Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger einen Kostenerstattungs- und zukünftig einen Sachleistungsanspruch hinsichtlich
der Behandlung mit Alpha-Liponsäure seit dem 1. April 2004 hat.
Der 1948 geborene Kläger ist bei der Beklagten krankenversichert und leidet an einem Diabetes mellitus des Typs I mit Retinopathie
(Netzhauterkrankung) dritten Grades sowie an einer diabetischen Nephropathie (Nierenleiden) und einer Polyneuropathie (Erkrankung
mehrerer peripherer Nerven). Am 7. Mai 2004 beantragte er bei der Beklagten die Genehmigung der weiteren Verordnung von Neurium
600 seines behandelnden Arztes Dr. L., und machte geltend: Auf Grund seiner Erkrankung leide er an einem fortgeschrittenen
Taubheitsgefühl in den Beinen. Dr. L. habe ihn seit Jahren erfolgreich mit Alpha-Liponsäure in Form von Neurium 600 bzw. Thioctacid
mit einer Dosis von zweimal 600 mg täglich behandelt. Seit den Änderungen der Gesundheitsreform 2004 habe sich der behandelnde
Arzt wegen einer Regressdrohung der Beklagten außer Stande gesehen, ihn weiter mit Alpha-Liponsäure zu behandeln. Nach vier
Monaten ohne das Mittel habe sich sein gesundheitlicher Zustand verschlechtert, was die Fortsetzung der Therapie erforderlich
mache.
Die Beklagte veranlasste Dr. A. vom Medizinischen Dienst der Krankenkasse Sachsen-Anhalt (MDK) eine gutachterliche Stellungnahme
vom 25. Mai 2004 zu erstatten. Dieser teilte mit: Alpha-Liponsäure sei apothekenpflichtig, jedoch nicht rezeptpflichtig. Nach
dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz sei dieses Medikament nicht mehr zu Lasten der Krankenkasse verordnungsfähig. Die Wirksamkeit
von Neurium bzw. Tioctacid sei nicht einwandfrei erwiesen. Eine Kostenübernahme der Behandlung könne daher nicht empfohlen
werden.
Mit Bescheid vom 11. Juni 2004 lehnte die Beklagte die Kostenübernahme ab. Hiergegen legte der Kläger am 5. Juli 2004 Widerspruch
ein und verlangte die Kostenübernahme für die Alpha-Liponsäure.
Mit Widerspruchsbescheid vom 28. August 2004 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Nach §
34 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung (
SGB V) seien nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel von der Versorgung nach §
31 SGB V ausgeschlossen. Der Gemeinsame Bundesausschuss habe in den Richtlinien nach §
92 Abs.
1 Satz 2 Nr.
6 SGB V festgelegt, welche nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel, die bei der Behandlung schwer wiegender Erkrankungen als
Therapiestandard gelten, zur Anwendung bei diesen Erkrankungen ausnahmsweise ärztlich verordnet werden dürften. Das beantragte
Mittel sei von diesem Ausnahmekatalog nicht erfasst.
Hiergegen hat der Kläger am 15. Oktober 2004 beim Sozialgericht Dessau Klage erhoben und ergänzend vorgetragen: Im Gegensatz
zu den von der Beklagten angegebenen Medikamenten sei der Einsatz von Alpha-Liponsäure mit keinerlei Nebenwirkungen verbunden.
Mit Beschluss vom 22. November 2004 hat sich das Sozialgericht Dessau für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit
an das zuständige Sozialgericht Halle verwiesen.
Das Sozialgericht Halle hat einen Befundbericht vom Facharzt für Innere Medizin Dr. L. vom 28. Januar 2006 eingeholt: Der
Kläger sei bei ihm seit dem 1. Juli 1991 in Behandlung. Er habe starke Schmerzen, Kribbeln, Bohren und Brennen in den Unterschenkeln
und Füßen angegeben. Alpha-Liponsäure werde seit vier Jahrzehnten eingesetzt, entspreche dem medizinischen Standard in der
Behandlung der diabetischen Polyneuropathie und führe bei rechtzeitigem Einsatz auch zu guten Ergebnissen. Es lägen wissenschaftliche
Studien vor, die dies auch bestätigen. Der gegenteiligen Auffassung des Instituts für Evidenzbasierte Medizin (DIeM) könne
nicht gefolgt werden.
