnheim fortlaufend weiter zu gewähren(siehe
Antrag in 1.Instanz), ist dazu eine Entscheidung mit dem Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 7. Mai 2015 (S 196 AS 7421/15 I ER) bindend erfolgt. Zudem fehlte es insoweit schon an einem Rechtsschutzbedürfnis, weil der Antragsgegner glaubhaft gemacht
hat, dass er diese Kosten vom 1.Mai bis 31.Juli 2015 übernommen hat. Für die Zeit danach müsste zunächst ein Antrag beim Antragsgegner
gestellt werden.
Der Einwand des Antragstellers, die in dem Verfahren vor der 140. Kammer zu prüfenden Sanktionierungen der Leistungen zum
Lebensunterhalt seien nicht Gegenstand der Prüfung der 196. Kammer gewesen, ist zutreffend. Richtig ist, dass der Antragsteller
die Auszahlung des Regelbedarfs in jenem Verfahren nicht beantragt hatte. Sein Antrag lautete ausschließlich auf Verpflichtung
des Antragsgegners im Wege einstweiliger Anordnung zur Gewährung von lediglich Unterkunfts- und Heizkosten fortlaufend ab
1. Mai 2015 und Kostenübernahme für Medikamente. Eine Auszahlung des mit Bescheid vom 14. Januar 2015 bewilligten Regelbedarfs
beanspruchte er nicht in jenem Verfahren. Der Antragsteller hatte den Streitgegenstand durch den ausschließlich darauf bezogenen
Antrag wirksam auf die Leistungen für die Unterkunft beschränkt. Dies ist prozessual zulässig. (Zur Abtrennbarkeit dieser
Leistungen vgl nur BSG, Urteil vom 04. Juni 2014 - B 14 AS 42/13 R -, SozR 4-4200 § 22 Nr 78, Rn. 10).
Hierüber hat das Sozialgericht auch entschieden, was es bereits mit dem ersten Satz seiner Entscheidungsgründe mitgeteilt
hat. Damit hat das Sozialgericht nur hinsichtlich der Kosten der Unterkunft die Anordnung der aufschiebenden Wirkung geprüft
und entschieden. Es hat mit dem Beschluss vom 7. Mai 2015 (S 196 AS 7421/15 I ER) die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 27. April 2015 gegen den Sanktionsbescheid vom 23.
April 2015 angeordnet, soweit die darin festgestellte vollständige Minderung seines Arbeitslosengeldes II im Zeitraum vom
1. Mai 2015 bis 31. Juli 2015 die Leistungen für Unterkunft und Heizung betrifft, und den Antragsgegner verpflichtet, die
Kosten der Unterbringung des Antragstellers bei dem P Wohnheim, Lstraße 56, B in Höhe von 18,24 Euro täglich für die Zeit
vom 1. Mai 2015 bis 31. Juli 2015 darlehensweise zu übernehmen, soweit sie tatsächlich anfallen. Im Wege der Entscheidung
hat Sozialgericht das Antragsbegehren des Antragstellers dahin ausgelegt, dass er zunächst die Anordnung der aufschiebenden
Wirkung seines eingelegten Widerspruchs gegen den Sanktionsbescheid vom 23. April 2005 sowie darüber hinaus die Übernahme
der Wohnheimkosten im Wege der Vollzugsfolgenbeseitigung begehre und hat ausweislich der Entscheidungsgründe über den Sanktionsbescheid
vom 23. April 2015 nicht in Gänze und damit auch nicht über die Berechtigung der Sanktion hinsichtlich des Regelbedarfs ab
1. Mai bis 31. Juli 2015 entschieden. Das Sozialgericht hat zugrunde gelegt, dass der Antragsgegner am 23. April 2015 dem
Wohnheim mitgeteilt hatte, dass für die Zeit vom 1. Mai 2015 bis 31. Juli 2015 keine Kostenübernahme für die Unterbringung
des Antragstellers erfolgen werde. Das Sozialgericht legte das Antragsbegehren des Antragstellers nach verständiger Würdigung
gemäß §
123 SGG dahin aus, dass er zunächst die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines eingelegten Widerspruchs gegen den Sanktionsbescheid
vom 23. April 2005 sowie darüber hinaus die Übernahme der Wohnheimkosten im Wege der Vollzugsfolgenbeseitigung begehre. Das
Sozialgericht führte aus, zwar sei der angegriffene Sanktionsbescheid vom 23. April 2015 nach summarischer Prüfung mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit rechtmäßig, soweit er die festgestellte Pflichtverletzung betreffe. Denn der Antragsteller habe weder vorgetragen
