MdE-Feststellung in der gesetzlichen Unfallversicherung in Fällen der Verschlimmerung von Unfallfolgen
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Höhe der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE).
Der 1965 geborene Kläger erlitt am 8. September 1993 einen Arbeitsunfall, indem bei Ladearbeiten eine Kartonecke gegen sein
rechtes Auge prallte, was zur Linsentrübung, Außenschielen und zu einer Überdehnung des Kammerwinkels an diesem Auge führte.
Bei dem Kläger wurde im Januar 1994 eine Hinterkammerlinse implantiert. In dem ersten Rentengutachten vom 21. Juni 1996 stellte
Dr. QQ., Chefarzt der Augenklinik des Kreiskrankenhauses AY., eine erhebliche Gesichtsfeldeinschränkung sowie einen Verlust
der Sehschärfe fest, was in Verbindung mit dem Aussehen des Sehnervenkopfes für einen Sehnervenschwund spreche. Die Sehschärfe
nach DIN 58220 betrug nach den Feststellungen des Arztes rechts 0,063 (nach Korrektur 0,16) und links 1,0 (nach Korrektur
1,0). Die MdE ab dem Untersuchungstage schätzte Dr. QQ. mit 20 v. H. ein und teilte mit, langfristig könne es sogar zu einer
Erblindung des Auges kommen.
Mit Bescheid vom 13. November 1996 stellte die Beklagte als Unfallfolgen fest, "abgelaufene Prellungsverletzung des rechten
Auges mit nachfolgender Implantation einer Hinterkammerlinse und Sehnervenschwund, dadurch bedingte Beeinträchtigung der Sehschärfe
(Visus 0,1), zeitweiligen Doppelbildwahrnehmungen, Auswärtsschielen, Gesichtsfeldeinschränkungen sowie subjektiven Restbeschwerden,"
und bewilligte dem Kläger Rente nach einer MdE von 20 v. H. ab dem 21. Juni 1996.
Im anschließenden Widerspruchsverfahren holte die Beklagte ein Gutachten der Ärzte Dr. WW. und Dr. EE. der Augenklinik der
NL.-Universität NT. vom 2. Juli 1997 ein. Diese Ärzte nahmen eine weitere Zunahme des Sehnervenschwundes am rechten Auge an.
Eine exakte Beurteilung sei derzeit aber durch die psychogene Überlagerung bei den subjektiven Testungen erschwert. Die angegebene
Visusreduktion am rechten Auge mit 0,025 sei mit den übrigen Befunden nicht vereinbar. Ausgehend von einem Gesichtsfeldradius
von etwa 30 Grad und einer tatsächlichen Sehschärfe von 0,1 wäre derzeit eine MdE von 20 v. H. angemessen.
Die Beklagte wies daraufhin den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 20. März 1998 zurück. Im Klageverfahren
vor dem Sozialgericht Kassel (S 3/U 498/98) schlossen die Beteiligten einen Vergleich, in dem sich die Beklagte verpflichtete,
Verletztenrente nach einer MdE von 20 v. H. schon ab dem 1. Januar 1996 zu zahlen.
Im Juni 2002 machte der Kläger eine Verschlechterung der Unfallfolgen geltend. Eine augenärztliche Begutachtung bei Dr. RR.
vom 22. August 2002 ergab, dass das rechte Auge wegen seiner geringen Funktion jetzt einem erblindeten Auge gleichzusetzen
sei, die MdE betrage 25 v. H. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 12. September 2002 die Gewährung einer höheren Verletztenrente
nach einer MdE von 25 v. H. ab, da eine wesentliche Änderung nicht vorliege. Der Bescheid wurde bindend.
Im Dezember 2007 bat der Kläger um Überprüfung dieser Entscheidung. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 11. Januar
2008 ab. Die Voraussetzungen für eine Rücknahme des Bescheides vom 12. September 2002 lägen nicht vor. Eine wesentliche Änderung
liege nur dann vor, wenn sich die festgestellte MdE um mehr als 5 v. H. erhöhe (§ 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Verwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - SGB X i. V. m. §
73 Abs.
3 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch - Gesetzliche Unfallversicherung -
SGB VII).
