Beweislast bei Geltendmachung des Anspruchs auf Gewaltopferentschädigung
Tatbestand:
Die 1963 geborene Klägerin begehrt Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (
OEG) i.V.m. den Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) wegen Misshandlungen und vor allem sexueller Traumatisierung in der Kindheit, begangen durch die Mutter, den Halbbruder
sowie unbekannte andere Personen.
Mit zuletzt maßgeblichem Bescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung A-Stadt vom 27.08.2002 hat der Beklagte nach
dem Schwerbehindertenrecht (nunmehr:
SGB IX) einen Grad der Behinderung (GdB) mit Wirkung ab 04.07.2002 von 80 festgestellt sowie die Merkzeichen "B" und "G" zuerkannt.
Berücksichtigt worden ist unabhängig von der Ursache eine "seelische Störung". Dr. W. und Dr. S. haben mit versorgungsärztlichen
Stellungnahmen vom 29.12.2001 und 22.08.2002 hierbei auch das mögliche Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung
nach sexuellem Missbrauch in der Kindheit diskutiert, ebenso einen phasenweisen auftretenden Alkoholmissbrauch ohne dauernden
Kontrollverlust sowie einen Nikotin- und Medikamentenmissbrauch. Im Wesentlichen ist jedoch das bestehende Borderline-Syndrom,
längere depressive Reaktionen sowie eine schwere dissoziative Identitätsstörung festgestellt worden.
Der Antrag auf Beschädigtenversorgung nach dem
OEG vom 29.05.2001 ist mit dem streitgegenständlichen Bescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung A-Stadt vom 18.07.2003
abgelehnt worden. Es gehe zu Lasten der Klägerin, dass eine sexuelle Traumatisierung in der Kindheit durch die Mutter, den
Halbbruder und andere Personen nicht habe nachgewiesen werden können. Nach den gemachten Angaben dürfte am ehesten die Zeit
ab 11.11.1970 als Beginn der Gewalttaten in Frage kommen. Vorher sei die Klägerin in verschiedenen Kinderheimen und in der
Zeit von Sommer 1965 bis 1968 bei der Familie D. untergebracht gewesen. Man habe Frau und Herrn D. im Rahmen der Sachverhaltsaufklärung
befragt. Hinweise auf massive Gewalttaten hätten sich jedoch nicht ergeben. Lediglich nach einem Besuch der leiblichen Mutter
im Juli 1968 habe die Klägerin gegenüber Frau D. geäußert, sie wäre geschlagen und getreten worden. Äußere Verletzungen seien
damals jedoch nicht festgestellt worden. Kurz darauf sei die Klägerin aus der Pflegefamilie genommen worden und sei nach verschiedenen
Kinderheimaufenthalten am 11.11.1970 wieder zu ihrer leiblichen Mutter gekommen. Auch aus der beigezogenen Schülerakte hätten
sich keinerlei Hinweise auf gegen die Klägerin gerichtete Gewalttaten durch die Mutter bzw. Familienangehörige ergeben. Nach
den im Schreiben vom 12.01.2003 geschilderten Misshandlungen wäre zu erwarten gewesen, dass die Klägerin zur Vertuschung von
Verletzungen nicht zur Schule geschickt worden wäre. Tatsächlich habe die Klägerin nie auffällig viele Fehlzeiten gehabt.
Auch gute Noten im Fach Sport würden dagegen sprechen, dass die Klägerin wegen der Folgen von Misshandlungen häufig nicht
am Sportunterricht habe teilnehmen können. In einem Vermerk für das Schuljahr 1972/1973 sei festgehalten worden, dass sich
die Mutter mit der Klägerin viel Mühe gegeben habe und sich das Verhalten gebessert habe, wobei die schulischen Leistungen
im allgemeinen Durchschnitt gelegen hätten. Andererseits ergebe sich aus den Zeugnissen, dass das Verhalten der Klägerin sprunghaft
gewesen sei und diese auch Konzentrations- und Aufmerksamkeitsschwankungen unterlegen sei. Dies könnte man zwar als Hinweis
werten, dass es im häuslichen Bereich zu Schwierigkeiten gekommen sei. Ein geschützter Tatbestand lasse sich daraus aber nicht
ableiten, da das soziale Verhalten der Klägerin nie Grund zu einer schwerwiegenden Beanstandung gegeben habe und auch andere
Faktoren (z.B. Streitigkeiten der Eltern, später auch Pubertät) derartige Verhaltensweisen rechtfertigen könnten. Die angegebene
Zeugin F. habe trotz Erinnerung keine Angaben gemacht. Allerdings sei Frau F. lange Jahre die Lehrerin der Klägerin gewesen
und habe in den Zeugnissen das damalige Verhalten beschrieben. Hinweise auf Gewalttaten würden sich darin nicht erkennen lassen
und es sei auch nicht damit zu rechnen, dass sie 30 Jahre später Angaben machen könne, die eine andere Sicht der Dinge rechtfertigen
könnten. Die Zeugin S., eine ehemalige Schulkameradin, sei telefonisch nicht zu erreichen gewesen. Auf eine schriftliche Anfrage
sei keine Antwort eingegangen.