noch sei aus den Akten ersichtlich, dass der Antragsgegner zu Unrecht eine zweite wiederholte Pflichtverletzung festgestellt
habe, die gemäß § 31 a Abs. 1 Satz 3 SGB II zu einem vollständigen Wegfall des Arbeitslosengeldes II führe. Auch Beginn und Dauer der Minderung habe der Antragsgegner
entsprechend den gesetzlichen Vorgaben richtig verfügt. Problematisch sei jedoch, dass entsprechend der gesetzlichen Regelung
mit der Sanktion auch die Leistungen für Unterkunft des Antragstellers wegfielen und er mithin seiner Zahlungsverpflichtung
gegenüber dem Wohnheim nicht mehr nachkommen könne. In der Literatur werde daher vorgeschlagen, als verfassungsrechtlich gebotene
Erweiterung des § 31 a Abs. 3 Satz 3 SGB II zur Abwendung von Wohnungslosigkeit Leistungen nach § 22 Abs. 8 SGB II im Rahmen einer (darlehensweisen) Mietschuldenübernahme oder eine Direktüberweisung an den Vermieter zu prüfen, um die Existenz
auch im Bereich des Wohnens auf jeden Fall sicherzustellen. Nach Auffassung des Gerichts sei es vorliegend daher gerechtfertigt,
den Antragsgegner einstweilen zu verpflichten, die Wohnheimkosten im Sanktionszeitraum darlehensweise zu übernehmen, da dem
Antragsteller bei fehlender Kostenübernahme der Verlust seines Wohnheimplatzes ohne Einhaltung von Kündigungsfristen direkt
drohe. Durch die nur darlehensweise Übernahme der Wohnheimkosten wäre andererseits der mit der Sanktion verfolgte gesetzgeberische
Zweck nicht vollständig konterkariert. Im Ergebnis sei die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Sanktionsbescheid
daher insoweit anzuordnen, als er den Wegfall der Leistungen für Unterkunft und Heizung betreffe und eine Verpflichtung zur
darlehensweisen Übernahme der Wohnkosten im Wege der Vollzugsfolgenbeseitigung auszusprechen. Die Ablehnung des Antrags im
Übrigen erfolgte ausschließlich im Hinblick auf einen Antrag auf Übernahme von Kosten für ein Medikament. Im Zusammenhang
mit dem ersten Satz seiner Entscheidungsgründe, der Antrag, den Antragsgegner im Wege einstweiligen Rechtsschutzes zu verpflichten,
Unterkunfts- und Heizkosten ab 1.Mai 2015 weiter zu gewähren wird deutlich, dass das Sozialgericht nur hinsichtlich der Kosten
der Unterkunft die Anordnung der aufschiebenden Wirkung geprüft und entschieden hat.
Damit ist das Gericht hier nicht gehindert, in der Sache zu entscheiden.
Die Rechtskraft des Beschlusses des Sozialgerichts Berlin Geschäftszeichen S 196 AS 7421/15 ER - ehemals S 148 AS 8862/15 ER - steht einer Entscheidung über den vorliegenden Antrag ebenfalls nicht entgegen. In jenem Verfahren ist der hier anhängige
Zeitraum vom 01. Mai 2015 bis 31. Juli 2015 nicht Gegenstand der Entscheidung gewesen (vgl. Beschluss des Landessozialgerichts
Berlin-Brandenburg vom 09. Juli 2015 - L 32 AS 1245/15 B ER) der auf die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin Geschäftszeichen S 196 AS 7421/15 ER ergangen ist.
Die zulässige Beschwerde ist wie tenoriert begründet. Zu prüfen ist die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs
bzw. der Klage gegen den Bescheid vom 23. April 2015, denn nur auf diesem Weg kann der Antrag, Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhalts ab dem 1. Mai 2015 ohne Absenkung fortlaufend weiter zu gewähren, Erfolgsaussicht haben.
Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist ab 10. Juli 2015 begründet.
Nach §
86 Abs.
1 Satz 1 Nr.
2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch und Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung
haben, die sofortige Vollziehung ganz oder teilweise anordnen. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon
vollzogen und befolgt worden, kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen, §
86 Abs.
1 Satz 2
SGG. Der Widerspruch gegen einen Verwaltungsakt, der Leistungen der Grundsicherung aufhebt, zurücknimmt, widerruft, hat keine
aufschiebende Wirkung (§ 39 Abs. 1 Nr. 1 SGB II).
Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist nur möglich, wenn das besondere Interesse des Antragstellers an der Anordnung
der aufschiebenden Wirkung das vom Gesetz vorausgesetzte Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit des Verwaltungsaktes
überwiegt, wobei bei der Prüfung der Interessen zuerst auf die Erfolgsaussichten in der Hauptsache abzustellen ist. Bestehen
ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts und ist der Betroffene dadurch in seinen subjektiven Rechten
verletzt, wird ausgesetzt, weil dann ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Vollziehung nicht erkennbar ist. Ist
der Verwaltungsakt offensichtlich rechtmäßig, wird die aufschiebende Wirkung nicht angeordnet. Sind die Erfolgsaussichten
nicht in dieser Weise abschätzbar, bleibt eine allgemeine Interessenabwägung, wobei die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens
und die Entscheidung des Gesetzgebers in § 39 Nr. 1 SGB II mit berücksichtigt werden (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 10. Auflage, §
86 b Rn. 12 ff. m.w.N.).
An diesen Maßstäben gemessen ist die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs jedenfalls ab dem Zeitpunkt der gerichtlichen
Entscheidung im Beschwerdeverfahren anzuordnen. Es bestehen ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts.
§ 31 a Abs.1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) besagt:
Bei einer Pflichtverletzung nach § 31 SGB II mindert sich das Arbeitslosengeld II in einer ersten Stufe um 30 % des für die erwerbsfähig leistungsberechtigte Person nach
§ 20 maßgebenden Regelbedarfs. Bei der ersten wiederholten Pflichtverletzung nach § 31 SGB II mindert sich das Arbeitslosengeld II um 60 % des für die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person nach § 20 maßgebenden Regelbedarfs(Satz 2). Bei jeder weiteren wiederholten Pflichtverletzung nach § 31 SGB II entfällt das Arbeitslosengeld II vollständig(Satz 3). Eine wiederholte Pflichtverletzung liegt nur vor, wenn bereits zuvor
eine Minderung festgestellt wurde (Satz 4).
§ 31 SGB II lautet: (1) Erwerbsfähige Leistungsberechtigte verletzen ihre Pflichten, wenn sie trotz schriftlicher Belehrung über die
Rechtsfolgen oder deren Kenntnis 1. sich weigern, in der Eingliederungsvereinbarung oder in dem diese ersetzenden Verwaltungsakt
nach § 15 Absatz 1 Satz 6 festgelegte Pflichten zu erfüllen, insbesondere in ausreichendem Umfang Eigenbemühungen nachzuweisen,
2. sich weigern, eine zumutbare Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheit nach § 16d oder ein nach § 16e gefördertes Arbeitsverhältnis
aufzunehmen, fortzuführen oder deren Anbahnung durch ihr Verhalten verhindern, 3. eine zumutbare Maßnahme zur Eingliederung
in Arbeit nicht antreten, abbrechen oder Anlass für den Abbruch gegeben haben. Dies gilt nicht, wenn erwerbsfähige Leistungsberechtigte
einen wichtigen Grund für ihr Verhalten darlegen und nachweisen.
Hier lässt sich mit der gegebenen Aktenlage - der Antragsgegner hat mit Schriftsatz vom 12.Juni 2015 erklärt, er habe "die
maßgeblichen Unterlagen" beigefügt, die maßgeblichen gesetzlichen Anforderungen sind ihm zugänglich - nicht feststellen, dass
die Voraussetzungen des § 31 a Abs. 1 Sätze 3 und 4 SGB II und § 31 SGB II vorliegen.
Nicht feststellbar ist bereits, dass der Antragsteller schriftlich belehrt wurde über die Rechtsfolgen von Pflichtverstößen
im Sinne des § 31 SGB II und dass ihm Angebote für eine zumutbare Arbeit zugegangen sind.
Ebenso ist nicht feststellbar, dass die Voraussetzungen des§ 31 a Abs. 1 Sätze 3 und 4 SGB II vorliegen. Danach entfällt das Arbeitslosengeld II vollständig "bei jeder weiteren wiederholten Pflichtverletzung". Diese
weitere wiederholte Pflichtverletzung im Sinne der Sätze 3 und 4 ist nicht feststellbar oder zumindest vorgetragen. Aktenkundig
ist eine Minderung durch Bescheid vom 26. Januar 2015, und mit dem vorliegend zu überprüfenden Bescheid vom 23. April 2015
wurde eine weitere Minderung festgestellt. Damit lässt sich auf dieser Grundlage (nur) eine erste wiederholte Pflichtverletzung
im Sinne der vorgenannten Vorschrift feststellen. Die Voraussetzungen des § 31 a Satz 3 SGB II, wonach erst bei jeder weiteren wiederholten Pflichtverletzung im Sinne des Satzes 4 das Arbeitslosengeld II vollständig
entfällt, lässt sich damit nicht feststellen.
