Tatbestand
Das Berufungsverfahren betrifft das Begehren der Klägerin, während der ersten zwölf Lebensmonate ihres Kindes L. A., geb.
30.12.2010, höheres Elterngeld zu erhalten.
Die 47-jährige Klägerin ist mexikanische Staatsangehörige. Ihr Aufenthalt in Deutschland ist durch eine Niederlassungserlaubnis
nach § 9 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) legitimiert. Im streitgegenständlichen Zeitraum war sie mit dem leiblichen Vater von L. verheiratet und lebte mit ihm und
L. in einem Haushalt zusammen. Zur Familie gehörte ein weiteres Kind, der 2007 geborene gemeinsame Sohn F ... Die Klägerin
arbeitete vor L.s Geburt als Angestellte im mexikanischen Generalkonsulat in F-Stadt, und zwar als so genannte Ortskraft;
konkret war sie im Bereich Notariat und Standesamt beschäftigt. In einer Bescheinigung für die Steuerbehörden vom 12.08.2010
attestierte ihr der Konsul, sie sei seit 23.09.2002 als Ortskraft beim Generalkonsulat in F-Stadt tätig. Ihr Jahresbruttogehalt
habe 2009 jeden Monat 2.125,95 EUR betragen (im Jahr 25.511,40 EUR). Weitere leistungsrelevante Einkünfte hatte die Klägerin
im Bemessungszeitraum nicht.
Unter dem Datum 14.02.2011 beantragte die Klägerin Elterngeld für den ersten bis zwölften Lebensmonat von L., und zwar jeweils
den ganzen Elterngeld-Betrag; L.s Vater stellte keinen Antrag. Die Klägerin gab in ihrem Antrag an, für die Zeit vom 30.11.2010
bis 08.03.2011 habe sie Mutterschaftsgeld von der Krankenkasse sowie einen Zuschuss des Arbeitgebers erhalten. Insoweit bestätigte
der Konsul unter dem Datum 26.01.2011, ein Zuschuss zum Mutterschaftsgeld werde vom 30.11.2010 bis 08.03.2011 laufend gezahlt,
und zwar für den 30.11.2010 43,53 EUR, für Dezember 2010 sowie Januar und Februar 2011 jeweils 1.305,90 EUR und für die Phase
01. bis 08.03.2011 348,24 EUR. Weiter teilte die Klägerin im Antrag mit, sie übe während des Bezugszeitraums keine Erwerbstätigkeit
aus, beziehe daher keine Einkünfte aus Erwerbstätigkeit und erhalte auch keine sonstigen Leistungen.
In einem internen Vermerk der Beklagten vom 30.03.2011 steht, Ermittlungen hätten ergeben, dass die Klägerin seit Jahren in
allen Bereichen der Sozialversicherung versicherungspflichtig sei. Da sie aufgrund des Doppelbesteuerungsabkommens Deutschland-Mexiko
nur steuerfreies Gehalt beziehe, könne sie nur den Mindestbetrag des Elterngelds erhalten.
Mit Bescheid vom 30.03.2011 bewilligte der Beklagte Elterngeld für den ersten bis zwölften Lebensmonat von L.; der Bescheid
war endgültig und erging ohne Widerrufsvorbehalt. Für die ersten beiden Lebensmonate wurde der Leistungsbetrag auf Null festgelegt,
für den dritten Lebensmonat auf 217,14 EUR, für die restlichen Monate des Bezugszeitraums auf 300 EUR. Als Bemessungszeitraum
zog der Beklagte die Phase November 2009 bis Oktober 2010 heran. In der Begründung des Bescheids führte er aus, im Bemessungszeitraum
habe die Klägerin kein Einkommen aus Erwerbstätigkeit im Sinn von § 2 Abs. 1 Satz 1 und 2 des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes (BEEG) bezogen. Bei dem vor der Geburt erzielten Einkommen handle es sich nicht um Einkünfte im Sinn von §
2 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 bis 4 des
Einkommensteuergesetzes (
EStG). Denn aufgrund des Doppelbesteuerungsabkommens Deutschland-Mexiko habe die Klägerin nur steuerfreies Gehalt bezogen. Daher
könnten die Einkünfte nicht als Berechnungsgrundlage für das Elterngeld herangezogen werden. Ein Geschwisterbonus könne nicht
gewährt werden.