Nach erfolglosem Widerspruch (Widerspruchsbescheid vom 29. Februar 2008) hat der Kläger am 5. März 2008 zum Sozialgericht
Kassel (Sozialgericht) Klage erhoben und geltend gemacht, wenn die Unfallfolgen bereits anfänglich vorhanden gewesen wären,
hätten sie keine MdE-Toleranz erlaubt. Zudem könne sich das Auge nicht weiter verschlechtern, da es bereits einem erblindeten
Auge gleichzusetzen sei mit der Folge, dass er zu keinem Zeitpunkt die vorgesehene MdE erhalten könne. Er vertrete daher die
Auffassung, dass §
73 Abs.
3 SGB VII keine Anwendung finden dürfe, da er hierdurch dauerhaft seiner Rechte verlustig ginge. Darüber hinaus sei anerkannt, dass
der Unfallversicherungsträger zugunsten des Versichten bei geringgradiger Verschlimmerung ausnahmsweise eine Erhöhung vornehmen
könne, wenn die Verschlimmerung zu Befunden führe, die, wären sie bereits anfänglich vorhanden gewesen, keine MdE-Toleranz
erlaubt hätten, so z.B. bei der Verschlimmerung einer Sehschwäche von 20 v. H. auf Sehverlust von 25 v. H. Ausdrücklich werde
bestritten, dass die Beklagte in diesem Zusammenhang ihr Ermessen ausgeübt habe.
Das Sozialgericht hat die Beklagte mit Urteil vom 11. Juni 2010 verurteilt, dem Kläger ab dem 1. Januar 2003 eine Verletztenrente
nach einer MdE in Höhe von 25. v. H. zu gewähren. In den Gründen hat das Gericht im Wesentlichen ausgeführt, der zur Überprüfung
gestellte Bescheid der Beklagten vom 12. September 2002 sei rechtswidrig. Trotz des Wortlauts des §
73 Abs.
3 SGB VII sei hier die Rente neu nach einer MdE um 5 v. H. mehr, nämlich mit 25 v. H. festzusetzen. Es liegt eine offensichtliche Gerechtigkeitslücke
und eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes vor, wenn der Unfallverletzte, der bei der Erstfestsetzung der Verletztenrente
schon erblindet sei, sofort die MdE von 25 v. H. bekomme, während derjenige, bei dem zunächst eine MdE von 20 v. H. festzusetzen
war und der später erblindet ist, trotz identischer Unfallfolge nie in den Genuss einer Rente nach einer MdE von 25 v. H.
komme. Rechtsgrundlage für eine solche, den Gleichbehandlungsgrundsatz beachtende Herstellung der Rechte des Klägers sei §
46 SGB X, wonach die Beklagte auch rechtmäßige, nicht begünstigende Verwaltungsakte auch bei Unanfechtbarkeit für die Zukunft widerrufen
könne, außer wenn ein Verwaltungsakt gleichen Inhalts erneut erlassen werden müsste oder ein Widerruf aus anderen Gründen
unzulässig sei. Diese Voraussetzungen seien hier erfüllt. Das in der Vorschrift der Verwaltung eingeräumte Ermessen sei auf
Null reduziert, denn die Gewährung der Verletztenrente nach der tatsächlich vorliegenden MdE sei die einzig rechtmäßige Entscheidung.
Entsprechend § 44 Abs. 4 SGB X sei die Rente vier Jahre rückwirkend ausgehend vom Eingang des Antrags auf Rücknahme zu gewähren.
