Vorzeitige Altersrente; Aufforderung zur Rentenantragstellung; Rentenauskunft; Ermessensausübung; Ermessensfehler; finanzielle
Einbußen; Unbilligkeitsverordnung; Eingliederungsvereinbarung; typischer Fall; Anordnung der aufschiebenden Wirkung; einstweiliger
Rechtsschutz; Anfechtungsfall; Anfechtungswiderspruch; Widerspruchsbescheid; anwendbare Rechtslage; Inanspruchnahme; vorgezogene
Altersrente
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes über die Rechtmäßigkeit der an den Antragsteller ergangenen
Aufforderung des Antragsgegners, vorzeitig Altersrente zu beantragen.
Der am ... 1953 geborene Antragsteller bezieht vom Antragsgegner Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende nach dem Zweiten
Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II).
Unter dem 4. Februar 2015 forderte ihn der Antragsgegner auf, eine Rentenauskunft vorzulegen. Er, der Antragsteller, vollende
am 29. Mai 2016 das 63. Lebensjahr. Der Antragsgegner habe einen Anspruch auf Altersrente gemäß § 12a SGB II zu überwachen. Hierauf reagierte der Antragsteller nicht.
Mit Bescheid vom 15. Februar 2016 forderte der Antragsgegner den Antragsteller auf, bis spätestens 28. Februar 2016 eine geminderte
Altersrente beim Rentenversicherungsträger zu beantragen. Er sei verpflichtet, Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch
zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen, sofern dies zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung
der Hilfebedürftigkeit erforderlich sei. Unter Abwägung aller Gesichtspunkte sei er, der Antragsgegner, zur Entscheidung gekommen,
den Antragsteller zur Beantragung dieser vorrangigen Leistung aufzufordern. Komme er dieser Aufforderung nicht nach, könne
der Antrag auch durch den Grundsicherungsträger gestellt werden. Es seien keine maßgeblichen Gründe ersichtlich, die gegen
die Beantragung der vorzeitigen Altersrente sprächen. Die Voraussetzungen der Unbilligkeitsverordnung seien geprüft worden.
Keine dieser Voraussetzungen liege hier vor. Auch wenn die vorzeitige Inanspruchnahme der Altersrente zu einer finanziellen
Einbuße führte, könne nach Abwägung aller Umstände nicht auf deren Bezug verzichtet werden.
Den hiergegen seitens des Antragstellers im Wesentlichen mit der Begründung erhobenen Widerspruch, die Verluste bei vorzeitiger
Inanspruchnahme der Altersrente seien erheblich und ein Ermessen sei nicht ausgeübt worden, wies der Antragsgegner mit Widerspruchsbescheid
vom 11. März 2016 als unbegründet zurück.
Am 11. April 2016 hat der Antragsteller beim Sozialgericht Magdeburg Klage erhoben mit dem Begehren der Aufhebung der Aufforderung
zur Beantragung vorrangiger Leistungen. Gleichzeitig hat er in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes die Anordnung
der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen den Bescheid vom 15. Februar 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 11. März 2016 begehrt. Dem Antragsgegner sei die Höhe der vorgezogenen Altersrente nicht bekannt gewesen. Er habe nicht
prüfen können, inwieweit diese zur dauerhaften Deckung des Lebensunterhaltes ausreichen könnte. Er hat die Zwangsverrentung
für unbillig gehalten.
Das Sozialgericht hat mit Beschluss vom 17. Mai 2016 den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Regelungsanordnung zurückgewiesen.
Im Wesentlichen hat es zur Begründung ausgeführt, vorliegend spreche nicht mehr für einen Erfolg der Anfechtungsklage als
dagegen.
Die Regelungen des § 12a SGB II fänden auf den Antragsteller Anwendung. Dieser habe am 29. Mai 2016 das 63. Lebensjahr vollendet. Anhaltspunkte für eine
Unbilligkeit der Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente lägen nicht vor.
Er könnte mutmaßlich nicht i.S.v. § 3 UnbilligkeitsV in nächster Zukunft abschlagsfrei die Altersrente in Anspruch nehmen.
