Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht im Schwerbehindertenrecht; Zumutbarkeit der Teilnahme eines an den Rollstuhl fixierten
Behinderten an öffentlichen Veranstaltungen
Tatbestand:
Streitig ist die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht (Merkzeichen
"RF").
Bei dem 1973 geborenen Kläger hatte der Beklagte bereits mit Bescheid vom 6. November 1991 einen Grad der Behinderung (GdB)
von 80 wegen folgender Behinderungen (deren verwaltungsinterne Einzel-GdB - Bewertung sich aus dem Klammerzusatz ergibt):
Sehminderung (Einzel-GdB 50) und
Muskelsystemerkrankung (Einzel-GdB 50)
sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" anerkannt. Ein Änderungsantrag
aus dem Jahr 2001, mit dem der Kläger insbesondere die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" geltend machte, blieb erfolglos (Bescheid
vom 24. Januar 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. November 2002).
Mit seinem Neufeststellungsantrag vom 28. Februar 2005 machte der Kläger die Zuerkennung der Merkzeichen "aG" und "RF" geltend,
da er in seiner Mobilität aufgrund der vorliegenden Muskeldystrophie stark eingeschränkt sei. Der Beklagte zog ein Gutachten
des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung vom 23. September 2004 sowie ein neurologisches Gutachten der Fachärztin
für Neurologie Dr. A vom 7. Oktober 2004, welches im Auftrag der zuständigen Rentenversicherung erstellt worden war, bei und
holte einen Befundbericht des Facharztes für Allgemeinmedizin Dipl.-Mediziner E vom 18. Mai 2005 ein. Nach versorgungsärztlicher
Auswertung dieser Unterlagen lehnte der Beklagte eine Änderung des Bescheides vom 6. November 1991 mit Bescheid vom 11. Juli
2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Januar 2006 ab und führte zur Begründung unter anderem aus, der Kläger
erfülle weder die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" noch des Merkzeichens "RF".
Im anschließenden Klageverfahren hat das Sozialgericht Cottbus Befundberichte des Facharztes für Innere Medizin Dr. J vom
12. Mai 2007, des Facharztes für Orthopädie Dr. T vom 4. Mai 2007, des Facharztes für Innere Medizin/Psychotherapie Dr. H
vom 11. Juni 2007 und des Facharztes für Allgemeinmedizin Dipl.-Mediziner E vom 12. Juli 2007 eingeholt.
Der als Sachverständiger bestellte Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. D hat in seinem Gutachten vom 29. Januar 2008
unter anderem ausgeführt, der Kläger leide unter einer Muskelfunktionsstörung an Schultern, Armen, Becken, Beinen und Körperstamm
im Sinne einer Muskeldystrophie, die einen Einzel-GdB von 100 bedinge. Es liege eine außergewöhnliche Gehbehinderung vor,
die Doppeloberschenkelamputierten mit der dauernden Unfähigkeit zum Tragen einer Prothese vergleichbar sei. Der Kläger könne
sich ohne fremde Hilfe und ohne große Kraftanstrengung nicht fortbewegen. Er sei dauerhaft außer Stande, an öffentlichen Veranstaltungen
teilzunehmen, er könne keinen Rollstuhl benutzen, auch aufgrund der gestörten Körperstatik nicht längere Zeit frei sitzen.
Durch Urteil vom 7. Oktober 2008 hat das Sozialgericht, nachdem es in der mündlichen Verhandlung den Sachverständigen ergänzend
befragt hat, der Klage stattgegeben und den Beklagten verurteilt, einen GdB von 100 sowie das Vorliegen der Voraussetzungen
der Merkzeichen "aG" und "RF" ab 28. Februar 2005 festzustellen. Zur Begründung hat es sich im Wesentlichen auf das Gutachten
des Sachverständigen Dr. D gestützt.