Mit Widerspruch vom 25.08.2003 haben die Bevollmächtigten der Klägerin hervorgehoben, dass diese in ihrer Kindheit und Jugend
von ihrer leiblichen Mutter I. D. (nunmehr: C.) und ihrem Halbbruder H. D. misshandelt worden sei. Auch wenn ein entsprechender
Nachweis schwierig zu führen sei, so erinnere sich die Zeugin S. in ihrer schriftlichen, nachträglich eingegangenen Aussage
vom 23.07.2003 daran, dass die Klägerin aus ihrer Sicht eine panische Angst vor ihrer Mutter und ihrem älteren Halbbruder
gehabt habe. Die Klägerin erinnere sich daran, dass sie in den Jahren 1974 bis 1978 mehrmals von zu Hause weggelaufen sei
und auch längere Zeit in der Schule gefehlt habe. Ein Selbstmordversuch sei der Zeugin S. erinnerlich. Die damalige Hauptschullehrerin
Frau F. habe sich in ihrer schriftlichen Stellungnahme vom 04.07.2003 daran erinnert, dass die Klägerin durch tiefe Augenränder
aufgefallen sei, welche auf massive Schlafstörungen hinwiesen, und ihr Sozialverhalten durch eine krasse Außenseiterposition
und starke Introvertiertheit geprägt gewesen sei.
Der Beklagte hat den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid des Bayer. Landesamtes für Versorgung und Familienförderung vom
06.11.2003 zurückgewiesen. Nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast gehe die Nichterweislichkeit der anspruchsbegründenden
Tatsachen zu Lasten der Klägerin. Die bloße Möglichkeit, dass sie ein Opfer von häuslichen Misshandlungen geworden sei, begründe
keinen Anspruch auf Beschädigtenversorgung.
Mit Klageschrift und -begründung vom 10.12.2003 haben die Bevollmächtigten der Klägerin vor allem auf das Schreiben von Dr.
G. vom 24.06.2002 hingewiesen. Die Leiterin der Psychotherapie-Weiterbildung der Medizinischen Hochschule B-Stadt habe das
Vorliegen einer dissoziativen Indentitätsstörung bestätigt. Allein die Erkrankung der Klägerin an einer dissoziativen Identitätsstörung
sei Beleg dafür, dass die Klägerin im Kindheitsalter durch sexuelle Gewalt lebensbedrohend und chronisch traumatisiert worden
sei. Die Klägerin erinnere sich an sexuelle Übergriffe durch ihren Halbbruder. Diese sexuellen Übergriffe hätten solange angedauert,
bis dieser eine eigene Freundin (Frau B.) gehabt habe. Außerdem sei die Klägerin während ihrer gesamten Jugend häufig von
zu Hause weggelaufen. Letztendlich sei sie jedoch immer wieder in den Haushalt ihrer Mutter zurückgekommen. Diese habe ihr
auch immer wieder zu verstehen gegeben, dass sie nichts wert sei. Ein häufig gebrauchter Spruch der Mutter der Klägerin sei
gewesen "Dich hätte man schon im ersten Badewasser ersäufen sollen".
Das Sozialgericht Nürnberg hat Dr. O. zum ärztlichen Sachverständigen bestellt. Dieser ist mit Gutachten vom 10.01.2006 zu
dem Ergebnis gekommen, dass die bestehende "seelische Störung" einen GdB von 80 bis 100 bedingen würde. Bei der derzeitigen
Befundlage lasse sich jedoch eine hinreichende Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs nicht angeben. Ein psychiatrisches
Zusammenhangsgutachten wurde für erforderlich erachtet. Das Sozialgericht Nürnberg hat Dr. Dr. N. gutachtlich gehört. Dieser
ist mit psychiatrischem Fachgutachten vom 04.02.2007 zu dem Ergebnis gekommen, dass die Klägerin an einer dissoziativen Identitätsstörung
auf dem Boden einer posttraumatischen Belastungsstörung mit entsprechender chronifizierter Persönlichkeitsveränderung leide.