Gegen das ihr am 2. Juli 2010 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 12. Juli 2010 Berufung beim Hessischen Landesozialgericht
in Darmstadt eingelegt. Sie ist der Auffassung, § 46 SGB X komme als Rechtsgrundlage nicht in Betracht. Die Vorschrift beschränke sich auf die Aufhebung von Ermessensentscheidungen,
die Entscheidung über die Höhe der Verletztenrente sei indes eine gebundene Entscheidung. §
73 Abs.
3 SGB VII habe die früher durch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts geschaffenen Kriterien klar festgelegt. Dass der Gesetzgeber
den in der Literatur häufig diskutierten Fall der Augenverletzung anders geregelt wissen wollte, lasse sich daraus nicht herleiten.
Im Übrigen sei ein Widerruf nach § 46 SGB X auch nur mit Wirkung für die Zukunft zulässig.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 11. Juni 2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Zum Sach- und Streitstand im Übrigen wird auf die Gerichtsakte sowie auf die Verwaltungsakten (Band I, II, III) verwiesen,
die zum Verfahren beigezogen worden sind.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Beklagten ist erfolgreich. Das erstinstanzliche für den Kläger günstige Urteil war aufzuheben. Zu Recht hat
die Beklagte im Rahmen des von dem Kläger beantragten Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X abgelehnt, ihren Bescheid vom 12. September 2002 zurückzunehmen, mit dem sie eine Neufeststellung der Rente nach § 48 SGB X i. V. m. §
73 Abs.
3 SGB VII abgelehnt hat.
Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit
sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden
ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht
erhoben worden sind.
Bei Erlass ihres Bescheides vom 12. September 2002 hat die Beklagte weder das Recht unrichtig angewandt noch ist sie von einem
Sachverhalt ausgegangen, der sich als unrichtig erweist.
Rechtsgrundlage für den Bescheid vom 12. September 2002 ist § 48 SGB X. Nach Abs. 1 der Vorschrift ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen
Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt.
Eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse liegt hier unstreitig vor. Bezogen auf den als Vergleichsgrundlage maßgeblichen
Bescheid vom 13. November 1996 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. März 1998 liegt ein anderer Sachverhalt vor.
Zum Zeitpunkt der Begutachtung durch die Ärzte Dr. WW. und Dr. EE. der NL.-Universität NT. am 2. Juli 1997 verfügte der Kläger
noch über ein Sehvermögen mit einer Sehschärfe auf dem rechten Auge von 0,1 und auf dem linken Auge von 1,0. Nach den Richtlinien
der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG), die der Senat bei der Bewertung der MdE zu Grunde legt (vgl. die entsprechende
Tabelle in Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Auflage, S. 292) war die Einschränkung des
Sehvermögens mit einer MdE von 20 v. H. zu bewerten. Im Zeitpunkt der Begutachtung durch Dr. RR. am 22. August 2002 nach dem
Neufeststellungsantrag vom Juni 2002 war das rechte Auge einem erblindeten Auge gleichzusetzen und die MdE bei unkomplizierter
einseitiger Erblindung und uneingeschränktem Sehvermögen des zweiten Auges nach den Richtlinien der DOG (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin,
aaO., S. 293) mit 25 v. H. zu bewerten.
Diese Änderung der tatsächlichen Verhältnisse bei dem Kläger ist indes nicht wesentlich im Sinne von § 48 SGB X. Für die Unfallversicherung konkretisiert §
73 Abs.
3 SGB VII in der Fassung vom 7. August 1996, in welchen Fällen eine wesentliche Änderung der Verhältnisse bei der Bewertung der MdE
vorliegt. Die Vorschrift ist auch für Versicherungsfälle anwendbar, die wie vorliegend vor dem Tag des Inkrafttretens der
Regelung am 1. Januar 1997 eingetreten sind (§
214 Abs.
3 Satz 2
SGB VII).
§
73 Abs.
3 SGB VII bestimmt: "Bei der Feststellung der Minderung der Erwerbstätigkeit ist eine Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 des Zehnten Buches nur wesentlich, wenn sie mehr als 5 vom Hundert beträgt; bei Renten auf unbestimmte Zeit muss die Veränderung der Minderung
der Erwerbsfähigkeit länger als drei Monate andauern."