Die Klägerin legte am 03.05.2011 gegen den Bewilligungsbescheid Widerspruch ein, den sie aber nicht begründete. Der Beklagte
wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 28.06.2011 als unbegründet zurück.
Am 19.07.2011 hat die Klägerin beim Sozialgericht Würzburg Klage erhoben. Im Zuge dessen hat sie den Einkommensteuerbescheid
2009 eingereicht. Daraus geht hervor, dass ausländische Einkünfte in Höhe von 25.511 EUR in die Berechnung des Steuersatzes
einbezogen wurden (Progressionsvorbehalt, §
32b EStG). Zur Begründung der Klage hat die Klägerin vorgetragen, sei habe seit 2002 beim mexikanischen Generalkonsulat gearbeitet
und immer Steuern und Sozialversicherungsbeiträge gezahlt. Da sie dem Progressionsvorbehalt unterliege, habe sie auch in Deutschland
Steuern bezahlt. Für ihr erstes Kind habe sie 1.000 EUR Elterngeld bekommen; das könne schlechterdings nicht falsch gewesen
sein. Sie und ihr Mann hätten sich, so die Klägerin, auf das Elterngeld verlassen, denn ihr Haushalt hänge zu einem guten
Teil von ihrem Einkommen ab. Durch das niedrige Elterngeld seien sie in eine finanziell sehr schwierige Lage geraten. Zudem
hat die Klägerin auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 07.02.2012 - 1 BvL 14/07 (zum Bayerischen Landeserziehungsgeldgesetz) hingewiesen. Darin sei klargestellt worden, dass die Staatsangehörigkeit keinen
zulässigen Differenzierungsgrund bei der Gewährung von Elterngeld darstelle. Genauso wenig, so die Klägerin, dürfe auf die
Besteuerung der Einkünfte abgestellt werden. Maßgebend müsse sich zu ihren Gunsten auswirken, dass sie mit einem deutschen
Staatsangehörigen verheiratet sei und ihre Ehe in der Bundesrepublik Deutschland führe. Sie habe darauf vertraut, dass die
zum Zeitpunkt der Familienplanung geltende Rechtslage fortbestehe.
Der Beklagte hat darauf erwidert, die genannte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sei nicht einschlägig. Das Bundesverfassungsgericht
habe entschieden, dass Personen allein aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht vom Bezug von Landeserziehungsgeld ausgeschlossen
werden könnten. Die Klägerin habe aber gerade einen Grundanspruch auf Elterngeld. Streitig sei hier lediglich, welches Einkommen
der Berechnung zugrunde zu legen sei.
Auf Anfrage des Sozialgerichts hat die Klägerin mitgeteilt, eine Versteuerung ihrer Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit
sei nicht erfolgt. Das mexikanische Generalkonsulat habe die Lohnsteuer erhoben und abgeführt. Die Einkünfte seien auch im
Rahmen der Einkommensteuererklärung als steuerfreie Einkünfte deklariert und vom Finanzamt als solche anerkannt worden.
Mit Gerichtsbescheid vom 14.04.2015 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. In der Begründung hat es sich auf den Widerspruchsbescheid
gestützt. Die Entscheidung des Beklagten sei im Einklang mit dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 20.05.2014 - B 10 EG 2/14 R ergangen. Nach der ab 01.01.2011 anwendbaren Gesetzesfassung seien für das Elterngeld nur im Inland zu versteuernde Einkünfte
zu berücksichtigen.
Am 20.05.2015 hat die Klägerin Berufung eingelegt. Sie hat zur Begründung vorgetragen, nach wie vor sehe sie einen Verstoß
gegen Art.