Aus medizinischer Sicht liege eine mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlich dafür vor, dass die Klägerin in ihrer Kindheit
Opfer von Missbrauchshandlungen geworden sei. Ob dies auf die Mutter und den Halbbruder beschränkt sei, könne aus gutachterlicher
Sicht nicht gesagt und nicht entschieden werden. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) sei derzeit mit 80 v.H. zu bemessen.
Aufgrund allgemeiner klinischer Erfahrungen und auch aufgrund recht guter Ergebnisse von entsprechenden psychotherapeutischen
Verfahren, die der Klägerin anempfohlen würden und über deren Gewährung nachgedacht werden sollte, sollte die Anerkennung
der MdE zunächst für einen Zeitraum von vier bis fünf Jahren erfolgen. Danach sollte eine Nachuntersuchung durchgeführt werden,
um eine möglicherweise eintretende Besserung nicht zu übersehen.
Der Beklagte hat mit Schriftsatz vom 21.02.2007 darauf hingewiesen, dass unverändert nicht nachgewiesen sei, dass die Klägerin
in ihrer Kindheit bzw. Jugend das Opfer von Gewalttaten im Sinne des
OEG geworden sei. Zu den Fakten, die vor der Beurteilung eines ursächlichen Zusammenhangs geklärt sein müssten, gehöre als entscheidendes
Kriterium der schädigende Vorgang (hier: die behaupteten Misshandlungen durch Mutter und Halbbruder). Eine Zeugeneinvernahme
der Mutter und des Halbbruders werde anheimgestellt. Hierzu hat sich die Klägerin nicht bereit erklärt. Im Folgenden hat das
Sozialgericht Nürnberg die Klage mit Urteil vom 27.09.2007 abgewiesen. Die Ausführungen des Sachverständigen Dr. Dr. N., dass
in der weit überwiegenden Zahl der untersuchten Personen mit dissoziativer Identitätsstörung eine in der Kindheit erfolgte
Traumatisierung stattgefunden habe, genüge nicht, um mit der juristisch erforderlichen an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit
auf das Vorliegen von Gewalttaten in der Kindheit der Klägerin zu schließen. Soweit der Beweis hierfür fehle, gehe dies nach
dem Grundsatz der objektiven Beweislast zu Lasten der Klägerin. Diese habe im Übrigen weder die Befragung der Mutter noch
des Halbbruders durch das Gericht gewünscht. Auch eine Beweiserleichterung nach §
6 Abs.3
OEG i.V.m. § 15 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOV-VfG) stütze das Begehren der Klägerin nicht, da
die Angaben der Klägerin, welche sie aufgrund sog. "Flashbacks" schildere, viel zu ungenau und nur wenig konkret seien.
Die hiergegen gerichtete Berufung vom 10.12.2007 ging am selben Tag beim Bayer. Landessozialgericht (BayLSG) ein.
Der Beklagte hat mit Nachricht vom 12.02.2008 nochmals den Bericht des Klinikums Tagesklinik A-Stadt vom 19.02.1988 vorgelegt.
Danach ist die Klägerin erstmals im Oktober 1986 an einer drogeninduzierten akuten Psychose erkrankt. Sie ist in der Universitäts-Nervenklinik
E. behandelt worden. Im Rahmen der teilstationären Weiterbehandlung in der Tagesklinik hat sie auch den Wunsch geäußert, ihre
berufliche Perspektiven hinsichtlich einer Umschulung zur MTA zu überdenken.
Mit Schriftsatz vom 23.05.2008 wies die Bevollmächtigte der Klägerin darauf hin, dass diese gegenüber Dr. Dr. N. drei Vorfälle
geschildert habe (die Klägerin erinnere sich z.B. daran, dass irgend jemand im Wohnzimmer der Eltern sie zwischen "den Füßen"
angefasst habe; ihre Mutter hätte einmal ihren Kopf nach unten in einen Eimer mit Putzwasser hineingedrückt; ein anderes Mal
habe die Mutter ihr auch heißen Kaffee über den Kopf geschüttet und zu ihr gesagt, er sei ihr zu kalt). Im Übrigen habe sich
die Klägerin trotz erheblicher Bedenken bezüglich ihrer eigenen Sicherheit nunmehr dazu entschieden, einer Befragung der Mutter
und des Halbbruders zuzustimmen. Es werde allerdings dringend darum gebeten, weder die Adresse noch den geänderten Namen der
Klägerin bekanntzugeben, die Befragung vielmehr ausschließlich unter dem Namen Claudia D. durchzuführen. Für die Klägerin
bestehe beim Einwohnermeldeamt der Stadt A-Stadt eine Auskunftssperre.