Gegen das ihm am 3. November 2008 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 25. November 2008 Berufung hinsichtlich der Zuerkennung
des Merkzeichens "RF" eingelegt. Zur Begründung führt er u. a. aus, seiner Auffassung nach lägen die gesundheitlichen Voraussetzungen
für das Merkzeichen "RF" nicht vor. Der Kläger sei nicht generell von der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen.
Wenn auch unter Schwierigkeiten, sei es dem Kläger möglich und zumutbar, in Begleitung mit Hilfe eines Rollstuhls bestimmte
Veranstaltungen zu besuchen. Der Dipl.-Mediziner E beschreibe in seinem Befundbericht vom 12. Juli 2007 regelmäßige Praxisbesuche
des Klägers. Der Kläger wohne in Cottbus und habe den Begutachtungstermin in Lübben wahrgenommen. Er sei von seinem Vater
mit dem Pkw dort hingefahren worden. Der Gutachter beschreibe ausführlich die großen Anstrengungen des Klägers, um vom Auto
in den Untersuchungsraum zu gelangen. Diese Einschränkungen würden durch den GdB von 100 und die Merkzeichen "B", "G" und
"aG" ausreichend gewürdigt. Der Gutachter führe unter anderem aus, der Kläger könne keinen Rollstuhl benutzen, da er diesen
allein nicht bedienen könne und die gestörte Körperstatik kein längeres freies Sitzen zulasse. Dies sei jedoch mit einem speziellen
Rollstuhl, der den Bedürfnissen des Klägers weitgehend angepasst worden sei, und in Begleitung durchaus möglich. Des Weiteren
habe der Kläger am 7. Oktober 2008 an der fast 90-minütigen mündlichen Verhandlung teilgenommen. Der Begriff "ständig nicht
teilnehmen können" bedeute bereits seinem Wortsinn nach, dass eine Teilnahme auf Dauer nicht möglich sein dürfe. Die Voraussetzungen
für die Gebührenbefreiung seien auch dann zu verneinen, wenn der schwerbehinderte Mensch öffentliche Veranstaltungen mit Hilfe
von Begleitpersonen oder mit technischen Hilfsmitteln (z.B. Rollstuhl) in zumutbarer Weise besuchen könne. Es werde in diesem
Zusammenhang darauf hingewiesen, dass es auch für Erkrankungen wie die des Klägers spezielle Möglichkeiten für eine körpergerechte
Versorgung mit einem Rollstuhl gebe. Durch Orthopädiewerkstätten könnten für Betroffene Rollstühle mit Sitzschalen und Haltesystemen
individuell angepasst werden. Diese Systeme würden für eine korrekte Körperstatik sorgen und das Vorfallen oder Verbiegen
des Oberkörpers nach vorn bzw. zur Seite verhindern. Ein Abstützen des Oberkörpers durch den Kläger wäre bei entsprechend
ausgestattetem Rollstuhl nicht notwendig. Nicht ersichtlich sei, dass im Falle des Klägers eine Versorgung mit entsprechendem
Haltesystem und Sitzschale nicht möglich sei. Ein ständiger Ausschluss von öffentlichen Veranstaltungen liege nach der Rechtsprechung
des Bundessozialgerichts (BSGE 53, 175, 180 ff.; SozR 3-3870 § 4 Nr. 2) nur dann vor, wenn der schwerbehinderte Mensch wegen seines Leidens ständig, d.h. allgemein
und umfassend von der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen sei, was einer Bindung an das Haus gleichkomme.
Diese Voraussetzungen lägen beim Kläger nicht vor.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 7. Oktober 2008 insoweit aufzuheben, als damit die Voraussetzungen für das Merkzeichen
"RF" festgestellt worden sind, und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil auch hinsichtlich der Zuerkennung des Merkzeichens "RF" für zutreffend.
