Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage im sozialgerichtlichen Verfahren bei der Festsetzung von Richtgrößenregressen;
unbillige Härte bei der Vollziehung; Gewinnermittlungen eines Steuerberaters
Gründe:
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 02. März 2011 ist gemäß §§
172 Abs.
1,
173 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) zulässig, aber unbegründet. Das Sozialgericht hat rechtsfehlerfrei den Antrag der Antragstellerin zurückgewiesen, die aufschiebende
Wirkung ihrer unter dem Aktenzeichen S 79 KA 537/10 beim Sozialgericht Berlin anhängigen Klage gegen den Beschluss des Antragsgegners vom 28. September 2010 wegen der Überschreitung
der Heilmittel-Richtgröße im Jahr 2007 anzuordnen.
1.) Nach §
86 b Abs.
1 Satz 1 Nr.
2 SGG kann das Gericht in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage gegen eine einen Antragsteller belastende Entscheidung
keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung dieser Rechtsbehelfe ganz oder teilweise anordnen. Ein derartiger
Fall einer kraft Gesetzes nicht bestehenden aufschiebenden Wirkung ist hier gegeben. Gemäß §
86 a Abs.
2 Nr.
4 SGG in Verbindung mit §
106 Abs.
5a Satz 11 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches (
SGB V) hat die Klage gegen die Entscheidung des Beschwerdeausschusses über die Festsetzung eines Richtgrößenregresses keine aufschiebende
Wirkung. Ein auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung (der Klage) gerichteter Antrag hat dann Erfolg, wenn die Abwägung der
Interessen der Beteiligten ergibt, dass das Interesse des Antragstellers an der Aussetzung des Vollzugs der Maßnahme das öffentliche
Interesse des Antragsgegners an der sofortigen Durchsetzung überwiegt. Das ist wiederum grundsätzlich dann der Fall, wenn
sich der angegriffene Bescheid als offensichtlich rechtswidrig erweist, da an der Durchsetzung rechtswidriger Verwaltungsakte
kein öffentliches Interesse besteht. Wenn aber die Prüfung der Rechtmäßigkeit eines belastenden Verwaltungsaktes in einem
vorläufigen Rechtsschutzverfahren besonders schwierig oder ohne weitere Ermittlungen nicht möglich ist, weil sie von der Klärung
komplizierter Rechtsprobleme, etwa von einer Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm abhängt, die Entscheidung
nur auf der Grundlage einer weiteren Sachaufklärung möglich ist, insbesondere die Anhörung der Beteiligten, von Zeugen oder
die Beiziehung von Akten oder weiterer Unterlagen erfordert oder der Erörterung des Falles in der mündlichen Verhandlung unter
Beteiligung der sachkundigen ehrenamtlichen ärztlichen Beisitzer bedarf, können die Sozialgerichte auf die summarische Prüfung
der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes verzichten. In einem solchen Fall ist der Erfolg einer Klage regelmäßig
ebenso wahrscheinlich wie ihr Misserfolg, so dass es für ein Obsiegen in dem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes darauf
ankommt, ob der Klage nach der Entscheidung des Gesetzgebers kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung zukommen soll oder nicht.
Ist die aufschiebende Wirkung - wie im vorliegenden Fall - kraft Gesetzes ausgeschlossen, kann ein Antrag auf Gewährung vorläufigen
Rechtsschutzes in Anlehnung an §
86 a Abs.
3 Satz 2
SGB V nur dann Erfolg haben, wenn die Vollziehung für den Antragsteller eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen
gebotene Härte zur Folge hätte.
