Erstattung von Aufwendungen für ein Widerspruchsverfahren
Erfolgreicher Widerspruch
Änderung einer belastenden Verwaltungsentscheidung
Gründe
I.
Die Klägerin begehrt die Erstattung von Aufwendungen für ein Widerspruchsverfahren.
Die Klägerin ist syrische Staatsangehörige. Sie reiste am 08.04.2014 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Auf den Asylantrag
vom 18.12.2014 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit Bescheid vom 22.07.2015 die Flüchtlingseigenschaft
an. Die Klägerin legte eine Verpflichtungserklärung vor, nach der ein Cousin sich gegenüber der Ausländerbehörde verpflichtete,
nach § 68 AufenthG für die Kosten ihres des Lebensunterhalts aufzukommen.
Der Beklagte lehnte den Antrag auf Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II vom 19.08.2015 mit Bescheid vom 10.09.2015 ab. Die Klägerin sei nicht hilfebedürftig nach § 9 SGB II, da der Bedarf durch Zahlungen des Verpflichtungsgebers sichergestellt werden könne. Hiergegen legte Rechtsanwalt N, ordnungsgemäße
Bevollmächtigung anwaltlich versichernd, am 25.09.2015 Widerspruch ein. Die Rechtsansicht des Beklagten stimme nicht mit der
Rechtsprechung des BVerwG überein.
Mit Schreiben vom 12.10.2015 bestätigte der Beklagte den Eingang des Widerspruchs. Er forderte den Rechtsanwalt auf, bis zum
28.10.2015 eine Vollmacht vorzulegen. Bei Nichtvorlage der Vollmacht innerhalb der Frist werde der Widerspruch als unzulässig
verworfen.
Mit Fax vom 28.10.2015 übersandte der Rechtsanwalt eine Fotokopie einer von der Klägerin am 26.10.2015 unterzeichneten Vollmacht.
Danach wird dem Rechtsanwalt "in Sachen K N./. Jobcenter Kreis Q wegen Leistungen nach dem SGB II, Einstweilige Anordnung Prozessvollmacht gem. §
81 ff.
ZPO erteilt".
Die Klägerin beantragte, vertreten durch den bevollmächtigten Rechtsanwalt, am 28.10.2015 eine einstweilige Anordnung (S 12 AS 1637/15 ER). Sie legte die Vollmacht vom 26.10.2015 und eine von ihr unterschriebene eidesstattliche Versicherung vom 22.10.2015
vor. Darin erklärt die Klägerin, sie habe am "25.09.2015 durch ihren Prozessbevollmächtigten Widerspruch gegen den Bescheid
vom 10.09.2015 eingelegt". Das Sozialgericht übersandte den Schriftsatz vom 28.10.2015 am selben Tag per Fax zur Stellungnahme
binnen fünf Tagen.
Der Beklagte verwarf den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 29.10.2015 als unzulässig und lehnte die Erstattung der
Kosten für das Widerspruchsverfahren ab. Die Klägerin habe keine Vertretungsvollmacht des Rechtsanwalts für das Widerspruchsverfahren
vorgelegt. Die Vollmacht vom 26.10.2015 beziehe sich lediglich auf das Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz.
Mit Bescheid vom 02.11.2015 bewilligte der Beklagte die beantragten Leistungen, weshalb die Klägerin das Eilverfahren für
erledigt erklärte. Mit Schreiben vom 11.11.2015 übernahm der Beklagte die außergerichtlichen Kosten des Eilverfahrens.
Die Klägerin hat am 30.11.2015 Klage erhoben. Sie hat beantragt:
"1)
den Beklagten zu verpflichten, den Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid des Beklagten vom 10.09.2015 in der Fassung
des Widerspruchsbescheides vom 29.10.2015 für zulässig und begründet zu erklären,
2)
den Beklagten zu verurteilen, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung erforderlichen notwendigen Aufwendungen der Klägerin
für das Widerspruchsverfahren zu erstatten."
Der Widerspruchsbescheid sei rechtswidrig. Aus der Abfassung der Vollmacht und der Trennung der Begriffe "Leistungen nach
dem SGB II" und "einstweilige Anordnung" ergebe sich, dass die Vollmacht sich auf das Eilverfahren und den Widerspruch zu dem Bescheid
vom 10.09.2015 beziehe.
Mit Beschluss vom 31.08.2016 hat das Sozialgericht die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Klageverfahren abgelehnt.