Mit Bescheid vom 24. November 2008 hat der Beklagte dem Kläger das Merkzeichen "B" ab 28. Februar 2005 gewährt; mit Ausführungsbescheid
vom 25. November 2008 hat der Beklagte dem Kläger vorbehaltlich des Ausgangs des Berufungsverfahrens einen GdB von 100 sowie
die Merkzeichen "aG und "RF" gewährt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes im übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der
Schwerbehindertenakte des Beklagten (Gz. ...) verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung hat keinen Erfolg. Sie ist zwar zulässig, insbesondere ist sie statthaft sowie form- und fristgerecht erhoben.
Sie ist aber nicht begründet, denn das Sozialgericht Cottbus hat den Beklagten zu Recht verurteilt bei dem Kläger die gesundheitlichen
Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" festzustellen; der Kläger hat als Schwerbehinderter einen Anspruch
auf Befreiung von der Rundfunkgebühr, denn er ist ständig gehindert an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen.
Zu Recht hat das Sozialgericht den Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "RF" als
streitgegenständlich angesehen, obwohl in offener Klagefrist mit Schriftsatz vom 15. Februar 2006, bei Gericht eingegangen
am 16. Februar 2006, zunächst nur ein Verpflichtungsantrag im Hinblick auf die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens
"aG" gestellt worden war. Durch den in diesem Schriftsatz enthaltenen umfassenden Anfechtungsantrag im Hinblick auf den Bescheid
vom 11. Juli 2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 18. Januar 2006 kommt ausreichend sicher zum Ausdruck, dass
der gesamte Regelungsinhalt dieses Bescheides zur gerichtlichen Überprüfung gestellt werden sollte. Damit begegnet es prozessual
keinen Bedenken, dass der Kläger seinen Antrag auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "RF"
erst nach Akteneinsicht im Schriftsatz vom 26. April 2006, bei Gericht eingegangen am 28. April 2006, konkretisiert hat.
Nach §
69 Abs.
1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (
SGB IX) stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und
den Grad der Behinderung fest. Sind neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für
die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen, so treffen sie auch insoweit die erforderlichen Feststellungen (§
69 Abs.
4 SGB IX).
Die Voraussetzungen der Vergabe des Merkzeichens "RF" sind gemäß §
69 Abs.
5 SGB IX in Verbindung mit § 3 Abs. 1 Nr. 5 der Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV) landesrechtlich im Land Brandenburg durch § 6 Abs. 1 Nr. 8 des Rundfunkgebührenstaatsvertrags geregelt. Danach werden auf Antrag von der Rundfunkgebührenpflicht schwerbehinderte Menschen
befreit, deren Grad der Behinderung nicht nur vorübergehend wenigstens 80 beträgt und die wegen ihres Leidens an öffentlichen
Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können. Dabei hat der Senat keine Bedenken, die betreffenden Vorschriften anzuwenden
und als gültige Anspruchsnorm für das Begehren des Klägers anzusehen. Zwar wird vereinzelt die Auffassung vertreten, die landesrechtlichen
Regelungen über die Rundfundgebührenbefreiung aus gesundheitlichen Gründen würden nicht der bundesrechtlichen Ermächtigungsnorm
(hier §
126 Abs.
1 SGB IX) entsprechen, weil ein durch Gebührenbefreiung ausgleichbarer Mehraufwand behinderter Rundfunk- und Fernsehteilnehmer nicht
mehr vorhanden sei, da der überwiegende Teil der deutschen Bevölkerung - völlig unabhängig von Behinderungen - nahezu vollständig
Rundfunk höre und fernsehe (so LSG Hamburg, Urteil vom 8. August 2006, Az. L 4 SB 22/05, zitiert nach iuris). Indessen überzeugt diese Ansicht nicht (so im Wesentlichen auch: Bundessozialgericht - BSG -, Urteil
vom 08. November 2007, Az. B 9/9a SB 3/06 R, zitiert nach iuris), da fraglich sein dürfte, ob die Gewährung von Merkzeichen
nicht mehr auf Integration der Behinderten ausgelegt ist als auf Kompensation des behinderungsbedingten Nachteils.