2.) Nach den vorstehenden Erwägungen ist es nicht zu beanstanden, dass das Sozialgericht auf eine abschließende rechtliche
Prüfung der Rechtmäßigkeit der Festsetzung eines Richtgrößenregresses für die Verordnung von Heilmitteln im Kalenderjahr 2007
durch den Antragsgegner verzichtet und im Rahmen einer Interessenabwägung entschieden hat, weil eine eindeutige Prognose über
die Erfolgsaussichten der Klage der Antragstellerin gegen den Bescheid des Antragsgegners nicht möglich ist. Denn die in diesem
Zusammenhang von den Beteiligten aufgeworfenen Fragen bedürfen einer eingehenden Prüfung in einem Hauptsacheverfahren. Der
Senat folgt aus diesem Grund auch dem Beschluss der 22. Kammer des Sozialgerichts Berlin vom 01. April 2011 nicht, in dem
diese die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen einen Beschluss des Antragsgegners zur Festsetzung eines
Richtgrößenregresses für die Verordnung von Heilmitteln im Jahr 2006 angeordnet hat (S 22 KA 83/11 ER). Denn ob die Auffassung der 22. Kammer des Sozialgerichts zutreffend ist, dass die Berechnung der Richtgrößen für Heilmittel
für fachübergreifende Gemeinschaftspraxen, Medizinische Versorgungszentren u.a. im vorliegenden Fall nicht nach der Heilmittel-Richtgrößenvereinbarung
2006 hätte vorgenommen werden dürfen, obwohl diese Vereinbarung für die Richtgrößenprüfung vom Antragsgegner zu beachten war,
oder dieser das Prüfungsergebnis jedenfalls über die Anerkennung von Praxisbesonderheiten hätte korrigieren müssen, bedarf
der Klärung in einem Hauptsacheverfahren.
3.) Das Sozialgericht hat auch beanstandungsfrei ausgeschlossen, dass die Vollziehung der angegriffenen Verwaltungsentscheidung
zu einer unbilligen Härte für die Antragstellerin führen würde. Denn die Antragstellerin hat weder im sozialgerichtlichen
Verfahren noch im Beschwerdeverfahren nachvollziehbaren Angaben über ihre wirtschaftlichen Verhältnisse gemacht, die den Schluss
zuließen, dass die Vollziehung der Regressentscheidung für sie zu unzumutbaren Folgen führen würde.
Der Prüfung der unbilligen Härte ist im vorliegenden Verfahren jedenfalls nach der stattgebenden Entscheidung der 22. Kammer
des Sozialgerichts Berlin in dem das Kalenderjahr 2006 betreffenden Fall nur noch der vom Antragsgegner mit Beschluss vom
28. September 2010 festgesetzte Regressbetrag für 2007 in Höhe von 51.508,14 € zu grunde zu legen. Denn für den in dem Parallelverfahren
festgesetzten Regressbetrag in Höhe von 43.547,16 € droht der Antragstellerin bis zur rechtskräftigen Entscheidung in einem
Hauptsacheverfahren keine Vollziehung, weil die 22. Kammer des Sozialgerichts die aufschiebende Wirkung der dagegen gerichteten
Klage unbefristet angeordnet hat.
Es ist derzeit nicht zu erkennen, dass die Antragstellerin nicht in der Lage wäre, diese Summe bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens
zu zahlen, ohne unzumutbaren Belastungen, insbesondere einer Existenzgefährdung, ausgesetzt zu sein. Für die Beurteilung ihrer
wirtschaftlichen Situation sind grundsätzlich die Verhältnisse zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats maßgeblich, für die
die Antragstellerin dem Senat keine vollständigen Angaben gemacht hat. Berücksichtigt man die Schwierigkeiten, im laufenden
Kalenderjahr valide Ergebnisse zur aktuellen wirtschaftlichen Situation vorzulegen, so ist der Antragstellerin jedenfalls
zuzumuten, solche Angaben für das nunmehr knapp sechs Monate abgelaufene Kalenderjahr 2010 zu machen. Auch insofern ist die
Antragstellerin jedoch jeden brauchbaren Sachvortrag schuldig geblieben, obwohl bereits das Sozialgericht in dem angefochtenen
Beschluss darauf hingewiesen hat, dass es zweifelhaft sei, ob für die Glaubhaftmachung der wirtschaftlichen Situation im Rahmen
eines Eilverfahrens im Jahre 2011 eine Gewinn- und Verlustermittlung für das Jahr 2009 ausreichend sei. In Kenntnis der Tatsache,
dass es für die sozialgerichtliche Entscheidung auf aktuelle Gewinnermittlungen ankommen könnte, hat die Antragstellerin in
ihrer Beschwerde auch angekündigt, dass Gewinnermittlungen für das Jahr 2010 erstellt würden, die alsbald nachgereicht würden.