Ausweislich der Verordnungsbegründung sei mit "in nächster Zukunft" ein Zeitraum von längstens drei Monaten gemeint. Eine
abschlagsfreie Altersrente könnte in den nächsten drei Monaten nicht bewilligt werden.
Der Antragsteller übe nach Lage der Akten auch keine Erwerbstätigkeit gemäß § 4 UnbilligkeitsV aus. Dass eine nicht nur vorübergehende
Erwerbstätigkeit bevorstünde, habe er nicht behauptet (§ 5 UnbilligkeitsV).
Ob der Antragsteller in der Lage wäre, den Grundsicherungsbedarf mit einer vorzeitigen Altersrente voll zu decken, sei nicht
von Bedeutung für das Vorliegen von Unbilligkeit. Denn nach dem Willen des Gesetzgebers sei auch dann deren vorzeitige Inanspruchnahme
zuzumuten, wenn die Hilfebedürftigkeit lediglich verringert werden könne. Die Gründe, die zur Unbilligkeit der vorzeitigen
Inanspruchnahme der Rente führen könnten, seien abschließend geregelt.
Der Antragsgegner habe auch das erforderliche Ermessen in genügender Weise ausgeübt. Die gerichtliche Nachprüfung von Ermessensentscheidungen
beschränke sich gemäß §
54 Abs.
2 Satz 2
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) auf die Einhaltung der gesetzlichen Grenzen des Ermessens und die Ermessensausübung in einer dem Zweck der Ermächtigung
entsprechenden Weise. Der Bescheid vom 15. Februar 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. März 2016 lasse
erkennen, dass der Antragsgegner das ihm eingeräumte Ermessen erkannt und pflichtgemäß ausgeübt habe. Er habe das Interesse
des Antragstellers am fortlaufenden Bezug von SGB II-Leistungen bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze dem öffentlichen Interesse an einer Vermeidung bzw. Verringerung der Hilfebedürftigkeit
gegenüber gestellt und die Aufforderung zur Rentenantragstellung für verhältnismäßig erachtet. Argumente, die im Rahmen einer
Ermessensausübung im Einzelfall hätten berücksichtigt werden müssen, habe der Antragsteller im Widerspruchsverfahren nicht
vorgetragen. Im Rahmen des Ermessens könnten nur Umstände berücksichtigt werden, die im Einzelfall vorgetragen würden oder
die sich nach der Aktenlage ergäben. Wenn der Leistungsberechtigte aber die Aufklärung der wirtschaftlichen Auswirkungen einer
vorzeitigen Altersrente nicht ermögliche, könne zu seinen Gunsten insoweit nichts berücksichtigt werden. Es obliege ihm, wesentliche
für ihn günstige Tatsachen vorzubringen. Unterbleibe dies, sei eine Ermessensausübung ohne die Berücksichtigung möglicher
weiterer, aber nicht bekannter Aspekte rechtmäßig.
Es sei auch nach der Aktenlage kein Umstand ersichtlich, weshalb ausnahmsweise, abweichend von der Intention des Gesetzgebers,
im Fall des Antragstellers ein Absehen von der Aufforderung zur vorzeitigen Inanspruchnahme der Altersrente geboten gewesen
wäre. Für den Antragsgegner hätten sich keine weiteren in die Ermessensausübung einzustellenden Aspekte ergeben.
Gegen den ihm am 21. Mai 2016 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am 20. Juni 2016 Beschwerde eingelegt. Die drei
letzten mit dem Antragsgegner abgeschlossenen Eingliederungsvereinbarungen (die letzte sei bis 23. Juni 2016 gültig) enthielten
keine Aufforderung zur vorzeitigen Inanspruchnahme einer Altersrente. Sie seien vielmehr auf die Integration in den Arbeitsmarkt
gerichtet gewesen. Daran habe sich der Antragsgegner zu halten. Da dieser keine Kenntnis von der Höhe der vorzeitigen Altersrente
gehabt habe, habe er eine rechtmäßige Ermessensentscheidung nicht treffen können.
Das Schreiben zur Vorlage einer Rentenauskunft sei ihm nicht zugegangen. Der Antragsgegner hätte zudem Zeit gehabt, eine erneute
Aufforderung an ihn zu senden.