3 Abs.
1 des
Grundgesetzes. Die Argumentation im besagten BSG-Urteil vom 20.05.2014 treffe den vorliegenden Fall nicht. Denn die Klägerin habe gemeinsam mit ihrem Ehemann und dem ersten
Kind seit Jahren einen Wohnsitz in Deutschland gehabt und in Deutschland eine Erwerbstätigkeit ausgeübt. Rechtfertigungsgründe
für die Ungleichbehandlung seien nicht erkennbar.
Im Rahmen der Ermittlung der steuerrechtlichen Rechtsgrundlagen hat sich der Vorsitzende telefonisch an das für die Klägerin
zuständige Finanzamt O-Stadt gewandt, um dessen Begründung zu eruieren, warum die Einkünfte der Klägerin aus nichtselbständiger
Arbeit nicht im Inland zu versteuern sein sollen. Das Finanzamt hat am Telefon eingeräumt, die bisherige Handhabung sei falsch
gewesen; tatsächlich müssten die Einkünfte in Deutschland versteuert werden. Die Gründe hierfür hat es dem Vorsitzenden per
E-Mail dargelegt.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 14.04.2015 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheids
vom 30.03.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.06.2011 zu verurteilen, ihr höheres Elterngeld unter Berücksichtigung
der im Bemessungszeitraum erzielten Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit beim mexikanischen Generalkonsulat zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen (und im Falle des Obsiegens der Klägerin die Revision zuzulassen).
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten sowie die Verwaltungsakten des Beklagten verwiesen.
Die Akten haben vorgelegen, sind als Streitstoff in das Verfahren eingeführt worden und Gegenstand der Entscheidungsfindung
gewesen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung der Klägerin ist zulässig und begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Vielmehr steht
der Klägerin Anspruch auf Elterngeld zu unter Berücksichtigung ihrer Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit beim mexikanischen
Generalkonsulat im Rahmen der Leistungsbemessung.
Streitgegenstand der hier vorliegenden kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage ist die Bewilligung höherer Leistungen
für den gesamten Bezugszeitraum. Dabei richtet sich der Antrag der Klägerin auf die Verurteilung des Beklagten dem Grunde
nach, dieser möge höhere Leistungen unter Berücksichtigung des im Bemessungszeitraum erzielten Entgelts aus nichtselbständiger
Arbeit zusprechen. Eine betragsmäßige Fixierung durch die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit hat die Klägerin nie verlangt;
vielmehr hat sie ihr Begehren in zulässiger Weise von vornherein auf eine Verurteilung dem Grunde nach beschränkt. Angesichts
dessen hat der Senat mit der Verurteilung des Beklagten den Streitgegenstand voll ausgeschöpft.
Die Voraussetzungen für die Entstehung eines Anspruchs dem Grunde nach liegen unzweifelhaft vor. Dies folgt aus § 1 Abs. 1 BEEG in der vom 01.01.2007 bis 31.12.2014 unverändert geltenden Fassung. Danach hat Anspruch auf Elterngeld, wer 1. einen Wohnsitz
oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat, 2. mit seinem Kind in einem Haushalt lebt, 3. dieses Kind selbst betreut
und erzieht und 4. keine oder keine volle Erwerbstätigkeit ausübt.
Alle diese Voraussetzungen erfüllte die Klägerin. Sie hatte während des gesamten Bezugszeitraums ihren Wohnsitz und gewöhnlichen
Aufenthalt in Deutschland, lebte mit L. in einem Haushalt, betreute und erzog sie selbst und übte entsprechend ihrer Ankündigung
im Elterngeldantrag keine Erwerbstätigkeit aus.
Dass die Klägerin nicht deutsche Staatsangehörige ist, steht dem Elterngeldanspruch nicht entgegen. Sie ist zwar nicht freizügigkeitsberechtigt,
verfügt jedoch über eine Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG. Das vermittelt ihr gemäß § 1 Abs. 7 Nr. 1 BEEG den Zugang zum Elterngeld.