Nach den Richtlinien der DOG beträgt hier die Abweichung der MdE durch die spätere Erblindung des Klägers auf einem Auge nur
5 v. H., so dass die Voraussetzungen des §
73 Abs.
3 SGB VII nicht erfüllt sind.
Ausnahmen von dem eindeutigen Wortlaut hat der Gesetzgeber nicht vorgesehen und auch nicht übersehen. Vielmehr hat er mit
§
73 Abs.
3 SGB VII ausdrücklich die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts übernommen (vgl. BT-Drucksache 13/2204 S. 93), die bereits zu §
608
Reichsversicherungsordnung (
RVO) und zu § 622
RVO eine Änderung der MdE um nur 5 v. H. als nicht wesentlich angesehen hatte. Eine so geringe Dimension liege - so das Bundessozialgericht
- noch innerhalb der allen ärztlichen Schätzungen eigenen Schwankungsbreite, der Grad einer unfallbedingten MdE sei mithin
nicht völlig genau, sondern nur annäherungsweise feststellbar (BSG, Urteile vom 2. März 1971 - 2 RU 39/70 - und - 2 RU 300/68 - jeweils juris). An diesem auf jahrzehntelange unfallmedizinische Erfahrungen gestützten Prinzip solle nicht nur festgehalten,
sondern dieser Grundsatz noch dadurch gefestigt werden, "dass Ausnahmen hiervon nicht mehr anerkannt werden". Soweit diese
Auslegung in den - minder zahlreichen - Fällen einer Verschlimmerung von Unfallfolgen für die Verletzten eine Erschwerung
beim Erlangen einer Rentenerhöhung mit sich bringe, müsse diese Folge im Interesse der Rechtssicherheit in Kauf genommen werden
(BSG, Urteil vom 2. März 1971 - 2 RU 39/70 - juris).
Die Vorschrift §
73 Abs.
3 SGB VII, die eine Abweichung von nur 5 v. H. weder zu Lasten noch zu Gunsten des Versicherten für eine Neufeststellung ausreichend
sein lässt, verstößt nicht gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz nach Art.
3 Abs.
1 Grundgesetz (
GG).
Der allgemeine Gleichheitssatz des Art.
3 Abs.
1 GG gebietet dem Gesetzgeber, unter steter Orientierung am Gerechtigkeitsgedanken wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches
ungleich zu behandeln (vgl. BVerfG, Beschluss vom 15. Juli 1998 - 1 BvR 1554/89 - juris). Dem Gesetzgeber steht aber ein Gestaltungsspielraum zu und ihm ist nicht jede Differenzierung verwehrt. Ob eine
gesetzliche Regelung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz vereinbar ist, hängt davon ab, ob für eine durch den Gesetzgeber
getroffene Differenzierung Gründe von solchem Gewicht bestehen, dass sie die Ungleichbehandlung rechtfertigen können (BVerfG,
Beschluss vom 6. Juli 2004 1 BvL 4/97 - juris). Entsprechendes gilt hinsichtlich der Gleichbehandlung unterschiedlicher Sachverhalte. Der Gesetzgeber kann grundsätzlich
selbst diejenigen Sachverhalte auswählen, an die er dieselbe Rechtsfolge knüpfen, die er also im Rechtssinne als "gleich"
ansehen will (BVerfGE 21, 12). Zu einer unterschiedlichen Behandlung ungleicher Sachverhalte ist er nur verpflichtet, wenn die tatsächliche Ungleichheit
so groß ist, dass sie bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise nicht unberücksichtigt bleiben darf
(vgl. BVerfGE 1, 264 275 f.; BVerfGE 21, aaO.). Bei der Ordnung von Massenerscheinungen können auch typisierende und generalisierende Regelungen
notwendig sein. Dabei entstehende Härten und Ungerechtigkeiten müssen hingenommen werden, wenn die Benachteiligung nur eine
kleine Zahl von Personen betrifft und der Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht sehr intensiv ist (vgl. BVerfGE 79, 87, 100). Stehen die wirtschaftlichen Folgen einer solchen Regelung jedoch in einem Missverhältnis zu den mit der Typisierung
verbundenen Vorteilen, so genügt diese dem Maßstab des Art.