Im Interesse der Gleichbehandlung aller behinderten Menschen erfolgte im Schwerbehindertenrecht bis zum 31. Dezember 2008
die konkrete Prüfung grundsätzlich nach Maßgabe der in den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen
Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (AHP, herausgegeben vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale
Sicherung, aktuelle Ausgabe: 2008) niedergelegten Maßstäben. Diese waren zwar kein Gesetz und auch nicht aufgrund einer gesetzlichen
Ermächtigung erlassen. Es handelte sich jedoch bei ihnen um eine auf besonderer medizinischer Sachkunde beruhende Ausarbeitung,
die die möglichst gleichmäßige Anwendung dieser Maßstäbe im gesamten Bundesgebiet zum Ziel hatte. Die AHP engten das Ermessen
der Verwaltung ein, führten zur Gleichbehandlung und waren deshalb auch geeignet, gerichtlichen Entscheidungen zugrunde gelegt
zu werden. Gibt es solche anerkannten Bewertungsmaßstäbe, so ist nach der Rechtsprechung grundsätzlich von diesen auszugehen
(BSG, Urteil vom 18. September 2003, BSGE 91, 205 = SozR 4-3250 § 69 Nr. 2 Rdn. 18). Deshalb stützt sich der erkennende Senat für Sachverhalte bis zum 31. Dezember 2008 auf
die genannten AHP. Mit Wirkung ab 01. Januar 2009 hat der Bundesminister für Arbeit und Soziales im Einvernehmen mit dem Bundesminister
der Verteidigung auf Grund des § 30 Bundesversorgungsgesetzes eine Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des §
30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV) erlassen (BGBl. Teil
I, Nr. 57 vom 15. Dezember 2008; Drucksache 767/08). Gemäß § 2 VersMedV sind in der Anlage zu dieser Verordnung Grundsätze
und Kriterien festgelegt; diese treten ab 01. Januar 2009 an die Stelle der Anhaltspunkte. Auf Sachverhalte ab dem 01. Januar
2009 wendet der Senat daher im Bereich des Schwerbehindertenrechts grundsätzlich die genannte - im Wesentlichen inhaltsgleiche
- Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung an.
Für die Auslegung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "RF" wendet der Senat die in Nr. 33, S. 141 f dargelegten
Festlegungen der AHP 2005 weiterhin an, auch wenn die Nr. 33 in den Anhaltspunkten 2008 nicht mehr aufgeführt ist und auch
keine Aufnahme in die Versorgungsmedizin-Verordnung gefunden hat. Einzig eine weitere Anwendung gewährleistet jedoch die notwendige
gleichmäßige Anwendung dieser Maßstäbe im gesamten Bundesgebiet.
Auch wenn die Feststellung der Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht nicht mehr den Sozialbehörden obliegt, ändert dies
nichts daran, dass die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden das Vorliegen der gesundheitlichen
Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen nach §
69 Abs.
4 SGB IX festzustellen haben.
Nach Nr. 33 der Anhaltspunkte 2005 sind die Voraussetzungen immer erfüllt bei behinderten Menschen
- bei denen schwere Bewegungsstörungen - auch durch innere Leiden (schwere Herzleistungsschwäche, schwere Lungenfunktionsstörung)
- bestehen und die deshalb auf Dauer selbst mit Hilfe von Begleitpersonen oder mit technischen Hilfsmitteln (z.B. Rollstuhl)
öffentliche Veranstaltungen in zumutbarer Weise nicht besuchen können,
- die durch ihre Behinderung auf ihre Umgebung abstoßend oder störend wirken (z. B. durch Entstellung, Geruchsbelästigung
bei unzureichend verschließbarem Anus praeter, häufige hirnorganische Anfälle, grobe unwillkürliche Kopf- und Gliedmaßenbewegungen
bei Spastikern, laute Atemgeräusche, wie sie etwa bei Asthmaanfällen und nach Tracheotomie vorkommen können),
- mit - nicht nur vorübergehend - ansteckungsfähiger Lungentuberkulose,
- nach Organtransplantation, wenn über einen Zeitraum von einem halben Jahr hinaus die Therapie mit immunsuppressiven Medikamenten
in einer so hohen Dosierung erfolgt, dass dem Betroffenen auferlegt wird, alle Menschenansammlungen zu meiden,
- geistig oder seelisch behinderte Menschen, bei denen befürchtet werden muss, dass sie beim Besuch öffentlicher Veranstaltungen
durch motorische Unruhe, lautes Sprechen oder aggressives Verhalten stören.