In Berücksichtigung der jetzt gegebenen Bereitschaft Zeugen einvernehmen zu lassen, beschloss das BayLSG am 09.06.2008, der
Klägerin für das Verfahren vor dem BayLSG PKH zu bewilligen und Frau Rechtsanwältin B. beizuordnen. Vorsorglich wurde auf
§
10a OEG aufmerksam gemacht und gebeten, ab Antragstellung im Mai 2001 entsprechende Nachweise einer Bedürftigkeit beizubringen.
In dem vorgelegten handschriftlichen Bericht aus dem Jahre 1992 sprach die Klägerin von einer langjährigen Therapie, die sie
selbst finanziert und erfolgreich abgeschlossen habe. Diesbezüglich erklärte die Witwe des damals behandelnden Dipl.-Psychologen
N., dass alle älteren Patientenunterlagen inzwischen vernichtet worden seien. Die Klägerin sei ihr aber persönlich bekannt.
Sie sei von Frühjahr 1988 bis November 1991 Patientin bei ihrem Mann gewesen. Sie könne sich daran erinnern, dass sie regelmäßig
mindestens einmal in der Woche zur Therapie gekommen sei. Aufgrund der Tatsache, dass sie nach einiger Zeit an einer therapeutischen
Gruppe zusätzlich teilnehmen sollte und dies auch getan habe, wisse sie die Diagnose für die Therapie "Schwere Borderline-Symptomatik".
Zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung wurde entsprechend dem Ersuchen der Klägerbevollmächtigten der für Dritte erkennbare
Datenbestand geändert (Aufnahme des Mädchennamens Claudia D. und Unterdrückung der Anschrift).
In der mündlichen Verhandlung vom 27.08.2009 werden als Zeugen I. C. und D. einvernommen. Beide Zeugen sind nach Belehrung
aussagebereit. Die Mutter der Klägerin äußert sich im Wesentlichen dahingehend, sie könne mit 100-prozentiger Sicherheit sagen,
dass sie nichts zwischen ihren Kindern beobachtet habe, was mit sexuellem Missbrauch in Verbindung stehen könnte. Auch gegen
ihren Ehemann habe sie keinen Verdacht. Sie könne definitiv sagen, dass sie nichts wisse und dass ihr nichts aufgefallen sei.
Außer über Ohrfeigen bei Ungezogenheiten könne sie über keine gravierenderen Probleme mit ihrer Tochter oder in der Familie
berichten. Befragt nach Vorfällen mit heißem Kaffee oder Badewasser könne sie sich das gar nicht vorstellen und erinnere sich
in keinster Weise an solche Vorfälle. Von dem Vorwurf eines sexuellen Missbrauchs habe sie von ihrer Tochter gehört, als diese
sich circa vor 15 oder 16 Jahren habe mit ihr treffen wollen und sie damals beschuldigt habe, sie bzw. alle hätten sie vergewaltigt.
Dies habe bei ihr selbst behandlungsbedürftige Gesundheitsstörungen ausgelöst.
Der Zeuge D. berichtet, dass er das Zimmer mit seiner Schwester geteilt habe. Natürlich habe es dabei Reibereien gegeben und
es seien auch mal die "Fetzen geflogen", meist verbal, wobei er ihr auch schon mal eine gescheuert habe. An einen schlimmen
Vorfall könne er sich allerdings erinnern. Da habe er sie mit der Faust ins Gesicht geschlagen und sie habe sich dabei mit
dem Zahn im Mund verletzt. Anlass sei nach seiner Erinnerung gewesen, dass sie das Essen in die Toilette gespült und gegenüber
der Mutter gesagt habe, er sei es gewesen. Er könne sich aber an keinen Vorfall erinnern, dass er seine Schwester mit einem
Kissen auf das Bett gedrückt habe. Im Übrigen wisse er nicht, um welche Streitigkeiten seiner Schwester es hier gehe.
Zur Aufklärung eines Widerspruchs in den Zeugenaussagen wurde die Zeugin C. zu den näheren Umständen des Gespräches vor circa
15 bis 16 Jahren nochmals befragt, vor allem zu ihrer Aussage, sei sie allein hingegangen und habe vorher ihren Sohn darüber
auch nicht informiert und mit ihm nicht gesprochen. Sie habe ihn nach dem Gespräch angerufen und von diesem Gespräch berichtet.
