Rente wegen Erwerbsminderung
Verfahrensrüge
Verstoß gegen die tatrichterliche Sachaufklärungspflicht
Verbot von Überraschungsentscheidungen
Gründe:
Mit Urteil vom 2.11.2016 hat das LSG Nordrhein-Westfalen einen Anspruch des Klägers auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung
verneint.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger Beschwerde beim BSG eingelegt. Er rügt eine Verletzung seines Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§
128 Abs
2 SGG) und beruft sich damit auf einen Verfahrensmangel iS von §
160 Abs
2 Nr
3 SGG.
Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig, weil sie nicht formgerecht begründet ist.
Die Revision ist nur zuzulassen, wenn
- die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§
160 Abs
2 Nr
1 SGG),
- das Urteil von einer Entscheidung des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG abweicht und auf dieser Abweichung beruht (aaO Nr 2) oder
- ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (aaO Nr 3).
Derartige Gründe werden in der Beschwerdebegründung nicht nach Maßgabe der Erfordernisse des §
160a Abs
2 S 3
SGG dargetan. Die Beschwerde ist daher gemäß §
160a Abs
4 S 1 iVm §
169 SGG zu verwerfen.
Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung
beruhen könne (§
160 Abs
2 Nr
3 Halbs 1
SGG), so müssen bei der Bezeichnung des Verfahrensmangels (§
160a Abs
2 S 3
SGG) zunächst die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist
die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht auf dem
Mangel beruhen kann, also die Möglichkeit einer Beeinflussung des Urteils besteht. Gemäß §
160 Abs
2 Nr
3 Halbs 2
SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung der §§
109 und
128 Abs
1 S 1
SGG und auf eine Verletzung des §
103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt
ist.
Soweit der Kläger ausdrücklich eine Verletzung seines Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs iS von §
62 SGG, Art
103 Abs
1 GG in der besonderen Erscheinungsform des §
128 Abs 2
SGG rügt, fehlt es an einer hinreichenden Begründung. Ein Verstoß gegen §
62 SGG, Art
103 Abs
1 GG liegt ua vor, wenn das Gericht seiner Pflicht, das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in seine Erwägungen
einzubeziehen, nicht nachgekommen ist (vgl BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 19 S 33 mwN) oder sein Urteil auf Tatsachen und Beweisergebnisse stützt, zu denen sich die Beteiligten nicht haben äußern
können (vgl BSG SozR 3-1500 §
62 Nr
12 S 19). Nach §
128 Abs
2 SGG darf das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. §
128 Abs
2 SGG konkretisiert den verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch auf rechtliches Gehör (Art
103 Abs
1 GG), beschränkt sich hierbei gegenüber dem inhaltlich weiteren §
62 SGG jedoch auf die tatsächlichen Grundlagen der Entscheidung (BSGE 117, 192 = BSG SozR 4-1500 § 163 Nr 7, RdNr 24).
Der Kläger trägt dazu vor, die Angaben der Sachverständigen Dr. L. zu seinem Leistungsvermögen seien nicht geeignet, die Feststellungen
des Senats, dass der Kläger auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einsatzfähig sei, zu tragen. Die in der mündlichen Verhandlung
vor dem LSG am 2.11.2016 gemachten Ausführungen der Sachverständigen beruhten auf Umständen, die die Sachverständige in ihrem
schriftlichen Gutachten "so nicht dargelegt" habe. Der Kläger führt dazu insbesondere aus, die Aussage, er komme mit seinem
Computer und Smartphone gut zurecht, er könne Bankgeschäfte selbstständig vornehmen, bestelle seine Medikamente im Internet
und verlasse drei- bis viermal das Haus, entspreche nicht den Tatsachen. Das Urteil des LSG sei direkt im Anschluss an die
mündliche Verhandlung am 2.11.2016 verkündet worden. Der Kläger habe aufgrund seiner Panik- und Angstattacken an der mündlichen
Verhandlung nicht teilnehmen und sich deshalb nicht dazu äußern können.