Dieser Personenkreis muss allgemein von öffentlichen Zusammenkünften ausgeschlossen sein. Es genügt nicht, dass sich die Teilnahme
an einzelnen, nur gelegentlich stattfindenden Veranstaltungen bestimmter Art verbietet. Behinderte Menschen, die noch in nennenswertem
Umfang an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen können, erfüllen die Voraussetzungen nicht.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sind als öffentliche Veranstaltungen Zusammenkünfte politischer,
künstlerischer, wissenschaftlicher, kirchlicher, sportlicher, unterhaltender und wirtschaftlicher Art zu verstehen, die länger
als 30 Minuten dauern. Öffentliche Veranstaltungen sind damit nicht nur Ereignisse kultureller Art, sondern auch Sportveranstaltungen,
Volksfeste, Messen, Märkte und Gottesdienste (vgl. BSG, Urteil vom 12. Februar 1997 Az. 9/9a RVs 2/96, SozR 3-3780 § 4 Nr. 17; Urteil vom 10. August 1993, Az. 9/9a RVs 7/91, SozR 3-3870 § 48 Nr. 2; Urteil vom 17. März 1982, Az. 9a/9 RVs 6/81, SozR 3870 § 3 Nr. 15 = BSGE 53, 175). Die Unmöglichkeit der Teilnahme an solchen Veranstaltungen ist nur dann gegeben, wenn der Schwerbehinderte wegen seines
Leidens ständig, d.h. allgemein und umfassend, vom Besuch ausgeschlossen ist, also allenfalls an einem nicht nennenswerten
Teil der Gesamtheit solcher Veranstaltungen teilnehmen kann. Bei der vom BSG vertretenen Auslegung muss der Schwerbehinderte
praktisch an das Haus gebunden sein, um seinen Ausschluss an öffentlichen Veranstaltungen begründen zu können. Es kommt nicht
darauf an, ob jene Veranstaltungen, an denen er noch teilnehmen kann, seinen persönlichen Vorlieben, Bedürfnissen, Neigungen
und Interessen entsprechen. Sonst müsste jeder nach einem anderen, in sein Belieben gestellten Maßstab von der Rundfunkgebührenpflicht
befreit werden. Das wäre mit dem Gebührenrecht nicht vereinbar, denn die Gebührenpflicht selbst wird nicht bloß nach dem individuell
unterschiedlichen Umfang der Sendungen, an denen die einzelnen Teilnehmer interessiert sind, bemessen, sondern nach dem gesamten
Sendeprogramm. Mit dieser sehr engen Auslegung soll gewährleistet werden, dass der Nachteilsausgleich "RF" nur Personengruppen
zugute kommt, die den gesetzlich ausdrücklich genannten Schwerbehinderten (Blinden und Hörgeschädigten) und den aus wirtschaftlicher
Bedrängnis sozial Benachteiligten vergleichbar sind.
Auch wenn nach der zitierten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts praktisch eine Bindung ans Haus bestehen muss, um den
Ausschluss von öffentlichen Veranstaltungen zu begründen, kann dies nicht bedeuten, dass alle nur denkbaren rehabilitationstechnischen
Möglichkeiten zum Verlassen des Hauses, über die der Schwerbehinderte gar nicht verfügt, in Betracht gezogen werden müssen,
um zu belegen, dass der Schwerbehinderte entgegen seinen tatsächlichen Möglichkeiten und seinem nachvollziehbar begründeten
entgegenstehenden Willen doch an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen kann. Ein solches Verständnis wäre mit den Grundrechten
des Behinderten nicht vereinbar.