Sie glaube nicht, dass sie vor dem Gespräch ihren Sohn informiert habe, dass sie ihre Tochter treffen werde. Keinesfalls habe
sie ihn mitgenommen. Sie habe auch keine Bedenken gehabt, zu diesem Gespräch zu gehen; es habe vorher keinen Hinweis auf Probleme
gegeben. - Der Zeuge D. sagt aus, er habe es abgelehnt, zu diesem Gespräch mitzukommen, weil seine Schwester ja ausdrücklich
nur seine Mutter habe sehen wollen. Das Gespräch habe nach seiner Erinnerung etwa eine halbe Stunde gedauert. Als seine Mutter
aus dem Lokal gekommen sei, sei er zusammen mit ihr weggegangen und sie habe ihm dann von den Vorwürfen erzählt, sowohl, dass
sie als Mutter versagt hätte, als auch dass die Schwester von uns sexuell missbraucht worden sei. - Wegen der näheren Einzelheiten
der Zeugenaussagen wird auf die Niederschrift vom 27.08.2009 Bezug genommen.
Die Bevollmächtigte der Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 27.09.2007 und den Bescheid des Beklagten vom 18.07.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 06.11.2003 aufzuheben und der Klägerin dem Grunde nach Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (
OEG) zu bewilligen.
Die Bevollmächtigte des Beklagten beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird gemäß §
202 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) i.V.m. §
540 der
Zivilprozessordnung (
ZPO) sowie entsprechend §
136 Abs.2
SGG auf die Unterlagen des Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist gemäß §§
143,
144 ff. und 151
SGG zulässig, jedoch unbegründet.
Wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes in Folge eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine Person eine
gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält gemäß §
1 Abs.1
OEG wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes
(BVG). Die Klägerin stützt ihr Begehren auf Bewilligung von Leistungen nach §
1 Abs.1
OEG auf die Straftaten "sexuelle Traumatisierung in der Jugend" im Sinne von §§
174 ff. Strafgesetzbuches (
StGB) sowie "Misshandlungen als Kind durch nächste Angehörige" gemäß §
225 StGB.
Das Vorliegen eines anspruchsbegründenden Sachverhalts im Sinne von §
1 Abs.1
OEG i.V.m. den Vorschriften zum Schutz der sexuellen Selbstbestimmung im Sinne von §§
174 ff.
StGB ist nicht nachgewiesen. Der Senat verkennt nicht, dass die Klägerin gegenüber dem erstinstanzlich beauftragten Gutachter
Dr. Dr. N. diesbezüglich drei Vorfälle geschildert hat, die den Straftatbestand erfüllen würden:
- Sie erinnere beispielsweise eine Szene, wo sie sich im Wohnzimmer der Eltern befinde und zwischen "den Füßen" angefasst
werde. Im Zimmer stünden orangefarbene Sessel, ihre Unterhose sei weg. Irgendwer fummle an ihren Genitalien herum. Sie habe
mit den Füßen ausgeschlagen und dann höre sie immer wieder die Stimme, die ihr sage, "Du verstehst keinen Spaß", dann komme
es zu dem Filmriss, die Erinnerung setze dort aus.
- Der Halbbruder habe sie einmal im elterlichen Schlafzimmer mit dem Kopf auf ein Kissen gedrückt und sich lange auf sie darauf
gelegt. Sie sei heute der Meinung, dass es dabei zu einer Inzestsituation gekommen sei.
- Sie habe auch manchmal in Erinnerung, dass es immer nachts zu genitalen Berührungen durch den Bruder und auch die Mutter
gekommen sei. Später sei es dann in seinem Bett zur "Missionarsstellung" gekommen.
Diese Flashbacks sind für sich allein betrachtet jedoch zu vage und zu ungenau, um das Vorliegen einer "posttraumatischen
Belastungsstörung" als Unterform der bestehenden "seelischen Störung" annehmen zu können. Dies gilt auch in Berücksichtigung
von § 15 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren in der Kriegsopferversorgung (KOV-VfG). Die Witwe des Dipl.-Psychologen
N. hat zwar mit Erklärung vom 25.08.2008 bestätigt, dass die Klägerin von Frühjahr 1988 bis November 1991 wegen einer "schweren
Borderline-Symptomatik" therapiert worden ist. Hinweise darauf, dass bereits damals sexueller Missbrauch und Misshandlungen
in der Kindheit als Ursache therapiert wurden, waren nicht zu erkennen.