Das Sozialgericht Halle hat mit Urteil vom 9. Oktober 2006 den Antrag des Klägers auf Erstattung der ihm seit dem 1. April
2004 entstandenen Kosten für Alpha-Liponpräparate abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Nicht verschreibungspflichtige
Arzneimittel seien nach §
34 Abs.
1 Satz 2
SGB V durch den Gemeinsamen Bundesausschuss in Richtlinien festzulegen. Nach Nr. 16.3 der Arzneimittel-Richtlinien (AMR) gelte
ein Arzneimittel als Therapiestandard, wenn der therapeutische Nutzen zur Behandlung der schwerwiegenden Erkrankung dem allgemeinen
anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspreche. Dies sei dann der Fall, wenn über Qualität, Wirksamkeit und Nutzen
der Methode zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen vorlägen. Unter Bezugnahme auf die in dem Urteil des Landessozialgerichts
Baden-Württemberg vom 23. August 2005 - L 11 KR 1245/05 mitgeteilten Ermittlungen sei die Wirksamkeit von Alpha-Liponsäure wissenschaftlich nicht belegt und entspreche nicht dem
medizinischen Standard.
Der Kläger hat gegen das am 22. Januar 2007 zugestellte Urteil am 30. Januar 2007 Berufung beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt
eingelegt und ergänzend vorgetragen: Dr. L. habe in seiner Stellungnahme belegt, dass Alpha-Liponsäure die Auswirkungen der
diabetischen Polyneuropathie deutlich vermindere. Die gegenteilige Auffassung des Gemeinsamen Bundesausschusses sei nicht
nachvollziehbar. Gemäß §
31 Abs.
1 SGB V sei es ausnahmsweise in medizinisch begründeten Einzelfällen möglich, Medikamente, die von der Versorgung ausgeschlossen
seien, zu verordnen.
Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 9. Oktober 2006 und den Bescheid vom 11. Juni 2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 28. August 2004 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, über den 31. März 2004 hinaus die Kosten für selbstbeschaffte
Alpha-Liponsäure-Präparate zu erstatten und diese künftig als Sachleistung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt nach ihrem schriftlichen Vorbringen,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend. Es fehle an einem Nutzennachweis für Alphaliponsäure-Präparate.
Dies ergebe sich auch aus einer Pressemitteilung des DIeM sowie aus dem MDK-Gutachten vom 25. Mai 2004. Nach der Pressemitteilung
des DIeM vom 2. Dezember 2003 sei ein klinisch relevanter Nutzen der Anwendung von Liponsäure nicht belegt. Die vorliegenden
Studien zur angeblichen Wirksamkeit dieses Präparats wiesen erhebliche methodische Mängel auf. Auch sei der Wirkstoff außerhalb
Deutschlands in der Diabetes-Therapie praktisch bedeutungslos, während im deutschen Gesundheitssystem im Jahr 2002 hierdurch
Kosten in Höhe von 68 Millionen EUR entstanden seien.
Der Senat hat eine ergänzende Stellungnahme des Gemeinsamen Bundesausschusses vom 6. Juli 2007 eingeholt. Hiernach erfülle
der Wirkstoff Alpha-Liponsäure nicht die Voraussetzung für die Aufnahme in die AMR. Der Wirkstoff sei zur Behandlung von schwerwiegenden
Erkrankungen nicht als Therapiestandard anzusehen. Der Koordinierungsausschuss sei zu dem Ergebnis gelangt, die medikamentöse
Therapie der diabetischen Neuropathie könne mit den Wirkstoffen Amitriptylin sowie Carbamazepin als Mittel der Wahl erfolgreich
zur Behandlung der neuropatischen Schmerzen eingesetzt werden. Alpha-Liponsäure gehöre dagegen nicht zum Therapiestandard
zur Behandlung der diabetischen Neuropathie. Zu dieser Auffassung sei der Gemeinsame Bundesausschuss auch in einem Beschluss
vom 10. Mai 2007 gelangt, in dem ein Antrag eines pharmazeutischen Unternehmens auf Aufnahme Alpha-Liponsäure-haltiger nicht
verschreibungspflichtiger Arzneimittel in die Arzneimittelrichtlinie abgelehnt worden sei.