Aus der Beschwerdebegründung geht schon nicht hervor, dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung, dem "Kernstück" des gerichtlichen
Verfahrens (BSGE 44, 292 = SozR 1500 § 124 Nr 2; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 57), keine Gelegenheit hatte, sich zum gesamten Streitstoff zu äußern, sei es erstmalig oder ergänzend zu vorangegangenen
Schriftsätzen. Allein, dass er ggf eine andere Auffassung als die Sachverständige vertritt, stellt keine Verletzung seines
Rechts auf rechtliches Gehör dar. Nimmt der Rechtsstreit in der mündlichen Verhandlung eine unerwartete Wendung, etwa dadurch,
dass bisher nicht erörterte (evtl entscheidungserhebliche) Gesichtspunkte auftauchen oder das Gericht den Beteiligten mit
einer geänderten Rechtsauffassung gegenübertritt (vgl zB BSG SozR 3-2200 § 548 Nr 20 S 58; BSG Urteil vom 12.4.2000 - B 9 VH 1/99 R - HVBG-INFO 2000, 2227), so muss vom Gericht, um Überraschungsentscheidungen zu verhindern, sichergestellt werden, dass sich die Beteiligten sachgemäß
zum Prozessstoff äußern können. Dazu ist ihnen angemessene Zeit einzuräumen und auch die Möglichkeit zu geben, Rat einzuholen
(vgl BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 5 S 8). Die Beschwerdebegründung lässt jedoch nicht erkennen, welche Aussagen der Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung
am 2.11.2016 völlig neue, bisher nicht erörterte Inhalte zum Leistungsvermögen des Klägers zum Gegenstand hatten. Der Kläger
nimmt Bezug auf verschiedenste Aussagen der Sachverständigen zum Leistungsvermögen des Klägers, ohne dass deutlich wird, welche
bereits im nach einem Hausbesuch schriftlich erstellten Gutachten vom 13.11.2014 und welche erstmals in der mündlichen Verhandlung
formuliert wurden. So bezieht sich die Beschwerde ohne Angabe der Fundstelle zB auf die Aussage der Sachverständigen, dass
der Kläger "nach seinen eigenen Angaben drei- bis viermal das Haus verlasse, Roller fahre und seine Bankgeschäfte tätige"
und darauf, dass der Kläger Bestellungen im Internet vornehme. Nur ergänzend wird darauf hingewiesen, dass beide Feststellungen
bereits Gegenstand des schriftlichen Gutachtens vom 13.11.2014 waren.
Zudem war der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG am 2.11.2016 durch seinen Prozessbevollmächtigten vertreten.
Aus welchen Gründen sich dieser zu den Aussagen der Sachverständigen in diesem Termin nicht hat äußern können, geht aus der
Beschwerdebegründung nicht hervor. Auch lässt die Beschwerdebegründung nicht erkennen, ob der Prozessbevollmächtigte vor dem
Berufungsgericht auch zu erkennen gegeben hat, dass er außer Stande war, sich in der mündlichen Verhandlung sachgemäß zu (ggf
erstmals eingeführten) Tatsachen, die möglicherweise für die Sachentscheidung erheblich sind, zu äußern mit der weiteren Folge,
dass auf Antrag eine angemessene Frist zur Stellungnahme einzuräumen gewesen wäre (vgl BSG SozR 4-1500 § 62 Nr 1 RdNr 6). Ob er einen solchen Antrag in der mündlichen Verhandlung am 2.11.2016 gestellt oder eine Vertagung (§
227 Abs
1 ZPO iVm §
202 SGG) angeregt hat, geht aus der Beschwerdebegründung nicht hervor.
Soweit der Kläger darüber hinaus geltend macht, es seien keine konkreten Untersuchungen hinsichtlich einer "Minderbegabung"
durchgeführt worden, obwohl der Sachverständige Dr. G. bereits im Schwerbehindertenverfahren eine solche festgestellt habe,
rügt der Kläger einen Verstoß gegen die tatrichterliche Sachaufklärungspflicht (§
103 SGG). Auch dazu genügt die Beschwerdebegründung nicht den Anforderungen des §
160a Abs
2 S 3
SGG. Sie bezeichnet schon keinen für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren Beweisantrag, dem das LSG nicht gefolgt
ist (BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 5 mwN). Dies gilt auch hinsichtlich des Vortrags des Klägers, der Aussage der Sachverständigen Dr. L. zum Umfang
möglicher Ausfallzeiten lägen keine tragfähigen Ausführungen zugrunde, sie beruhten vielmehr auf Untersuchungsergebnissen
des Sachverständigen B., mit dem er sinngemäß ebenfalls eine Verletzung von §
103 SGG rügt (zur Pflicht des Gerichts, Feststellungen von Sachverständigen nicht ungeprüft zu übernehmen, vgl Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 12. Aufl 2017, §
103 RdNr 11d).
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl §
160a Abs
4 S 2 Halbs 2
SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des §
193 Abs
1 SGG.