Bei einem Borderline-Syndrom handelt es sich um eine psychische Störung, die sich zum Teil alternierend in Richtung auf eine
Neurose oder eine Psychose manifestieren kann. In Abgrenzung zur Psychose fehlen bei der neurotischen Variante echte paranoid-halluzina-torische
Episoden, katatone Symptome und schizophrene Denk- und tiefgreifende Ich-Störungen. Die Symptome werden kontrolliert und in
der Regel selbst als krankhaft empfunden. Auch bei längerem Bestehen eines Borderline-Syndroms erfolgt fast nie ein Übergang
zur Schizophrenie, jedoch kann die psychotische Variante mitunter den Eindruck einer milden, unvollständig und atypisch verlaufenden
Schizophrenie hervorrufen (Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 258. Auflage). - Für das Vorliegen eines Borderline-Syndroms
sprechen nicht nur die zahlreichen ärztlichen Unterlagen, wie sie sich vor allem in den beigezogenen Schwerbehinderten-Akten
des Beklagten befinden (vgl. vor allem versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. W. vom 29.12.2001) und die zuletzt vorgelegte
Erklärung der Witwe des Diplom-Psychologen N. vom 25.08.2008, sondern auch der Umstand, dass die Klägerin entsprechen ihrem
handschriftlichen Bericht aus dem Jahre 1992 selbst von einer langjährigen Therapie gesprochen hat, die sie selbst finanziert
und erfolgreich abgeschlossen habe.
Dies schließt es aus, allein aufgrund der wenig konkreten Angaben der Klägerin gemäß § 15 KOV-VfG einen anspruchsbegründenden Sachverhalt im Sinne von §
1 Abs.1
OEG i.V.m. §§
174 ff.
StGB als nachgewiesen zu Grunde zu legen. Vielmehr hat die Zeugeneinvernahme des Halbbruders D. ergeben, dass dieser sich nach
seinen Angaben der Klägerin nicht sexuell genähert hat. Der Senat sah keine Anhaltspunkte, die Zweifel an den Aussagen begründen.
Der Zeuge hat unbefangen und offen über seine ersten sexuellen Erfahrungen mit Mitschülerinnen berichtet. Eine Aufklärung
zu Hause habe nicht stattgefunden. Seine Freundin B. habe er mit 17 Jahren kennengelernt, als er bereits von zu Hause ausgezogen
gewesen sei.
Die in sich schlüssigen Aussagen des Zeugen D. werden von dem Senat unter anderem auch deswegen nicht angezweifelt, weil er
nicht wusste, "um welche Streitigkeiten seiner Schwester es hier geht". Dies stellt einen gewichtigen Gesichtspunkt dafür
dar, dass die unbefangenen und offenen Antworten des Zeugen D. der Wahrheit entsprechen. Außerdem hat der Zeuge zu eigenen
Lasten einen "schlimmen Vorfall" eingeräumt, da er der Klägerin einmal mit der Faust ins Gesicht geschlagen hat und diese
dabei mit dem Zahn im Mund verletzt worden ist (hierauf wird noch näher eingegangen werden).
Die Aussagen des Zeugen D. stehen auch in keinem Widerspruch zu den bekannten Lebensumständen der Familie in der maßgeblichen
Zeit. Besonders aus den Unterlagen der Schulbehörde und der aktenkundigen Aussage der Lehrerin ergeben sich keine Hinweise
auf Gewalttaten mit Verletzungen und ungewöhnlichen Verhaltensweisen. Soweit dort Stimmungsschwankungen nach einer fehlenden
ausreichenden Leistungsbereitschaft der Klägerin beschrieben worden sind, ist dies kein Indiz für das Vorliegen einer Gewalttat
im Sinne von §
1 Abs.1
OEG. Auch andere Gründe können Leistungsschwankungen in der Schule auslösen. Fehlende freundschaftliche Kontakte in der Schule,
wie sie der Zeuge betreffend seine Schwester, aber auch bei sich selbst geschildert hat, sprechen zwar für ein strenges Elternhaus,
stellen aber in dieser abstrakt geschilderten Erscheinungsform noch keinen Beweis strafrechtlich relevanter Gewalt in der
Familie dar.