Auf Nachfrage des Berichterstatters hat der Kläger den genauen Umfang der von ihm verauslagten Kosten durch Rechnungen vom
30. August 2004 (Infusionslösung; 55,54 EUR), 8. Oktober 2004 (69,00 EUR), 2. Dezember 2004 (69,00 EUR), 3. Februar 2005 (69,00
EUR), 4. April 2005 (138,00 EUR), 6. Juli 2005 (138,00 EUR), 4. August 2005 (211,90 EUR), 13, Oktober 2005 (130,00 EUR), 7.
Februar 2006 (118,00 EUR), 2. November 2006 (89,00 EUR), 13. April 2007 (112,98 EUR), 4. Oktober 2007 (15 x Infusionslösung,
151,35 EUR) belegt.
Mit Erklärungen vom 1. März und 4. April 2008 haben sich die Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung
einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Parteien wird auf die Gerichtsakte sowie die von
der Beklagten vorgelegte Verwaltungsakte verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§
124 Abs.
2 SGG).
Die zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet. Der vom Kläger angefochtene Bescheid vom 11. Juni 2004 in Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 28. August 2004 ist rechtmäßig und verletzt ihn nicht in seinen Rechten. Die Beklagte ist weder
verpflichtet, die seit April Juni 2004 aufgewendeten Kosten nach §
13 Abs.
3 SGB V zu erstatten noch dem Kläger zukünftig diese Therapie als Sachleistung zu gewähren. Die Behandlung der diabetischen Polyneuropathie
in Tablettenform oder mittels Infusionen mit Alpha-Liponsäure unterliegt nicht der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung
und begründet auch keinen Sachleistungsanspruch. Hierbei ist zu beachten, dass ein Kostenerstattungsanspruch nach §
13 Abs.
3 SGB V nicht weiter reichen kann als der Sachleistungsanspruch selbst.
Der in §
27 Abs.
1 Satz 2 Nr.
3 und §
31 Abs.
1 SGB V normierte Anspruch des Versicherten auf Bereitstellung der für die Krankenbehandlung benötigten Arzneimittel unterliegt den
Einschränkungen der §§
2 Abs.
1 Satz 3 und
12 Abs.
1 SGB V. Er umfasst folglich nur solche Leistungen, die zweckmäßig und wirtschaftlich sind und deren Qualität und Wirksamkeit dem
allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen.
Der vom behandelnden Arzt und dem Kläger selbst behauptete Behandlungserfolg begründet keine Leistungspflicht der Beklagten.
Für die Prüfung und Entscheidung über die Qualität und Wirksamkeit eines Arzneimittels genügt es nicht, wenn die streitige
Therapie lediglich nach Einschätzung des behandelnden Arztes positiv verlaufen ist oder einzelne Ärzte sie befürwortet haben
(vgl. BSG, Urteil vom 19. Oktober 2004 - B 1 KR 27/02, zitiert nach juris).
Bei dem hier streitigen nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel muss vielmehr nach §
34 Abs.
1 Satz 2
SGB V durch den Gemeinsamen Bundesausschuss in Richtlinien zum 31. März 2004 festgelegt werden, ob dieses bei der Behandlung schwerwiegender
Erkrankungen als Therapiestandard gilt und zur Anwendung bei diesen Erkrankungen mit Begründung vom Vertragsarzt ausnahmsweise
verordnet werden darf. Nach Nr. 16.3 der Arzneimittel-Richtlinien (AMR) gilt ein Arzneimittel als Therapiestandard, wenn der
therapeutische Nutzen zur Behandlung der schwerwiegenden Erkrankung dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse
entspricht. Dies ist nach der Rechtsprechung dann der Fall, wenn über Qualität, Wirksamkeit und Nutzen der Methode zuverlässige,
wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen gemacht werden können. Der Erfolg muss sich aus wissenschaftlich einwandfrei geführten
Statistiken über die Zahl der behandelten Fälle und die Wirksamkeit der Methode ablesen lassen (vgl. BSG, Urteil vom 19. Februar 2002 - B 1 KR 16/00 R, zitiert nach juris).