Die Höhe des Elterngelds hat der Beklagte falsch festgesetzt. In der Tat hätte er, wie von der Klägerin beantragt, die im
Bemessungszeitraum erzielten Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit beim mexikanischen Generalkonsulat als Bemessungsentgelt
heranziehen müssen. Dabei finden zwei unterschiedliche Fassungen des § 2 Abs. 1 BEEG Anwendung. Bis zum 31.12.2010 lautete § 2 Abs. 1 BEEG wie folgt: 1Elterngeld wird in Höhe von 67 Prozent des in den zwölf Kalendermonaten vor dem Monat der Geburt des Kindes durchschnittlich
erzielten monatlichen Einkommens aus Erwerbstätigkeit bis zu einem Höchstbetrag von 1 800 Euro monatlich für volle Monate
gezahlt, in denen die berechtigte Person kein Einkommen aus Erwerbstätigkeit erzielt. 2Als Einkommen aus Erwerbstätigkeit
ist die Summe der positiven Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft, Gewerbebetrieb, selbstständiger Arbeit und nichtselbstständiger
Arbeit im Sinne von §
2 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 bis 4 des
Einkommensteuergesetzes nach Maßgabe der Absätze 7 bis 9 zu berücksichtigen.
Ab 01.01.2011 galt folgende Fassung von § 2 Abs. 1 BEEG: 1Elterngeld wird in Höhe von 67 Prozent des in den zwölf Kalendermonaten vor dem Monat der Geburt des Kindes durchschnittlich
erzielten monatlichen Einkommens aus Erwerbstätigkeit bis zu einem Höchstbetrag von 1 800 Euro monatlich für volle Monate
gezahlt, in denen die berechtigte Person kein Einkommen aus Erwerbstätigkeit erzielt. 2Als Einkommen aus Erwerbstätigkeit
ist die Summe der positiven im Inland zu versteuernden Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft, Gewerbebetrieb, selbstständiger
Arbeit und nichtselbstständiger Arbeit nach §
2 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 bis 4 des
Einkommensteuergesetzes nach Maßgabe der Absätze 7 bis 9 zu berücksichtigen.
Beide Fassungen müssen angewandt werden, weil der Bezugszeitraum am 30.12.2010 begann - also noch unter Geltung des alten
Rechts - und bis 29.12.2011 fortdauerte. Die ab dem 01.01.2011 zustehenden Leistungen werden, anders als die beiden Tage im
Dezember 2010, vom neuen Recht erfasst. Ein einheitliches Reglement lässt sich nicht feststellen. Denn das neue Recht ist
erst am 01.01.2011 in Kraft getreten, weswegen der 30. und 31.12.2010 noch im zeitlichen Geltungsbereich des alten Rechts
liegen. Andererseits sieht § 27 BEEG in der ab 01.01.2011 geltenden Fassung keine Übergangsvorschrift vor, wonach der hier vorliegende Fall noch vollständig nach
altem Recht zu beurteilen wäre. Ohne Übergangsvorschrift aber löst das neue Recht das alte mit dem Tag seines Inkrafttretens
ab, auch wenn der zugrunde liegende Sachverhalt wie hier schon vorher begonnen haben sollte.
Materielle Änderungen haben sich aus der Gesetzesänderung zum 01.01.2011 indes nicht ergeben. Zwar wurde in Satz 2 "im Inland
zu versteuernden" eingefügt. Jedoch ist es gesicherte BSG-Rechtsprechung, dass auch schon vor dem 01.01.2011 nur im Inland zu versteuerndes Einkommen Bemessungsentgelt sein konnte.
Die Neuregelung hat demnach im Sinn einer bloßen Klarstellung nur explizit formuliert, was vorher schon Regelungsgehalt war.
Daher wird im Folgenden nicht mehr nach den beiden Zeiträumen differenziert.