Die Mutter der Klägerin hat ebenfalls keine Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung der Klägerin weder durch den Zeugen
D. noch durch Dritte schildern können. Sie könne mit 100-prozentiger Sicherheit sagen, dass sie nichts zwischen ihren Kindern
beobachtet habe, was mit einem sexuellen Missbrauch in Verbindung stehen könnte. Auch gegen ihren Ehemann habe sie keinen
Verdacht. Auch wenn der Senat den Ausführungen der Zeugin C. kritisch gegenübersteht, nicht zuletzt weil hinsichtlich der
Begleitumstände des Gespräches mit der Klägerin vor circa 15 bis 16 Jahren in A-Stadt ihre Aussage von denen des Zeugen D.
abweicht, lässt es sich aus den Ausführungen der Mutter der Klägerin jedoch nicht entnehmen, dass die Klägerin in ihrer Jugend
nachweislich sexuell traumatisiert worden ist. Allein die gesicherte Farbe der Sessel im Wohnzimmer (orange oder vergleichbarer
Farbton) genügt als Nachweis nicht. Dies gilt auch in Berücksichtigung des Umstandes, dass ausweislich des erstinstanzlich
eingeholten Gutachtens von Dr. Dr. N. vom 04.02.2007 die weit überwiegende Zahl von Probandinnen, die an ähnlichen Symptomen
leiden, in ihrer Jugend tatsächlich sexuell missbraucht worden sind. Hieraus folgt jedoch nicht der Nachweis eines anspruchsbegründenden
Sachverhalts im Sinne von §
1 Abs.1
OEG.
Für den Senat ist in diesem Zusammenhang auch von Bedeutung gewesen, dass entsprechend dem Bericht der Tagesklinik A-Stadt
vom 19.02.1988 die Klägerin im Rahmen ihrer dortigen teilstationären Behandlung die hier angeschuldigten Vorfälle nicht angesprochen
hat. Diskutiert worden sind vielmehr eine drogeninduzierte akute Psychose, die berufliche Perspektive Umschulung zur MTA,
eine gescheiterte lesbische Beziehung sowie ein Suizidversuch mit der Notwendigkeit einer vorübergehenden vollstationären
Aufnahme. Aus der Sicht des Senats wäre zu erwarten gewesen, dass etwaige sexuelle Traumatisierungen in der Familie zumindest
angesprochen worden wären, was jedoch nicht geschehen ist. Die Umstände dieser Behandlung sind daher nicht geeignet, Indizien
für die angeschuldigten Straftaten zu liefern, sind aber geeignet, Hinweise auf andere Ursachen der Erkrankung der Klägerin
zu geben.
Wenn die Klägerin des Weiteren Misshandlungen in ihrer Jugend vor allem durch die Mutter vorgetragen hat, ist ein Vorfall
begangen von Seiten des Halbbruders D. aufgrund dessen Zeugenaussage nachgewiesen: Dieser hat (wie bereits erwähnt) eingeräumt,
dass er sich an einen "schlimmen Vorfall" erinnern könne; da habe er sie mit der Faust ins Gesicht geschlagen und sie habe
sich dabei mit dem Zahn im Mund verletzt. Anlass sei nach seiner Erinnerung, dass die Klägerin das Essen in die Toilette gespült
und gegenüber der Mutter gesagt habe, er sei es gewesen. Unabhängig davon, dass die Klägerin den Vorfall durch ihr Verhalten
ursächlich mit ausgelöst hat (vgl. §
2 Abs.1
OEG), scheitert eine Leistungsbewilligung bereits an der Härteregelung §
10a Abs.1 Nr.1
OEG. Dieser Vorfall hat sich spätestens Anfang des Jahres 1976 ereignet, weil der Zeuge D. mit 15 Jahren eine Lehre als Koch
begonnen hat und ab diesem Zeitpunkt nur alle paar Wochen zu Hause gewesen ist. Wenn zwischen der Klägerin und ihrem Halbbruder
"die Fetzen geflogen sind", muss dies folglich vor dem Stichtag 15.05.1976 geschehen sein. Allein infolge dieser Schädigung
ist die Klägerin zweifelsfrei nicht schwerbeschädigt im Sinne von §
10a Abs.1 Nr.1
OEG.
Ausweislich des Gutachtens von Dr. Dr. N. vom 14.02.2007 hat die Klägerin auch Flashbacks daran, dass sie von ihrer Mutter
in einem Eimer mit Putzwasser mit dem Kopf nach unten hineingedrückt worden ist. An der Badewanne sei dies passiert. Sie sei
bei dieser Situation in der Badewanne etwa sieben Jahre alt gewesen. Außerdem habe die Mutter ihr auch eines Tages heißen
Kaffee über den Kopf geschüttet und zu ihr gesagt, "er ist mir zu kalt". Im Übrigen habe die Mutter häufig den Spruch gebraucht
"Dich hätte man schon im ersten Badewasser ersäufen sollen". Wenngleich die Zeugin C. entsprechendes in der mündlichen Verhandlung
vom 27.08.2009 weit von sich gewiesen hat, hat sie dennoch eine "strenge Erziehung" dergestalt eingeräumt, dass es schon mal
Ohrfeigen bei Ungezogenheiten gegeben habe.