Der Senat hat deshalb mit einer Entscheidung über die Beschwerde mehr als zwei Monate zugewartet, ohne dass die von der Antragstellerin
angekündigte Gewinnermittlung vorgelegt worden wäre oder sie vorgetragen hätte, woran entsprechender Vortrag bislang gescheitert
ist.
Die Feststellung einer unbilligen Härte durch die sofortige Vollziehung des Regressbetrages in Höhe von 51.508,14 € ist aber
auch dann nicht möglich, wenn man die Angaben der Antragstellerin für das Kalenderjahr 2009 zu Grunde legt, weil sich aus
diesen Angaben für das sozialgerichtliche Eilverfahren keine nachvollziehbare Darstellung der realen Belastung der Antragstellerin
ergibt.
Das Sozialgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Antragstellerin nach der von ihr vorgelegten Gewinnermittlung
vom 02. September 2010 im Kalenderjahr 2009 mindestens 582.446,92 € Jahreseinnahmen erzielt hat, so dass ihr monatlich durchschnittlich
ca. 48.537 € Einnahmen zur Verfügung standen. Allerdings hat die Antragstellerin bis heute nicht angegeben, ob sie neben Einnahmen
aus Zahlungen der gesetzlichen Krankenkassen und der behandelten Privatpatienten Zahlungen weiterer Kostenträger erhalten
hat und an welcher Stelle ihrer Gewinnermittlung diese ggf. geltend gemacht werden. Worin der mathematische und betriebswirtschaftliche
Fehler dieser Betrachtungsweise liegen soll, den die Beschwerde behauptet, hat die Antragstellerin nicht darzulegen vermocht.
Die Angaben der Antragstellerin sind jedoch nicht nur auf der "Einnahmeseite" unvollständig, sondern auch auf der Ausgabeseite
implausibel. Den Einnahmen sollen nämlich nach der Gewinnermittlung 2009 geltend gemachte Betriebsausgaben in Höhe von 656.852,68
€ gegenüberstehen. Zu Recht hat das Sozialgericht insoweit gerügt, dass die Antragstellerin nicht dargelegt hat, warum sie
Ausgaben für Sitzungsentschädigungen (7.500 €) und KV-Verwaltungs-kosten (10.934,11 €) tätigen musste, welche betriebsbezogenen
Aufwendungen Zinsen für kurzfristige Verbindlichkeiten (11.752,75 €) erforderlich gemacht haben und welche praxisbezogenen
Ausgaben im Einzelnen dem Posten "verschiedene Kosten" (43.346,27 €) zu Grunde liegen. Nicht zur Begründung einer unbilligen
Härte sind die geltend gemachten Kosten für Abschreibungen (insgesamt 30.857,46 €) einzubeziehen; denn diese stellen lediglich
einen steuerlichen Rechnungsposten dar, der die reale wirtschaftliche Belastung der Antragstellerin im maßgeblichen Zeitpunkt
der gerichtlichen Entscheidung nicht prägt. Anders als im Steuerrecht, das - vereinfacht gesagt - die Anschaffungskosten für
ein Wirtschaftsgut auf die angenommene Zeitspanne seines Einsatzes als Gegenstand des Betriebsvermögens verteilt berücksichtigt,
sind im sozialgerichtlichen Eilverfahren ggf. die Anschaffungskosten für Betriebsvermögen im Jahr der Anschaffung in vollem
Umfang, jedenfalls aber in Höhe des nicht kreditierten, sofort fälligen Kaufpreises, zu berücksichtigen. Aber nicht nur insoweit
weichen Steuerrecht und Sozialprozessrecht voneinander ab. Denn ein Antragsteller in einem sozialgerichtlichen Eilverfahren
auf dem Gebiet des Vertragsarztrechts ist grundsätzlich nicht verpflichtet, für die von ihm behaupteten Betriebsausgaben wie
in einem Steuerverwaltungsverfahren Belege vorzulegen. Stattdessen trifft ihn die Verpflichtung, geltend gemachte Betriebsausgaben
dann zu erläutern, wenn sie außergewöhnlich sind, um dem Gericht die Betriebsbezogenheit und Notwendigkeit der geltend gemachten
Betriebsausgaben darzulegen. Dies ist hier bei allen dargestellten Posten erforderlich: So ist z. B. völlig unklar, für welche
"Sitzungen" von der Antragstellerin Entschädigungen zu zahlen waren; von Vertragsärzten zu tragende Kosten für Verwaltungskosten
der Kassenärztlichen Vereinigung zieht diese grundsätzlich bereits von dem auszukehrenden Quartalshonorar ab, so dass diese
Beträge nach dem Honorarbescheid unmittelbar die Einnahmen der Vertragsärzte mindern und dann als Betriebsausgaben nicht noch
einmal in Ansatz gebracht werden können. Im Hinblick auf diese Rechtslage hat der Senat davon abgesehen, den Jahresabschluss
des Steuerberaters zu überprüfen und von der Antragstellerin Belege anzufordern, weil es darauf nicht ankam.