Nach der ausführlichen Stellungnahme des Gemeinsamen Bundesausschusses in der Stellungnahme vom 6. Juli 2007 erfüllt der Wirkstoff
Alpha-Liponsäure nicht die Voraussetzungen für eine Aufnahme in die Arzneimittelrichtlinien, da er zur Behandlung schwerwiegender
Erkrankungen wie der Polyneuropathie nicht als Therapiestandard gilt. Für diesen Wirkstoff besteht kein Nachweis eines therapeutischen
Nutzens. Vielmehr ist für die diabetische Neuropathie der Koordinierungsausschuss nach Auswertung der verfügbaren Evidenz
zu dem Ergebnis gekommen, dass die Wirkstoffe Amitriptylin und Carbamazepin Mittel der Wahl zur Behandlung der neuropathischen
Schmerzen sind.
Dieser Bewertung folgt auch Dr. A. (MDK-Gutachten vom 25. Mai 2004) sowie das DIeM in seiner Pressemitteilung vom 2. Dezember
2003. Aufgrund dieser übereinstimmenden Bewertung des therapeutischen Standards insbesondere vom Gemeinsamen Bundesausschuss
liegen keine Anhaltspunkte vor, in weitere medizinische Ermittlungen einzutreten. Alpha-Liponsäure kann daher nicht als Therapiestandard
zur Behandlung der diabetischen Neuropathie angesehen werden.
Auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten steht dem Kläger kein Sachleistungsanspruch auf Alpha-Liponsäure und damit
auch kein entsprechender Kostenerstattungsanspruch gemäß §
13 Abs.
3 SGB V zu.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat im Wege einer verfassungskonformen Auslegung die Leistungsvorschriften des
SGB V korrigiert und Ausnahmefälle zugelassen. Nach dem Beschluss des BVerfG vom 6. Dezember 2005 (1 BvR 347/98 - BVerfGE 115, 25 ff) ist das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit betroffen, wenn der Gesetzgeber Personen einer Pflichtversicherung
unterwirft und sie gleichzeitig im Rahmen dieser Zwangsgemeinschaft nicht unerheblich einengt, ohne dass der Versicherte unmittelbaren
Einfluss auf die Gestaltung der Rechte und Pflichten des Versicherungsverhältnisses nehmen kann (BVerfGE 115, S. 25, 42 f).
Das Grundrecht aus Art.
2 Abs.
1 Grundgesetz (
GG) schützt den Versicherten daher vor einer Unverhältnismäßigkeit von Beitrag und Leistung. Eine Unverhältnismäßigkeit kann
insbesondere in Fällen in Betracht kommen, in denen der an einer lebensbedrohlichen und regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung
leidende Versicherte des staatlichen Schutzes des Lebens als Höchstwert der grundgesetzlichen Ordnung bedarf. Das BSG hat diese Vorgaben des BVerfG einschränkend interpretiert und die verfassungskonforme Auslegung der Leistungspflicht der
GKV ausschließlich auf notstandsähnliche Fälle beschränkt, in denen eine gegenwärtige lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich
verlaufende (vgl. BSG SozR 4-2500 § 31 Nr. 4 RdNr. 21 und 30 mwN - Tomudex) oder eine zumindest wertungsmäßig damit vergleichbare Erkrankung vorliegt (vgl. BSG SozR 4-2500 § 27 Nr. 7 RdNr. 31 - D-Ribose).
Im vorliegenden Fall liegt eine akut gefährdende gesundheitliche Situation des Klägers nicht vor. Vielmehr dient die Gabe
von Alpha-Liponsäure lediglich der Bekämpfung von langjährigen Empfindungsstörungen als typischer Folge einer Polyneuropathie.
Hinweise auf einen akut lebensbedrohenden Krankheitsverlauf finden sich nicht. Gegen die Annahme eines verfassungsrechtlich
begründeten Anspruchs auf eine derartige Sachleistung spricht auch, dass nach der Stellungnahme des Gemeinsamen Bundesausschusses
alternative, zugelassene Arzneimittel als Mittel der Wahl exisiteren, jedoch vom Kläger offenbar nicht eingesetzt werden.
Er leidet auch nicht an einer seltenen Erkrankung. Damit bleibt auch für die Annahme eines vom Senat bei Lorenzo`s Öl vertretenen
notstandsähnlichen Ausnahmefalles (vgl. Urteil vom 20. Juni 2007 - L 4 KR 39/06) kein Raum.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die gesetzlichen Voraussetzungen fehlen (§
160 Abs.
2 SGG).