Aus der nunmehr von ihm abgeforderten Rentenauskunft gehe hervor, dass er einen ca. 9%igen Abschlag im Vergleich zur Regelaltersrente
hinzunehmen habe.
Der Antragsgegner hat beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
Er hält die Gründe des angefochtenen Beschlusses für zutreffend.
Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte des Antragsgegners
Bezug genommen.
II.
Die nach §
173 SGG form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist statthaft nach §
172 Abs.
3 SGG. Sie unterfällt nicht der Berufungsbeschränkung des §
144 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGG, da sich der Antragsteller vorliegend gegen die Aufforderung wendet, vorzeitig Altersrente in Anspruch nehmen zu müssen.
Die Beschwerde ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat zu Recht den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der
Klage des Antragstellers gegen das Aufforderungsschreiben des Antragsgegners vom 15. Februar 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 11. März 2016 abgelehnt.
Nach §
86b Abs.
1 Nr.
2 SGG kann das Gericht auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben,
die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Ist der Verwaltungsakt zum Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen
oder befolgt worden, kann das Gericht gemäß §
86b Abs.
1 Satz 2
SGG die Aufhebung der Vollziehung anordnen.
Rechtsfolge der Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs ist es, den Vollzug eines Verwaltungsaktes zu verhindern.
Die Klage des Antragstellers gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 15. Februar 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 11. März 2016 hat gemäß §
86a Abs.
2 Nr.
4 SGG i.V.m. § 39 Abs. 1 Nr. 3 SGB II keine aufschiebende Wirkung.
Das Rechtsschutzbegehren ist unbegründet. Einen ausdrücklichen gesetzlichen Maßstab für die gerichtliche Anordnung der aufschiebenden
Wirkung von Widerspruch und Klage sieht §
86b Abs.
1 Satz 1 Nr.
2 SGG nicht vor. Das Gericht entscheidet auf Grund einer Interessenabwägung (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 11. Aufl., §
86b, Rn. 12). Nach §
86a Abs.
2 Nr.
4 SGG entfällt die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs u.a. in anderen durch Bundesgesetz vorgeschriebenen Fällen. Das vom Gesetzgeber
in § 39 SGB II angeordnete vordringliche Vollzugsinteresse hat für das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes die Bedeutung, dass der
Antragsgegner von der ihm nach §
86a Abs.
2 Nr.
4 SGG obliegenden Pflicht entbunden wird, das öffentliche Interesse der sofortigen Vollziehbarkeit gesondert zu begründen.
Das Gesetz unterstellt aber den Sofortvollzug keineswegs als stets, sondern als nur im Regelfall geboten und verlagert somit
die konkrete Interessenbewertung auf Antrag des Antragstellers hin in das gerichtliche Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes
(vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Beschluss vom 17. September 2001, 4 VR 19/01, NZV 2002, 51, 52 unter Bezug auf BVerwG, Beschluss vom 21. Juli 1994, 4 VR 1/94, BVerwGE 96, 239 ff, jeweils zu §
80 Abs.
2 Nr.
3 Verwaltungsgerichtsordnung (
VwGO) in der bis 31. Dezember 1996 gültigen Fassung, der wortgleich zu §
86a Abs.
2 Nr.
4 SGG ist). Im vorliegenden Fall überwiegt das Interesse des Antragsgegners an der sofortigen Vollziehung gegenüber dem Interesse
der Antragstellerin am Nichtvollzug, denn der Bescheid 4. August 2014 ist wohl rechtmäßig.
Der Antragsteller ist im Verwaltungsverfahren nach § 24 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - SGB X) ordnungsgemäß angehört worden. Er hat vor Erlass des Widerspruchsbescheides ausreichend Gelegenheit erhalten, sich zu äußern.
Der streitgegenständliche Bescheid ist nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung nicht
zu beanstanden. Der Senat verweist zur Begründung und Vermeidung von Wiederholungen auf die Gründe des angefochtenen Beschlusses
des Sozialgerichts und macht sie sich nach eigener Prüfung zu Eigen (§
142 Abs.
2 Satz 3
SGG).