Der Beklagte habe den Widerspruch gegen den Bescheid vom 10.09.2015 zu Recht als unzulässig verworfen. Die Vollmacht vom 26.10.2015
beziehe sich nicht mit der notwendigen Klarheit auf das Widerspruchsverfahren, sondern auf die Geltendmachung von Ansprüchen
im Rahmen des Eilverfahrens.
Gegen den am 01.09.2016 zugestellten Beschluss hat die Klägerin am 30.09.2016 Beschwerde eingelegt.
II.
Die zulässige Beschwerde ist begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht die Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt.
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Prozesskostenhilfe, weil die Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet
und nicht mutwillig erscheint (§§ 73a Abs. 1 Satz 1
SGG, 114
ZPO).
Keine Aussicht auf Erfolg hat allerdings der Klageantrag zu 1). Für diesen Antrag gibt es nach Bewilligung der Leistungen
zur Sicherung des Lebensunterhalts mit Bescheid vom 02.11.2015 weder ein Rechtsschutzbedürfnis, noch eine Anspruchsgrundlage.
Aussicht auf Erfolg bietet hingegen der Klageantrag zu 2), mit dem die Klägerin - interessengerecht nach dem Meistbegünstigungsgrundsatz
ausgelegt - die Aufhebung der Kostenentscheidung des Widerspruchsbescheides und die Verpflichtung des Beklagten zur Erstattung
der Kosten für das Widerspruchsverfahren nach § 63 SGB X begehrt.
Der Beklagte hat die Erstattung der Kosten für das Widerspruchsverfahren zu Unrecht abgelehnt. Er war nicht berechtigt, den
Widerspruch als unzulässig zu verwerfen. Der Widerspruch war zulässig und begründet, weshalb die Klägerin einen Anspruch auf
Erstattung der zur zweckentsprechenden notwendigen Aufwendungen gem. § 63 Abs. 1 Satz 1 SGB X hat.
Nach § 13 Abs. 1 Satz 1 SGB X kann sich ein Beteiligter im Verwaltungsverfahren durch einen Bevollmächtigten vertreten lassen. Die Vollmacht ermächtigt
zu allen das Verwaltungsverfahren betreffenden Verfahrenshandlungen, sofern sich aus ihrem Inhalt nicht etwas anderes ergibt.
Nach § 13 Abs. 1 Satz SGB X hat der Bevollmächtigte auf Verlangen seine Vollmacht schriftlich nachzuweisen. Ein Widerspruch, der durch einen Bevollmächtigten
eingelegt wird, ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn einem berechtigten Verlangen, diese vorzulegen, nicht entsprochen
wird (zur entsprechenden Rechtslage im gerichtlichen Verfahren vgl. BSG Urteil vom 13.12.2000 - B 6 KA 29/00 R). Die Anforderung des Nachweises in Gestalt der schriftlichen Vollmacht steht im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde.
Der Beklagte war jedenfalls nach dem 28.10.2015 nicht mehr berechtigt, eine schriftliche Vollmacht eigens für das Widerspruchsverfahren
anzufordern. Die Pflicht zur Einreichung der Vollmachtsurkunde aus § 13 Abs. 1 Satz 2 SGB X betrifft nicht die (selbstverständliche) Voraussetzung, dass ein im Namen eines Anderen gestellter Antrag von einer Vollmacht
umfasst sein muss, sondern (nur) deren Nachweis dem Leistungsträger gegenüber (LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 15.03.2014
- L 19 AS 73/14 B ER für die insoweit parallele Rechtslage zu §
73 Abs.
6 SGG). Hieraus folgt, dass jedenfalls dann, wenn der Nachweis der Vollmacht bereits anderweitig erbracht ist, eine Anforderung
der Vollmachtsurkunde und eine Zurückweisung des Widerspruchs als unzulässig wegen der Nichtvorlage einer Vollmachtsurkunde
nicht mehr in Betracht kommen.
