Infusion eines medizinisch erforderlichen nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittels
Tatbestand:
Der Kläger begehrt noch die Infusion eines nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittels durch einen Vertragsarzt als Sachleistung.
Die Übernahme der Kosten des Arzneimittels ist nicht im Streit.
Der 1942 geborene schwerbehinderte Kläger ist Mitglied der beklagten Krankenkasse. Er ist chronisch krank und leidet u. a.
an einer diabetischen Polyneuropathie. Eine Behandlung erfolgte in der Vergangenheit mit dem Arzneimittel Neurium600 (Wirkstoff:
Alpha-Liponsäure, Ethylenbis(azan)-Salz). Dabei handelt es sich um eine Lösung, die mittels einer Infusion in den Körper eingebracht
wird. Neurium600 ist apothekenpflichtig, jedoch seit dem 1. April 2004 nicht mehr verschreibungspflichtig.
Die Beklagte hat die Kosten der entsprechenden ärztlichen Leistung (Beratung und Infusion) in der Vergangenheit übernommen.
Noch mit Schreiben vom 26. Juli 2010 hat sie dem Kläger mitgeteilt, dass diese ärztlichen Leistungen bei medizinischer Notwendigkeit
eine Vertragsleistung seien und über die Versichertenkarte abgerechnet werden könnten.
Unter Vorlage eines Schreibens seines behandelnden Arztes Dipl.-Med. RB. K vom 4. Oktober 2010 teilte der Kläger mit, dass
der Arzt nicht mehr bereit sei, die Infusion als Kassenleistung zu erbringen. In dem Schreiben des Arztes heißt es, dass sich
die Berliner Krankenkassenverbände insoweit "eindeutig positioniert" hätten. Die "Applikation eines Arzneimittels (sei) keine
Kassenleistung, wenn das Arzneimittel selbst nicht zu Kassenlasten verordnungsfähig" sei. Dies bestätige die Richtigkeit seiner
Vorgehensweise. Er biete dem Kläger jedoch an, die Infusionsserie über 10 Tage zu einem reduzierten Gebührenrahmen von insgesamt
69,90 € (anstelle 118,90 €) durchzuführen.
Daraufhin teilte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 10. Februar 2011 mit, dass die Feststellung dieses Arztes "vollkommen
zutreffend" sei. Die Applikation von nicht verordnungsfähigen Arzneimitteln stelle keine Kassenleistung dar.
Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein. Mit weiterem Bescheid vom 30. März 2011 lehnte die Beklagte erneut die begehrte
ärztliche Leistung ab. Sie führte aus, dass "unstreitig" sei, dass die in Frage stehende "Injektionslösung" nicht zu Lasten
der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden dürfe, da es sich um ein nicht verschreibungspflichtiges Arzneimittel
handele. Eine "intravenöse Injektion" sei ausschließlich vom Arzt vorzunehmen; die ärztliche Tätigkeit sei also unbedingt
erforderlich, um das Arzneimittel in den Körper zu bringen. Die ärztliche Tätigkeit und das Arzneimittel bildeten somit eine
untrennbare Einheit. Da das zu applizierende Arzneimittel von der Versorgung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung
ausgeschlossen sei, könne deshalb auch die ärztliche Leistung nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung erbracht
werden.
Nachdem der Kläger seinen Widerspruch ausdrücklich aufrecht hielt, wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid
vom 12. Dezember 2012 zurück. Sie führte aus, dass nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel von der Versorgung ausgeschlossen
seien. Der Gemeinsame Bundesausschuss habe in Arzneimittelrichtlinien festgelegt, welche nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel
bei der Behandlung von schwerwiegenden Erkrankungen als Therapiestandard gelten. Bei der Infusionstherapie mit Neurium600
handele es sich um eine unkonventionelle Methode, für die der Gemeinsame Bundesausschuss noch keine Empfehlung abgegeben habe.