Soweit der Antragsteller auf die zwischen ihm und dem Antragsgegner abgeschlossenen Eingliederungsvereinbarungen verweist,
ändert dies nichts am Ergebnis. Denn die Eingliederungsvereinbarung steht der Rechtmäßigkeit der Aufforderung, vorzeitig Altersrente
in Anspruch zu nehmen, nicht entgegen.
Eingliederungsvereinbarungen sind ihrer Rechtsqualität nach öffentlich-rechtliche Verträge in der Form des subordinationsrechtlichen
Austauschvertrags nach § 53 Abs. 1 Satz 2, § 55 SGB X (vgl. BSG, Urteil vom 23. Juni 2016, B 14 AS 30/15 R, Rn. 16, Juris). Sie hindern jedoch nicht die Anwendung der gesetzlichen Vorschriften des SGB II. Bis zur Rentenbewilligung bleibt der Antragsteller allen Regelungen des SGB II unterworfen. Zudem ist zu berücksichtigen, dass der Antragsgegner sogar nach § 3 Abs. 2a SGB II (in der bis 31. Juli 2016 geltenden Fassung) verpflichtet war, den über 58-jährigen Antragsteller unverzüglich in Arbeit
zu vermitteln.
Auch im Rahmen der Ermessensausübung musste die Eingliederungsvereinbarung nicht als besonderer Umstand berücksichtigt werden.
Davon könnte beispielsweise dann ausgegangen werden, wenn hieraus eine nachdrücklich dokumentierte fortdauernde Arbeitsmarktnähe,
etwa durch umfängliche und nicht aussichtslose Initiativbewerbungen oder im Hinblick auf zeitnah oder gegenwärtig bezogene
Eingliederungsleistungen hervorgehen würde (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 6. Juli 2015, L 25 AS 543/15 B ER, Juris). Dies ist hier nicht der Fall. Der Antragsteller ist bereits seit mehreren Jahren arbeitslos. Nach Aktenlage
bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass er - ggf. infolge der Eingliederungsvereinbarung - in Arbeit hätte vermittelt werden
können oder dies zeitnah zu erwarten wäre. Insoweit ist es ausreichend, dass der Antragsgegner (im Rahmen der Prüfung der
Unbilligkeitsverordnung) die Aussicht auf Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung geprüft und verneint
hat.
Der Senat weist zudem darauf hin, dass der Antragsgegner nicht gehalten war, die zu erwartende Höhe der vorgezogenen Altersrente
als besonderen Umstand in die Ermessenerwägungen mit einzubeziehen.
Eine isolierte Betrachtung der Höhe des Leistungsanspruchs nach dem SGB II oder SGB XII und der Höhe der vorrangigen Sozialleistung können keinesfalls außergewöhnliche Umstände begründen. § 12a Satz 1 SGB II lässt schon eine Verminderung der Hilfebedürftigkeit für die Verpflichtung zur Inanspruchnahme genügen und das Nachrangprinzip
gilt nach § 2 SGB XII auch im SGB XII (vgl. BSG, Urteil vom 19. August 2015, B 14 AS 1/15 R). Dass der Verordnungsgeber insofern für vergleichbare Fälle ab 1. Januar 2017 einen Unbilligkeitsgrund vorsieht, führt
nicht dazu, dass andere Ermessenserwägungen anzustellen gewesen wären. Der Verordnungsgeber hat in Kenntnis und unter Anführung
der Rechtsprechung des BSG (Urteile vom 19. August 2015 (a.a.O.) und vom 23. Juni 2016 (B 14 AS 46/15 R)), wonach eine Hilfebedürftigkeit der Leistungsberechtigten bei Bezug der Altersrente keinen bei der Ermessensentscheidung
nach § 5 Abs. 3 SGB II atypischen Fall begründet, die Neuregelung erst mit Wirkung zum 1. Januar 2017 eingeführt (vgl. Bayerisches Landessozialgericht,
Beschluss vom 21. November 2016, L 11 AS 721/16 B ER, Rn. 25, m.w.N., Juris). In der vorliegenden Situation der isolierten Anfechtung eines Verwaltungsaktes kommt es entscheidend
auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung an, also des Widerspruchsbescheides vom 11. März
2016.
Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.
Der Beschluss ist unanfechtbar (§
177 SGG).