Die Klägerin hatte die Bevollmächtigung ihres Rechtsanwalts im parallel zum Widerspruchsverfahren geführten einstweiligen
Rechtsschutzverfahren S 12 AS 1637/15 ER durch Vorlage der Vollmachtsurkunde nachgewiesen. Dies ist zwischen den Beteiligten nicht umstritten. Um die Bestandskraft
des Ablehnungsbescheides zu verhindern und die Erfolgsaussichten des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens zu wahren, musste
die Klägerin den Ablehnungsbescheid durch Widerspruch anfechten. Der Widerspruch war damit auch Bestandteil der erforderlichen
Handlungen im Eilverfahren, so dass die Vollmacht, das Eilverfahren zu betreiben, die Einlegung des Widerspruchs gegen den
Ablehnungsbescheid notwendig umfasste. Auch aus der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren am 28.10.2015 per Fax übermittelten
eidesstattlichen Versicherung vom 22.10.2015 folgt zwingend, dass die Einlegung des Widerspruchs in Vollmacht der Klägerin
erfolgt war und die gesonderte Anforderung der Vollmachtsurkunde nicht notwendig war. Der Senat hält es sogar für nahliegend,
in der eidesstattlichen Versicherung den schriftlichen Vollmachtsnachweis - der im Übrigen keiner besonderen Form bedarf -
zu sehen (ebenso LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 15.03.2014 - L 19 AS 73/14 B ER).
Zudem genügt die Vollmachtsurkunde vom 26.10.2015 den Anforderungen an den schriftlichen Nachweis der Vollmacht iSd § 13 Abs. 1 Satz 3 SGB X. Eine Vollmacht bedarf der Auslegung (§
133 BGB). Der Umfang der Vertretungsmacht bestimmt sich aus dem Inhalt der Erklärung und kann auch mehrere Verwaltungsverfahren umfassen
(LSG Niedersachsen Beschluss vom 07.12.2011 - L 7 AS 906/11). Bei der Auslegung von Prozesserklärungen, zu denen auch Erklärungen im Widerspruchsverfahren als notwenigem Vorverfahren
zu einem gerichtlichen Verfahren gehören, ist nach dem in §
133 BGB zum Ausdruck gekommenen allgemeinen Rechtsgedanken, der auch im öffentlichen Recht und im Prozessrecht gilt, nicht am Wortlaut
zu haften, sondern der wirkliche Wille des Erklärenden zu erforschen. Bei der Auslegung sind das aus Art.
3 Abs.
1 GG abzuleitende Willkürverbot, das Gebot effektiven Rechtsschutzes gemäß Art.
19 Abs.
4 GG und das Rechtsstaatsprinzip zu beachten. Das Rechtsstaatsprinzip verbietet es, das Verfahrensrecht so auszulegen und anzuwenden,
dass den Beteiligten der Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Rechtsbehelfs- und Rechtsmittelinstanzen in
unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert wird. Eine angemessene Auslegung dient also zugleich
der Garantie wirkungsvollen Rechtsschutzes (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. nur Beschluss vom 15.06.2016 - B 4 AS 651/15 B). Daraus folgt, dass die Formulierung "Leistungen nach dem SGB II, Einstweilige Anordnung", auch als Bevollmächtigung für ein Tätigwerden im Widerspruchsverfahren gegen einen Ablehnungsbescheid
über Leistungen nach dem SGB II ausgelegt werden muss, zumal - wie ausgeführt - ohne eine Anfechtung des Ablehnungsbescheides ein einstweiliges Rechtsschutzverfahren
keine Erfolgsaussichten gehabt hätte.
Die Voraussetzungen für eine Kostenerstattungspflicht des Beklagten nach § 63 Abs. 1 Satz 1 SGB X liegen vor. Der Widerspruch war erfolgreich iS dieser Vorschrift. Erfolg iS des § 63 Abs. 1 S 1 SGB X hat der Widerspruch dann, wenn die Behörde ihm stattgibt (BSG Urteil vom 02.11.2012 - B 4 AS 97/11 R). Die rechtswidrige Zurückweisung eines Widerspruchs als unzulässig ändert nichts an dessen Erfolg, wenn aufgrund des Widerspruchs
eine belastende Verwaltungsentscheidung geändert und dem Begehren des Widerspruchsführers stattgegeben wird. Aufgrund der
Anfechtung des Ablehnungsbescheides vom 10.09.2015 hat der Beklagte die Abhilfeentscheidung vom 02.11.2015 getroffen und die
Leistungen unter ausdrücklicher Bezugnahme auf den "Antrag vom 19.08.2015" in vollem Umfang bewilligt. Wäre der Widerspruch
nicht erhoben worden, wäre - wie ausgeführt - der Ablehnungsbescheid bestandskräftig geworden und eine Entscheidung zugunsten
der Klägerin außerhalb eines Verfahrens nach § 44 SGB X (das hier nicht stattgefunden hat) nicht möglich gewesen.
Kosten im Beschwerdeverfahren gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe sind nicht erstattungsfähig (§§ 73a Abs. 1 Satz 1
SGG, 127 Abs. 4
ZPO).
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§
177 SGG).