3 Abs.
1 GG nicht (vgl. BVerfGE 21, 12, 27 f.).
Nach diesen Grundsätzen verstößt §
73 Abs.
3 SGB VII nicht gegen Art.
3 Abs.
1 GG. Der Gesetzgeber hat mit der Vorschrift eine generalisierende Regelung getroffen, indem er entsprechend der früheren Rechtsprechung
des Bundessozialgerichts wegen der allen ärztlichen Schätzungen innewohnenden Schwankungsbreite generell eine Abweichung der
MdE von nur 5 v. H. als nicht wesentlich im Sinne von § 48 SGB X angesehen hat. Normadressaten sind alle Unfallrentner, bei denen sich nachträglich, d h. nach der erstmaligen Feststellung
der MdE, der Gesundheitszustand verbessert oder verschlimmert und damit auch die MdE verändert. Die Unfallrentner, die zunächst
(nur) sehbehindert sind, nachträglich auf einem Auge erblinden und bei denen sich die MdE von 20 v. H. auf 25 v. H. erhöht,
unterscheiden sich nicht maßgeblich von den übrigen Versicherten, die unter die generalisierende Regelung fallen. Die Tatsache,
dass für die unkomplizierte einseitige Erblindung bei uneingeschränktem Sehvermögen des zweiten Auges nach der Sehschärfentabelle,
die den Erfahrungen der Praxis folgt, ein MdE-Eckwert von 25 v. H. zu Grunde zu legen ist, erfordert keine abweichende Behandlung
dieser Personengruppe von den anderen Versicherten, bei denen sich die MdE auf Grund einer Verschlimmerung nur um 5 v. H.
erhöht. Denn zum einen handelt es sich bei dem MdE-Eckwert nicht um einen unumstößlichen Erfahrungsgrundsatz, der praktisch
immer anzuwenden ist. Bei Komplikationen am erblindeten Auge wie chronischen Eiterungen der Augenhöhle, Gesichtsentstellung,
Unverträglichkeit, eine Prothese zu tragen, kommt auch eine höhere MdE als 25. v. H. in Betracht (Schönberger/Mehrtens/Valentin,
aaO., S. 293) und somit auch ausgehend von einer MdE von 20 v. H. eine Neufeststellung nach den § 48 SGB X i. V. m. §
73 Abs.
3 SGB VII. Zum anderen gilt generell für die Erfahrungsgrundsätze, die bei der Schätzung der MdE zulässig herangezogen werden, dass
diese nicht starr anzuwenden sind und nur als Anhalt und Grundlage nicht mit maßgebender, sondern hinweisender Bedeutung dienen
(vgl. zu den Richtlinien bei Sehschäden Schönberger/Mehrtens/Valentin, aaO., S. 293). Die Erfahrungsgrundsätze haben nicht
den Rechtscharakter von untergesetzlichen Normen, ihnen kommt allein die Bedeutung von antizipierten Sachverständigengutachten
zu (vgl. BSG, Urteil vom 30. Juni 1998 - B 2 U 41/97 - juris). Die Folgen, die die Personengruppe der nachträglich auf einem Auge Erblindeten auf Grund der generalisierenden
Regelung in §
73 Abs.
3 SGB VII tragen müssen, stellen im Übrigen keine unverhältnismäßige Härte oder ein Missverhältnis zu den mit der Typisierung verbundenen
Vorteilen dar. Diese Personengruppe muss zwar, sofern Komplikationen und andere unfallbedingte Schäden nicht (nachträglich)
hinzukommen, hinnehmen, dass ihre MdE den Grad von 20 v. H. unter Umständen auf Dauer nicht übersteigt und sich damit ihre
Rente nicht erhöht. Eine Erschwerung beim Erlangen der Rentenerhöhung als Folge der Regelung in §
73 Abs.
3 SGB VII betrifft aber ebenso Unfallrentner mit anderen Gesundheitsstörungen und ist im Interesse der Rechtssicherheit in Kauf zu
nehmen, zumal es sich um minder zahlreiche Fälle handeln wird (vgl. BSG, Urteil vom 2. März 1971 - 2 RU 39/70 - juris).
Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts besteht auch keine Verpflichtung der Beklagten wegen einer offensichtlichen Gerechtigkeitslücke
und aus Gründen der Gleichbehandlung in dem Fall der Erhöhung der MdE wegen Augenverletzungen von 20 v. H. auf 25 v. H. entgegen
§
73 Abs.
3 SGB VII eine Änderung zu Gunsten der betroffenen Versicherten zu treffen. Das Bundessozialgericht hat zwar in seiner Entscheidung
vom 2. März 1971 (- 2 RU 300/68 - juris) ausgeführt, der Beklagten sei es trotz des Grundsatzes, dass Abweichungen um nicht mehr als 5 v. H. bei der Bewertung
der MdE außer Betracht bleiben müssen, nicht verwehrt, in Würdigung eines Einzelfalls aus Gründen der Gerechtigkeit zu Gunsten
des Klägers eine andere Entscheidung zu treffen. Abgesehen davon, dass sich daraus keine Verpflichtung der Beklagten zu einer
Zugunstenänderung ergibt, ist diese Rechtsprechung ergangen, bevor der Gesetzgeber konkretisiert hat, wann eine wesentliche
Änderung der MdE im Sinne des § 48 Abs. 1 SGB X vorliegt. Nach Inkrafttreten des §
73 Abs.
3 SGB VII ist jedenfalls kein Raum mehr für eine Zugunstenregelung durch die Verwaltung entgegen dem Gesetzeswortlaut, zumal wie oben
ausgeführt die Vorschrift dem Maßstab des Art.
3 Abs.
1 GG genügt. Entgegen der in der Literatur diskutierten Auffassung (Ricke in: Kasseler Kommentar, Band 2, Stand: 1. April 2011.
§
73 Rdnr. 14; Kranig in: Hauck,
SGB VII, § 73 Rdnr. 25) kann auch nicht § 46 SGB X als verwaltungsverfahrensrechtliches Instrumentarium für eine Zugunstenänderung herangezogen werden. Die Vorschrift regelt
den Widerruf eines rechtmäßigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes, auf den der Bürger keinen Anspruch hat, der vielmehr
im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde steht. Kein Widerruf ist die Neuregelung oder Anpassung auf Grund einer wesentlichen
Änderung der Sach- und Rechtslage (Schütze in: von Wulffen, SGB X, 7. Auflage, § 46 Rdnr. 6). Denn dieser Fall der Änderung der Verhältnisse nach Erlass der erstmaligen und bei Erlass rechtmäßigen Feststellung
der MdE wird abschließend von § 48 SGB X erfasst. Die Vorschrift § 46 SGB X hat im Wesentlichen Bedeutung nur bei Ermessensentscheidungen, bei denen die Aufhebung eines rechtmäßigen Verwaltungsaktes
aus Zweckmäßigkeitsgründen geboten sein kann (Schütze in: von Wulffen, aaO., § 46 Rdnr. 7; Steinwedel in: Kasseler Kommentar,
Band II, Stand: 1. April 2011, § 46 SGB X, Rdnr. 3). Im vorliegenden Fall liegt eine gebundene Entscheidung über die Höhe der Verletztenrente vor, die auf Grund der
seinerzeit festzustellenden tatsächlichen Verhältnisse zu treffen war. Eine Neuregelung kommt ausschließlich unter den Voraussetzungen
des § 48 Abs. 1 SGB X i. V. m. §
73 Abs.
3 SGB VII in Betracht, die hier nicht vorliegen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Der Senat hat die Revision nach §
160 Abs.
2 Nr.
1 SGG wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.