Dem Beklagten ist im Grundsatz zuzustimmen, wenn er ausführt, dass die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" nicht in Betracht
kommt, wenn der Betroffene mit Hilfsmitteln an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen kann. Dies bedarf z.B. hinsichtlich
querschnittsgelähmter Rollstuhlfahrer, die in der Lage sind, sich mit ihrem Hilfsmittel selbständig zu bewegen, weil ihre
übrigen Körperfunktionen nicht beeinträchtigt sind, keiner weiteren Begründung.
Anders ist die Rechtslage jedoch dann, wenn der Betroffene nur in einem Rollstuhl fixiert an öffentlichen Veranstaltungen
teilnehmen kann. Die Situation eines so schwer behinderten Menschen ist mit der eines "normalen" Rollstuhlfahrers nicht zu
vergleichen. Denn er ist den verschiedensten Umwelteinwirkungen auf einer öffentlichen Veranstaltung praktisch hilflos ausgeliefert.
Er kann seinen Blickwinkel auf das Dargebotene nicht selbständig verändern, kann Gefahren oder Belästigungen nicht ausweichen,
kann sich zur Verrichtung der Notdurft nicht entfernen und ist neugierigen oder gar belästigenden Blickkontakten ohne die
Möglichkeit des Ausweichenkönnens ausgesetzt. Besteht eine solche ausgesprochen eingeschränkte Möglichkeit der Teilnahme an
öffentlichen Veranstaltungen, so vermag diese objektiv bestehende Teilnahmemöglichkeit die Zumutbarkeit des Besuchs der Veranstaltung
für den Behinderten nicht zu begründen. In einem Grenzbereich, in dem es trotz der Funktion des Schwerbehindertenrechts, die
Eingliederung behinderter Menschen zu fördern und nicht deren Ausgrenzung, nahe liegend erscheint, dass der behinderte Mensch
zum Objekt auf ihn einwirkender äußerer Einflüsse werden kann, kann die Zumutbarkeit der Teilnahme vor dem Hintergrund der
durch Artikel
1 Grundgesetz (
GG) geschützten Menschenwürde nur subjektiv aus der Sicht des Schwerstbehinderten beurteilt werden. Zum Schutzbereich der Menschenwürde
gehört auch der Kernbereich privater Lebensgestaltung (vgl. Jarass, in: Jarass/Pieroth,
GG, Kommentar, 9. Auflage, Art.
1 Rn. 11), der hier angesichts des Fehlens von Gestaltungsmöglichkeiten des Schwerstbehinderten ohne weiteres betroffen ist,
auch wenn der Senat nicht verkennt, dass allein das Bestehen wenig würdiger Umstände noch keine Verletzung der Menschenwürde
darstellt (vgl. Jarass, aaO., Rn.6). Vorliegend hat der Bevollmächtigte des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem
Senat überzeugend dargelegt, dass der geistig wache, intelligente Kläger sich durch eine Teilnahme an einer öffentlichen Veranstaltung
zur Schau gestellt fühlt und sich daher durch eine solche "Forderung" in seinem Persönlichkeitsrecht verletzt sieht. Dem steht
nicht entgegen, dass der Kläger an der mündlichen Verhandlung in erster Instanz noch teilgenommen hat. So schaden gelegentliche,
von einem Ausnahmecharakter geprägte Veranstaltungen, die nicht ins Gewicht fallen, nach der oben zitierten Rechtsprechung
des BSG ohnehin nicht. Dieser Ausnahmetatbestand gilt ohne Zweifel für die mündliche Verhandlung vor dem Sozialgericht, an
der der Kläger im Übrigen nur unter großen Mühen teilgenommen hat.