Die Rüge der Antragstellerin, dass das Sozialgericht mit seiner Entscheidung die Anforderungen an die Glaubhaftmachung im
sozialgerichtlichen Eilverfahren überspannt habe, ist unberechtigt. Das Sozialgericht hält sich mit seiner Entscheidung vielmehr
an die Rechtsprechung des Senats (vgl. Beschluss vom 21. Januar 2010, L 7 KA 80/10 B ER, zitiert nach juris). Diese beruht darauf, dass eine Prüfung der Plausibilität steuerlicher Erklärungen im sozialgerichtlichen
Eilverfahren nicht nur zulässig, sondern insbesondere im Hinblick auf die dargelegten Unterschiede zwischen Steuerrecht und
Sozialprozessrecht auch erforderlich ist. Gewinn-ermittlungen eines Steuerberaters kommt im Übrigen in sozialgerichtlichen
Eilverfahren nicht schlechthin Glaubhaftigkeit zu, weil es sich dabei der Sache nach ebenso um Beteiligtenvorbringen handelt,
wie bei dem Vortrag eines Verfahrensbevollmächtigten. Soweit die Antragstellerin weiter rügt, dass das Sozialgericht ihr vor
einer Entscheidung einen rechtlichen Hinweis hätte geben oder einen Sachverständigen hätte bestellen müssen, verkennt die
Antragstellerin die rechtlichen Grundlagen des sozialgerichtlichen Eilverfahrens. Denn auch im Verfahren nach §
86b Abs.
1 Satz 1 Nr.
2 SGG darf das Gericht seine Entscheidung unter Beachtung von §
920 Abs.
2 Zivilprozessordnung (
ZPO) i. V. m. §
294 Abs.
2 ZPO auf die ihm vorgelegten präsenten Beweismittel beschränken; das gilt erst Recht in Verfahren wie dem vorliegenden, in dem
die Antragstellerin die besondere Eilbedürftigkeit des Verfahrens durch ihren Antrag auf Erlass eines so genannten Hängebeschlusses
geltend gemacht hat. Jedenfalls kommt eine Aufhebung der sozialgerichtlichen Entscheidung im Beschwerdeverfahren wegen der
Verletzung rechtlichen Gehörs nicht mehr in Betracht, weil die Antragstellerin im Hinblick auf die angefochtene Entscheidung
damit rechnen musste, dass ihre Angaben zur Gewinnermittlung für das Jahr 2009 als implausibel eingeschätzt werden und sie
hinreichend Gelegenheit hatte, eine nachvollziehbare Darstellung ihrer realen Belastung nachzuholen. Dass sie hiervon keinen
Gebrauch gemacht, sondern sich stattdessen insoweit zur Begründung ihrer Beschwerde auf die unberechtigte Rüge der fehlenden
wirtschaftlichen Sachkenntnis des Gerichts berufen hat, geht zu ihren Lasten. Im Ergebnis lässt sich deshalb nicht feststellen,
dass die Regressforderung des Antragsgegners für die Antragstellerin zu einer nachhaltigen Gefährdung ihrer wirtschaftlichen
Existenzgrundlage führen würde; eine unbillige Härte ist deshalb ausgeschlossen.
Da die Beschwerde deshalb ohne Erfolg bleibt, muss die Antragstellerin gemäß §
197 a SGG i. V. m. §
154 Abs.
2 Verwaltungsgerichtsordnung auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens tragen; die Festsetzung des Wertes des Verfahrensgegenstandes beruht auf §
197 a SGG i. V. m. §§ 52, 63 Gerichtskostengesetz.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§
177 SGG).