Das für die Arbeit beim mexikanischen Generalkonsulat im Bemessungszeitraum bezogene Entgelt zählt zum Einkommen aus Erwerbstätigkeit
im Sinn von § 2 Abs. 1 Satz 1 BEEG; denn es verkörpert Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit gemäß §
2 Abs.
1 Satz 1 Nr.
4 EStG (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 2 BEEG). Die Einkünfte waren auch damals schon im Inland zu versteuern. Das hat der Beklagte verkannt und als Konsequenz daraus
lediglich das Mindestelterngeld in Höhe von 300 EUR (vor Anrechnung der Mutterschaftsleistungen in den ersten drei Bezugsmonaten)
zugesprochen.
Der Bemessungszeitraum erstreckte sich, wie der Beklagte richtig ermittelt hat, von November 2009 bis Oktober 2010. Da die
Klägerin für den Monat November 2010 Mutterschaftsgeld bezogen hat, gehört dieser nicht zum Bemessungszeitraum (vgl. § 2 Abs. 8 Satz 6 BEEG in der seinerzeit geltenden Fassung).
Dass das während des Bemessungszeitraums beim mexikanischen Konsulat von der Klägerin erzielte Arbeitsentgelt zu versteuern
war, ergibt sich aus dem damals einschlägigen Einkommensteuerrecht. Nach §
2 Abs.
1 Satz 1
EStG in der seinerzeit geltenden und auch heute noch aktuellen Fassung unterliegen der Einkommensteuer unter anderem Einkünfte
aus nichtselbständiger Arbeit (Nummer 4), die der Steuerpflichtige während seiner unbeschränkten Einkommensteuerpflicht oder
als inländische Einkünfte während seiner beschränkten Einkommensteuerpflicht erzielt. Da die Klägerin ihren Wohnsitz in Deutschland
hatte, war sie während des Bemessungszeitraums unbeschränkt einkommensteuerpflichtig (§
1 Abs.
1 Satz 1
EStG).
Für das Arbeitsentgelt bestand auch keine sachliche Steuerfreiheit. Einschlägig ist insoweit §
3 Nr. 29 Buchstabe b
EStG: Steuerfrei sind ... das Gehalt und die Bezüge, a) ... b) der Berufskonsuln, der Konsulatsangehörigen und ihres Personals,
soweit sie Angehörige des Entsendestaates sind.2Dies gilt nicht für Personen, die im Inland ständig ansässig sind oder außerhalb
ihres Amtes oder Dienstes einen Beruf, ein Gewerbe oder eine andere gewinnbringende Tätigkeit ausüben;
Dieser Tatbestand trifft auf die Klägerin nicht zu. Denn diese war während des Bemessungszeitraums "ständig in Deutschland
ansässig". Daran können keinerlei Zweifel bestehen. Die Klägerin war von 2000 an mit einem Deutschen verheiratet. Bereits
im Juli 2001 kam sie zum Zweck der Familienzusammenführung nach Deutschland und hatte seither hier ihren Wohnsitz. Sie lebte
mit dem Ehemann, ab 2007 auch mit dem gemeinsamen Kind, in einem Haushalt. Auch beruflich war die Klägerin in Deutschland
etabliert; die Berufstätigkeit als Angestellte des mexikanischen Generalkonsulats nahm sie im September 2002 auf.
Festzuhalten bleibt, dass das deutsche Einkommensteuerrecht keine Ausnahme von dem Grundsatz der Versteuerung im Inland vorsah.
Dieses Ergebnis wird durch die einschlägigen Regelungen des Völkerrechts, nämlich das Wiener Übereinkommen über konsularische
Beziehungen sowie das Doppelbesteuerungsabkommen Deutschland-Mexiko bestätigt. Bei beiden Regelwerken handelt es sich um völkerrechtliche Verträge, die in Deutschland aufgrund
ihrer Transformation mit dem Rang eines einfachen Gesetzes gelten.