Die Beschwerde ist unbegründet für die Monate ab Mai 2015 bis zur Entscheidung im Beschwerdeverfahren. Die aufschiebende Wirkung
des Widerspruchs des Antragstellers kommt insoweit nicht in Betracht. Für diesen Zeitraum ist festzustellen, dass der Verwaltungsakt
im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung bereits vollzogen ist. In so einem Fall kann das Gericht zwar die Aufhebung der
Vollziehung anordnen (§
86 b Abs.
1 Satz 2
SGG), denn die Vorschrift erfasst auch die Rückgängigmachung bereits erfolgter Vollziehungshandlungen, hier die Nichtauszahlung
der bewilligten Leistungen für die Zeit Mai 2015 (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 10. Auflage, §
86 b, Rn. 10 a m.w.N.).
Die Voraussetzungen liegen aber nicht vor.
Bei der Entscheidung, ob eine bereits erfolgte Vollziehung aufzuheben ist und Leistungen für die Vergangenheit auszuzahlen
sind, ist das öffentliche Interesse an dem Fortbestand des Vollzuges gegen das Interesse des Antragstellers an der Aufhebung
der Vollziehung abzuwägen. Ist die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs anzuordnen, kann zwar auch die Aussetzung der
Vollziehung angezeigt sein. Ein Automatismus besteht jedoch nicht. Im Hinblick auf die Anordnung nach §
86 b Abs.
1 Satz 1
SGG hat eine gesonderte Abwägung zu erfolgen. Nur in Ausnahmefällen, wenn es zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes erforderlich
ist, kann im Wege der Aufhebung der Vollziehung ein Wiederherstellungsanspruch bestehen und eine Maßnahme angeordnet werden
(vgl. Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 10. März 2009, L 20 AS 47/09 m.w.N.). Hier ist die Entscheidung des Gesetzgebers nach § 39 SGB II zu beachten, die die aufschiebende Wirkung gerade ausschließt.
Hier liegt kein Fall vor, der es zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes erforderlich macht, die Vollziehung aufzuheben. Vorliegend
ist nicht erkennbar, dass das Gebot des effektiven Rechtsschutzes verletzt würde, wenn der Antragsteller zur Durchsetzung
seiner Interessen auf das Hauptsacheverfahren verwiesen wird.
Das Bundesverfassungsgericht hat zum Gebot des effektiven Rechtsschutzes u. a. ausgeführt, dass Art.
19 Abs.
4 Grundgesetz dem Bürger einen Anspruch auf tatsächlich wirksame rechtliche Kontrolle gebe. Aus dieser grundgesetzlichen Garantie folge
das Verfassungsgebot sowie wie möglich zu verhindern, dass durch die sofortige Vollziehung einer hoheitlichen Maßnahme Tatsachen
geschaffen werden, die auch dann, wenn sich die Maßnahme bei richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig
gemacht werden. Denn Art.
19 Abs.
4 Grundgesetz gewährleiste die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen nicht schlechthin. Es müsse gewährleistet sein, dass der Betroffene
umgehend eine gerichtliche Entscheidung darüber herbeiführen könne, ob im konkreten Einzelfall das öffentliche Interesse an
der sofortigen Vollziehung oder aber das Interesse des Einzelnen an der Aussetzung der Vollstreckung bis zur Nachprüfung der
Rechtmäßigkeit der Maßnahme überwiege. Über diese Abwägung falle der Rechtsschutzanspruch des Bürgers umso stärker ins Gewicht,
je schwerer die ihm auferlegte Belastung sei und je mehr die Maßnahme Unabänderliches bewirke (Beschluss vom 24. März 2009,
2 BvR 2347/08 zitiert nach juris).
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze muss die nach §
86 b Abs.
1 Satz 2
SGG gebotene Ermessensentscheidung nicht zwingend zugunsten des Antragstellers ausfallen. Es ist nicht erkennbar und auch nicht
vorgetragen und glaubhaft gemacht, dass durch die Vollziehung Tatsachen geschaffen wurden, die auch dann, wenn sich die Maßnahme
als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig gemacht werden könnten.
Der im Beschwerdeverfahren erstmals gestellte Antrag, (den Antragsgegner im Wege einstweiliger Anordnung zu verpflichten),
die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung nachzuzahlen und fortlaufend zu übernehmen, ist unzulässig. Ein Rechtsschutzbedürfnis
ist nicht erkennbar. Wie der Antragsgegner bereits mit Schriftsatz vom 12.Juni 2015 glaubhaft mitgeteilt hat, werden die Leistungen
zur Kranken- und Pflegeversicherung ab 01.Mai 2015 erbracht.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden, §
177 SGG.