Die Würdigung der Flashbacks der Klägerin einerseits und die Aussage der Zeugin C. andererseits ergibt in der Zusammenschau,
dass nicht von einer Misshandlung von Schutzbefohlenen im Sinne von §
225 Abs.1
StGB nachweislich auszugehen ist. Es fehlt sowohl an einem "Quälen" als auch einem "rohen Misshandeln" oder auch an einer "böswilligen
Vernachlässigung der Fürsorgepflicht" im Sinne von §
225 Abs.1
StGB. Quälen ist das Verursachen länger dauernder oder sich wiederholender Schmerzen oder Leiden. Ein rohes Misshandeln setzt
eine gefühllose, fremde Leiden missachtende Gesinnung voraus. Eine böswillige Vernachlässigung der Fürsorgepflicht ist nur
dann gegeben, wenn aus verwerflichen, insbesondere eigensüchtigen Beweggründen gehandelt wird (Tröndle/Fischer,
Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 52. Auflage, Rz.8 ff. m.w.N.). Keine der drei alternativ genannten Voraussetzungen im Sinne von §
225 Abs.1
StGB liegen hier nachweislich vor. Vielmehr beruht die eingeräumte "strenge Erziehung" durch die Mutter mit Austeilen von "Ohrfeigen
bei Ungezogenheiten" vor allem auf dem Umstand, dass die Mutter der Klägerin über lange Jahre hinweg alleinerziehend gewesen
ist und für ihre insgesamt drei Kinder von den jeweiligen Vätern keine Unterstützung erhalten hat. Sie hat nach ihrer glaubhaften
Darstellung weder von H. D. noch vom Vater der Klägerin Unterhalt für sich oder die Kinder bekommen und ist deshalb immer
berufstätig gewesen. Auch nach der Heirat mit Herrn C. 1974 ist die familiäre Situation nicht stabiler geworden. Weder haben
sich die finanziellen Probleme noch die Probleme mit den Kindern gelöst. Beispielhaft hat die Mutter der Klägerin einen handgreiflichen
Streit zwischen ihrem Sohn und ihrem Mann geschildert, bei dem letztendlich die Glasscheibe der verschlossenen Wohnungszimmertür
eingeschlagen worden ist.
Der Senat verhehlt zwar nicht, dass der Eindruck sich nicht erinnern zu wollen oder eventuell sogar die Erinnerung verdrängt
zu haben von der Zeugin C. nicht entkräftet werden konnte, so dass der Senat es nicht ausschließt, dass über Ohrfeigen hinaus
mehr Gewalt in der Familie vorkam. Allerdings waren die Schilderungen der Klägerin, die möglicherweise aus Krankheitsgründen
nicht präziser zu erhalten sind, nicht ausreichend, um den in Rahmen des
OEG erforderlichen Nachweis zu führen. Denn wenn das Gericht trotz aller Bemühungen bei der Amtsermittlung den Sachverhalt nicht
weiter aufklären kann, gilt der Grundsatz, dass derjenige die objektive Beweislast für die Umstände trägt, zu dessen Gunsten
das Tatbestandsmerkmal (hier: vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff im Sinne von §
1 Abs.1
OEG) im Prozess wirkt (Meyer-Ladewig, Rz.6 zu §
118 SGG m.w.N.). Auch in Berücksichtigung von §
6 Abs.3
OEG i.V.m. § 15 KOV-VfG und der dort vorgesehenen Beweiserleichterung ist hier das Vorliegen eines anspruchsbegründenden Sachverhalts im
Sinne von §
1 Abs.1
OEG i.V.m. §
225 StGB allein aufgrund der vagen Angaben der Klägerin nicht ausreichend gesichert.
Aus der Sicht des Senats sprechen die oben aufgezeigten Umstände vielmehr dafür, dass die Mutter der Klägerin mit der Gesamtsituation
damals überfordert gewesen ist. Eine strafrechtlich relevante Misshandlung der Klägerin als Schutzbefohlene im Sinne von §
225 Abs.1
StGB lässt sich hieraus jedoch nicht ableiten. Zusammenfassend ist daher festzustellen, dass sich das Vorliegen eines anspruchsbegründenden
Sachverhalts im Sinne von §
1 Abs.1
OEG nicht hat nachweisen lassen.
Nach alledem ist die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 27.09.2007 zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf §§
183,
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§
160 Abs.2 Nrn. 1 und 2
SGG).