Das Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen verkörpert im Verhältnis zum Doppelbesteuerungsabkommen die speziellere Rechtsgrundlage. Auf den ersten Blick scheint Art. 49 Nr. 1 des Wiener Übereinkommens über konsularische Beziehungen die Klägerin, die als Konsularangestellte im Sinn dieser Bestimmung
einzustufen ist, von der deutschen Einkommensteuer zu befreien. Allerdings gilt für die Klägerin die Sondervorschrift des
Art. 71 Nr. 2 des Wiener Übereinkommens über konsularische Beziehungen, die unter anderem Personen erfasst, die ständig im
Empfangsstaat ansässig sind. Sie lautet: Anderen Mitgliedern des konsularischen Postens, die Angehörige des Empfangsstaats
oder dort ständig ansässig sind, und ihren Familienangehörigen sowie den Familienangehörigen der in Ziffer 1 bezeichneten
Konsularbeamten stehen Erleichterungen, Vorrechte und Immunitäten nur in dem vom Empfangsstaat zugestandenen Umfang zu. Denjenigen
Familienangehörigen von Mitgliedern des konsularischen Postens und denjenigen Mitgliedern des Privatpersonals, die Angehörige
des Empfangsstaats oder dort ständig ansässig sind, stehen ebenfalls Erleichterungen, Vorrechte und Immunitäten nur in dem
vom Empfangsstaat zugestandenen Umfang zu. Der Empfangsstaat darf jedoch seine Hoheitsgewalt über diese Personen nur so ausüben,
dass er die Wahrnehmung der Aufgaben des konsularischen Postens nicht ungebührlich behindert.
Die Klägerin zählt als Konsularangestellte zu den "anderen Mitgliedern des konsularischen Postens" und war bzw. ist im Sinn
der Vorschrift ständig im Empfangsstaat, also Deutschland, ansässig. Dieser engere Bezug zum Empfangsstaat führt nach Art.
71 Nr. 2 Satz 1 des Wiener Übereinkommens über konsularische Beziehungen dazu, dass Erleichterungen, Vorrechte und Immunitäten
nur in dem vom Empfangsstaat zugestandenen Umfang zustehen. Dieser Personenkreis unterliegt somit voll der Souveränität des
Empfangsstaats. Der Empfangsstaat seinerseits ist nach Art. 71 Nr. 2 Satz 3 des Wiener Übereinkommens über konsularische Beziehungen
lediglich gehalten, seine Hoheitsgewalt nur so ausüben, dass er die Wahrnehmung der Aufgaben des konsularischen Postens nicht
ungebührlich behindert.
Das bedeutet für die Klägerin, dass sie nur in dem Umfang in den Genuss von Erleichterungen kam bzw. kommt, den die Bundesrepublik
Deutschland einräumt; so erklärt sich auch, dass sie sozialversicherungspflichtig ist. Einkommensteuerfreiheit gewährt die
Bundesrepublik Deutschland gerade nicht, wie oben gezeigt worden ist.
Auch das Doppelbesteuerungsabkommen Deutschland-Mexiko führt zu keinem anderen Ergebnis, wobei der Senat offen lässt, ob dieses als generelles Normenwerk neben
dem Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen überhaupt Anwendung finden kann. Der einschlägige Art. 19 Abs. 1 des
Doppelbesteuerungsabkommens lautet: a) Gehälter, Löhne und ähnliche Vergütungen, ausgenommen Ruhegehälter, die von einem Vertragsstaat,
einer seiner Gebietskörperschaften oder einer anderen juristischen Person des öffentlichen Rechts dieses Staates an eine natürliche
Person für die diesem Staat, einer seiner Gebietskörperschaften oder einer an deren juristischen Person des öffentlichen Rechts
geleisteten Dienste gezahlt werden, können nur in diesem Staat besteuert werden. b) Diese Gehälter, Löhne und ähnlichen Vergütungen
können jedoch nur im anderen Vertragsstaat besteuert werden, wenn die Dienste in diesem Staat geleistet werden und die natürliche
Person in diesem Staat ansässig ist und aa) ein Staatsangehöriger dieses Staates ist oder bb) nicht ausschließlich deshalb
in diesem Staat ansässig geworden ist, um die Dienste zu leisten.