Hiergegen hat der Kläger am 20. Dezember 2012 Klage erhoben. Zur Begründung hat er ausgeführt, dass zwar das Arzneimittel
mit dem Wirkstoff Alpha-Liponsäure seit dem 1. Januar 2004 nicht mehr zu Lasten der Beklagten verordnungsfähig sei. Dies gelte
jedoch nicht für die mit der Behandlung verbundenen ärztlichen Leistungen (Beratung und Infusion). Die Beklagte habe in den
Jahren nach 2004 die Kosten der entsprechenden ärztlichen Leistungen auch immer getragen. Es sei gerade nicht die Intention
des Gesetzgebers gewesen, dass mit der Abschaffung der Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung
auch die entsprechenden notwendigen ärztlichen Leistungen nicht mehr abrechenbar seien.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 13. März 2014 abgewiesen. Es hat das Begehren des Klägers als ein
auf die Erstattung bzw. auf die Freistellung der Kosten für die streitbefangenen ärztlichen Behandlungen sowie auf ein die
Gewährung der entsprechenden ärztlichen Leistungen für die Zukunft als Sachleistung gerichtetes Begehren verstanden und insoweit
ausgeführt, dass, da bereits das Arzneimittel nicht der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung unterliege,
dies auch für die damit verbundene "untrennbare intravenöse Injektion als ärztliche Leistung" gelten müsse.
Gegen diesen am 19. März 2014 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die Berufung des Klägers vom 9. April 2014, mit der
er im Wesentlichen sein bisheriges Vorbringen wiederholt und vertieft.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 13. März 2014 und den Bescheid der Beklagten vom 10. Februar 2011 in der
Gestalt des Bescheides vom 30. März 2011 sowie des Widerspruchsbescheides vom 12. Dezember 2012 aufzuheben und die Beklagte
zu verurteilen, ihm die Infusion des von ihm auf eigene Kosten beschafften Arzneimittels Neurium600 (Alpha-Liponsäure) als
Sachleistung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der angefochtene Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin sei nicht zu beanstanden.
Der Berichterstatter hat am 25. Juli 2014 mit den Beteiligten einen Erörterungstermin durchgeführt. Der Kläger hat erklärt,
dass er seit 2008 keine intravenöse Infusion von Neurium (Alpha-Liponsäure) erhalten habe. Er habe seitdem ausschließlich
Tabletten genommen. Diese bekämen ihm aber nicht. Der Kläger hat weiter erklärt, dass er versucht habe, die Leistungen über
die Versichertenkarte zu erhalten. Die von ihm konsultierten Ärzte hätten es aber abgelehnt, die begehrte intravenöse Infusion
über die Versichertenkarte bzw. die elektronische Gesundheitskarte abzurechnen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze,
auf die Gerichtsakte und auf die den Kläger betreffende Verwaltungsakte der Beklagten, die dem Senat vorgelegen haben und
die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom
10. Februar 2011 in der Gestalt des Bescheides vom 30. März 2011 und des Widerspruchsbescheides vom 12. Dezember 2012 ist
rechtswidrig. Der Kläger hat einen Anspruch auf die begehrte ärztliche Leistung als Sachleistung.
Die Klage ist zulässig, insbesondere fehlt ihr nicht ein Rechtsschutzbedürfnis. Der Kläger kann die begehrte Leistung nicht
auf einem einfacheren Weg, insbesondere durch Abrechnung über die Versichertenkarte bzw. die elektronische Gesundheitskarte
erlangen. Er hat insofern glaubhaft vorgetragen, dass die von ihm konsultierten Ärzte nicht bereit sind, die begehrte Leistung
über die Versicherten- bzw. die elektronische Gesundheitskarte abzurechnen. Sie stützen sich hier offensichtlich auf eine
Verlautbarung der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin aus dem Jahre 2009, nach der die Applikation eines Arzneimittels nicht
zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung abgerechnet werden könne, wenn das Arzneimittel selbst nicht verordnungspflichtig
ist. Diese Auffassung vertritt auch die Beklagte. Der Kläger ist damit nicht in der Lage, sich diese Leistung über die Versicherten-
bzw. die elektronische Gesundheitskarte zu verschaffen.
Rechtsgrundlage der begehrten Leistung ist §
27 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB V). Danach haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen,
ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst die ärztliche Behandlung
(§
27 Abs.
1 Satz 2 Nr.
1 SGB V). Dazu gehören alle Maßnahmen der ambulanten medizinischen Versorgung, also regelmäßig nur Maßnahmen mit Behandlungs- und
Therapiecharakter, die einen eindeutigen Krankheitsbezug aufweisen (Lang in Becker/Kingreen,
SGB V, 4. Auflage 2014, §
27 Rdnr. 38). Die Infusion und die Infusionstherapie eines Arzneimittels gehören zu diesen Leistungen der ärztlichen Behandlung.