Soweit der Beklagtenvertreter in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, dass der Kläger ja nicht gezwungen werde an öffentlichen
Veranstaltungen teilzunehmen und eine Verletzung seiner Rechte durch die restriktive Auslegung der einschlägigen Regelungen
und der Rechtsprechung durch den Beklagte schon deshalb ausgeschlossen sei, vermochte der Senat dem nicht zu folgen. Selbstverständlich
hat der Kläger für ihn negative Rechtsfolgen zu tragen, wenn ein rein objektiver Maßstab an die Zumutbarkeit der Teilnahme
an öffentlichen Veranstaltungen gelegt und deshalb eine Sozialleistung verweigert wird.
Nicht zu überzeugen vermochte auch der Einwand des Beklagtenvertreters, dass eine Zumutbarkeit der Teilnahme schon deshalb
bestehe, weil andere ebenso schwer behinderte Betroffene an öffentlichen Veranstaltungen teilnähmen. Diese Auffassung verkennt
den nach Auffassung des Senats in Grenzbereichen notwendigen Rückgriff auf notwendiger Weise subjektive Einschätzungen des
Betroffenen, wenn es um die ohnehin stark eingeschränkte Möglichkeit der Selbstverwirklichung des Schwerstbehinderten geht.
Letztlich steht auch die einen strengen Maßstab vorgebende Rechtsprechung des BSG der Auslegung des Senats nicht entgegen.
Der Senat vermag dem Beklagten nicht zu folgen, soweit er subjektive Zumutbarkeitserwägungen bei der Prüfung der gesundheitlichen
Voraussetzungen des Merzeichens "RF" für unzulässig hält. So sprechen die AHP 2005 selbst unter Nr. 33 (2) c) von "zumutbarer
Weise" und "unzumutbaren Belastungen".
Damit steht für den Senat fest, dass der Kläger selbst dann Anspruch auf die Zuerkennung des Merkzeichen "RF" hätte, wenn
er über einen mehr oder weniger maßangefertigten Rollstuhl mit Sitzschale und Haltevorrichtung verfügen würde. Der Senat ist
aber darüber hinaus der Auffassung, dass der Kläger nicht auf die Zuhilfenahme eines nicht ohne weiteres erreichbaren Hilfsmittels
(wie z.B. auf "normale Rollstühle, die in manchen Museen vorgehalten werden) verwiesen werden kann. Ist ein Hilfsmittel weder
vorhanden noch beantragt und liegt auch keine Zusage eines zuständigen Trägers vor, diese Leistung zu erbringen, so kann der
Betroffene auf die Benutzung eines solchen exklusiven Hilfsmittels nicht verwiesen werden. Denn ob der Betroffene tatsächlich
Anspruch auf das fragliche Hilfsmittel hat, ist in diesen Fällen offen. Die Prüfung der Frage kann komplizierte Rechts- und
Tatsachenfragen auf verschiedenen Gebieten des Sozialrechts aufwerfen, für die der Beklagte nicht zuständig ist und über deren
Beantwortung er nur Mutmaßungen anstellen kann. Derartige Mutmaßungen sind nicht geeignet, dem im Übrigen feststellbaren Anspruch
entgegen gehalten zu werden.
Nach diesen Grundsätzen hat das Sozialgericht den Beklagten im Ergebnis zutreffend zur Anerkennung des Nachteilsausgleichs
"RF" verurteilt, denn der Kläger ist aufgrund seiner körperlichen Beeinträchtigungen ständig daran gehindert an öffentlichen
Veranstaltungen teilzunehmen.
Nach alledem ist die Berufung zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung findet ihre Grundlage in §
193 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) und trägt dem Ausgang des Rechtsstreits Rechnung.
Die Revision ist gemäß §
160 Abs.
2 Nr.
1 SGG zuzulassen, weil die Frage, was dem Behinderten zur Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen zugemutet werden kann, grundsätzliche
Bedeutung hat.