Art. 19 des Doppelbesteuerungsabkommens trifft besondere Regelungen für Bezüge aus einer Tätigkeit im öffentlichen Dienst.
Die Klägerin als Konsularangestellte fiel bzw. fällt unter die Kategorie "öffentlicher Dienst". Nach Art. 19 Abs. 1 Buchstabe
b des Doppelbesteuerungsabkommens kann das Arbeitsentgelt der Klägerin nur in Deutschland als "anderem Vertragsstaat" besteuert
werden. Denn sie ist in Deutschland ansässig und im Sinn von Doppelbuchstabe bb nicht ausschließlich deshalb in Deutschland
ansässig geworden, um die Dienste zu leisten. Primärer Beweggrund für ihre Migration nach Deutschland war vielmehr die Familienzusammenführung.
Die Gegenargumente des Beklagten - ebenso seine Prozesstaktik in diesem Fall überhaupt - vermag der Senat nur schwer nachzuvollziehen.
Abwegig erscheint bereits die Auffassung, Beklagter und Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit müssten nicht selbst die einkommensteuerrechtliche
Rechtslage ergründen, sondern dürften ohne zu hinterfragen und ohne Rücksicht auf die materielle Richtigkeit - quasi als Präjudiz
- die rechtliche Beurteilung der Steuerverwaltung übernehmen. Das Für und Wider braucht an dieser Stelle nicht diskutiert
zu werden. Denn das BSG hat im Urteil vom 20.05.2014 - B 10 EG 9/13 R in einem absolut vergleichbaren Fall (Mitarbeiterin des Europäischen Patentamts in München) gerade die vom Beklagten für
unangebracht erachtete materiell-rechtliche Prüfung durchgeführt; nicht im Ansatz hat es auf die Rechtsansicht des zuständigen
Finanzamts abgestellt. So gesehen stellt sich der Beklagte gegen eine klare höchstrichterliche Rechtsprechung.
Der Senat sieht keinen Anlass, an der Richtigkeit der BSG-Rechtsprechung zu zweifeln. Denn die Formulierung im ab 01.01.2011 geltenden § 2 Abs. 1 Satz 2 BEEG ist eindeutig. Es kommt darauf an, ob Einkünfte im Inland zu versteuern sind, also versteuert werden müssen. Maßgeblich soll
mithin die nach materiellem Einkommensteuerrecht zutreffende Beurteilung sein. Für § 2 Abs. 1 Satz 2 BEEG in der bis zum 31.12.2010 geltenden Fassung gilt nichts anderes. Die Vertreter des Beklagten haben dagegen in der mündlichen
Verhandlung vorgebracht, in der Bundesdrucksache 17/3030, Seite 48, stehe, dass es auf das im Inland versteuerte Einkommen
ankomme. Hierzu ist zu sagen, dass der vom Beklagten instrumentalisierte und aus dem Kontext gerissene Satz, der der Begründung
zum Entwurf des Haushaltsbegleitgesetzes 2011 entstammt, weder funktional noch semantisch irgendeinen normativen Gehalt in
dem Sinn aufweist, allein entscheidend sei der faktische Vollzug durch die Steuerbehörden. Vielmehr spricht die Begründung
selbst im Folgenden von "zu versteuernd". Unabhängig davon erschließt sich dem Senat nicht, auf welchem Weg der Beklagte zu
der Auffassung gelangen will, die eindeutige Fassung des Gesetzes könne durch ein einmaliges Verwenden des Partizips Perfekt
Passiv in der Begründung einen völlig anderen Sinngehalt erfahren; dies erscheint juristisch-methodisch unhaltbar.
Dem Beklagten ist zu konzedieren, dass er sich im täglichen Verwaltungsvollzug in aller Regel der Handhabung der Steuerbehörden
anschließen kann. Es wäre unökonomisch, würde der Beklagte quasi routinemäßig en detail einkommensteuerrechtliche Fragen beleuchten.