Denn sie sind im einheitlichen Bewertungsmaßstab (Stand I. Quartal 2015) unter der Ziffer 02100 (Infusion) und 02101 (Infusionstherapie)
als allgemeine diagnostische und therapeutische Gebührenordnungsposition aufgeführt.
Dem Anspruch steht nicht entgegen, dass das zu applizierende Arzneimittel Neurium600 mit dem Wirkstoff Alpha-Liponsäure als
nicht verschreibungspflichtiges Arzneimittel nach §
34 Abs.
1 Satz 1
SGB V in der Fassung des GKV-Modernisierungsgesetztes (GMG) vom 14. November 2003 (BGBl. I, 2190) mit Wirkung vom 1. April 2004
von der Versorgung der Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen ist und sich der Kläger dieses Arzneimittel
deshalb auf eigene Kosten beschaffen muss.
Der Umfang der von der gesetzlichen Krankenversicherung nach §
27 Abs.
1 Satz 1 und Satz 2 Nr.
1 SGB V als Sachleistung zu erbringenden ärztlichen Behandlung ist durch die Neuregelung des §
34 Abs.
1 Satz 1
SGB V zum 1. April 2004 nicht beschränkt worden. Die Änderung dieser Vorschrift durch das GMG lässt nicht darauf schließen, dass
auch der Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung bei der ärztlichen Behandlung eingeschränkt werden sollte (Urteil
des BSG vom 25. August 2009 - B 3 KR 25/08 R -, zitiert nach juris).
Die Herausnahme nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel von der Medikamentenversorgung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung
bedeutet nur, dass diese Arzneimittel selbst aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung herausgenommen
werden. Nach der Begründung zum GMG (BT-Drs. 15/1525 S. 75) sollten mit dieser Einschränkung der Versorgung die Ausgaben der
gesetzlichen Krankenversicherung gesenkt werden. Nur die Anschaffung der Medikamente, nicht jedoch die Kosten der notwendigen
Verabreichung, sollten aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung sollte gestrichen werden (BSG aaO.).
Soweit die Beklagte und auch das Sozialgericht zur Stützung ihrer Rechtsauffassung die Rechtsprechung des BSG zitieren, nach der bei der Abrechenbarkeit von ärztlichen Leistungen zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung grundsätzlich
von dem therapeutischen Gesamtkonzept des behandelnden Arztes auszugehen sei und nicht von der jeweils einzelnen medizinischen
Maßnahme (Beratung, Infusion, Arzneimittel usw.), und daher im vorliegenden Fall, da bereits das Arzneimittel nicht der Leistungspflicht
der gesetzlichen Krankenversicherung unterfällt, dies auch für die damit untrennbar verbundenen ärztlichen Leistungen gelten
müsse (Urteil des BSG vom 16. September 1997 -1 RK 28/95 -, zitiert nach juris), vermag dies nicht zu überzeugen. Diese Rechtsprechung kann nicht auf den vorliegenden Sachverhalt
übertragen werden. Bei dem zitierten Urteil des BSG handelt es sich um eine Entscheidung, die zu dem Komplex neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden ergangen ist. Um die
Abrechenbarkeit einer derartigen Behandlungsmethode streiten die Beteiligten hier aber gerade nicht. Im Streit ist eine ärztliche
Leistung (Infusion), die unstreitig zum Leistungskatalog des Vertragsarztes gehört (s.o.) und die auch unstreitig zu Lasten
der gesetzlichen Krankenversicherung abgerechnet werden kann. Streitig ist, ob insoweit ein Leistungsausschluss gegeben ist,
weil das medizinisch erforderliche Arzneimittel aus der Medikamentenversorgung zu Lasten der gesetzlichen Versicherung herausgenommen
worden ist, aber nur mittels einer notwendigen ärztlichen Leistung in den Körper des Versicherten eingebracht werden kann.
Diese Fallgruppe hat das BSG (aaO.) entschieden.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 sindnicht gegeben.