Zu Recht hat er sich daher mit einer Einkommensteuererklärung der Klägerin begnügt, in der die Einkünfte als nicht zu versteuernd
ausgewiesen wurden; außerdem lag ein entsprechender, in diese Richtung weisender Einkommensteuerbescheid 2009 vor. Mehr musste
der Beklagte damals nicht nachforschen.
Dieser faktische, verwaltungsökonomische Aspekt darf jedoch nicht den Blick darauf verstellen, dass letztlich auch das Einkommensteuerrecht
zum Prüfprogramm des Beklagten gehört. Dieser hat die Prüfung insoweit eigenverantwortlich und grundsätzlich selbständig vorzunehmen.
Selbstredend ist es zulässig und opportun, sich bei der Rechtsfindung von den kompetenten Steuerbehörden "helfen zu lassen".
Eine wie auch immer geartete rechtliche Bindung an deren Beurteilung gibt es hingegen nicht. Tritt daher wie hier die Notwendigkeit
zu Tage, eingehend zu prüfen, ob Einkünfte im Inland zu versteuern sind, muss dies auch getan werden.
Hätte der Beklagte seine Linie, aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität sich ohne Einschränkung an die Beurteilung durch
die Steuerbehörden halten zu wollen, wirklich konsequent verfolgt, hätte er gleichwohl ein Anerkenntnis abgeben müssen. Denn
auch das Finanzamt O-Stadt ist zu der geläuterten Auffassung gelangt, das Arbeitsentgelt der Klägerin sei in Deutschland zu
versteuern. Doch Gründe der Verwaltungspraktikabilität waren für den Beklagten augenscheinlich nicht leitendes Motiv. Er nämlich
hat mit dem Argument reagiert, die Klägerin habe während des Bemessungszeitraums ja tatsächlich keine deutsche Einkommensteuer
bezahlt und sei vermutlich von einer Nacherhebung durch steuerrechtliche Vorschriften geschützt. Daran fällt auf, dass der
Beklagte auf der einen Seite die Prüfung, ob Einkünfte in Deutschland zu versteuern sind, für unzumutbar hält, auf der anderen
Seite aber sogar noch schwierigere Rechtsfragen der steuerrechtlichen Bestandskraft und Verjährung offensichtlich nicht scheut.
In der mündlichen Verhandlung hat der Beklagte - sogar in der Sitzungsniederschrift festgehalten - genau darauf abgestellt.
Unabhängig von dieser prozesstaktischen Inkonsequenz hält es der Senat rechtlich für nicht vertretbar, wie der Beklagte zu
argumentieren. Dem gesamten Sozialleistungsrecht ist das Prinzip "Nur der, der seine Steuern zahlt, bekommt etwas" komplett
fremd. Es ist grob falsch, Entsprechendes aus dem Gesetz herauslesen zu wollen. Auch die Vertreter des Beklagten in der mündlichen
Verhandlung haben in keiner Weise plausibel machen können, aus welchem sachlichen Grund der Beklagte auf dieses Kriterium
zugreifen will. Nicht einmal bei Sozialversicherungsleistungen - also beitragsfinanzierten Leistungen - existiert das Prinzip
"do ut des". Umso mehr ist unverständlich, dass es der Beklagte bei steuerfinanzierten Sozialleistungen fruchtbar machen will.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 des
Sozialgerichtsgesetzes (
SGG). Der Senat verhehlt nicht, dass er nur deswegen davon abgesehen hat, gegen den Beklagten Verschuldenskosten nach §
197 Abs.
1 Satz 1
SGG zu erheben, weil in der mündlichen Verhandlung Sitzungsvertreter zugegen waren, die kurzfristig einspringen mussten und in
der zweiten Instanz sonst nicht auftreten. Deswegen wäre die Ausübung von Druck, der mit der Androhung von Verschuldenskosten
naturgemäß verbunden ist, unangemessen gewesen.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor. Der gesonderte Antrag des Beklagten, die Revision zuzulassen, entbehrt
jeder Grundlage.