Anspruch auf Feststellung von Zeiten der Zugehörigkeit zur zusätzlichen Altersversorgung der technischen Intelligenz der ehemaligen
DDR; Erfüllung der betrieblichen Voraussetzungen durch die Handwerkskammer des Bezirks Frankfurt/Oder
Gründe:
I
Streitig ist, ob der Kläger einen Anspruch auf Feststellung der Zeit vom 1.8.1969 bis zum 30.6.1990 als Zeit der Zugehörigkeit
zur zusätzlichen Altersversorgung der technischen Intelligenz (AVItech) sowie der während dieser Zeit erzielten Arbeitsentgelte
hat.
Der am 1947 geborene Kläger ist berechtigt, die Berufsbezeichnung "Ingenieur" zu führen (Urkunde der Ingenieurschule für Kraft-
und Arbeitsmaschinenbau in M. vom 18.7.1969). Er war zunächst (1.8.1969 bis 24.3.1977) als Betriebsingenieur bei den VEB P.
-, dann (28.3.1977 bis 30.6.1981) als Hauptschweißverantwortlicher beim VEB W., weiter (3.7.1981 bis 30.11.1981) als Bereichsingenieur
beim VEB Z. und als Bezirksstellenleiter beim K. Amt der DDR (1.12.1981 bis 14.2.1986) und schließlich (16.2.1986 bis 30.6.1990)
als Leiter des S. Zentrums (STZ) L. und Sicherheitsbeauftragter der Handwerkskammer des Bezirks (HdB) F. beschäftigt. Der
Kläger erhielt keine Versorgungszusage über die Einbeziehung in die AVItech. Seinen Antrag, Zusatzversorgungsanwartschaften
festzustellen und zu überführen, lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 22.4.2005; Widerspruchsbescheid vom 10.11.2005).
Klage und Berufung des Klägers sind erfolglos geblieben (Urteil des SG Gelsenkirchen vom 12.11.2008; Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen
vom 20.3.2012). Zur Begründung hat das Berufungsgericht im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger habe keinen Anspruch auf Feststellung
von Zugehörigkeitszeiten zu einem Zusatzversorgungssystem nach § 8 Abs 3 S 1 iVm Abs 2 und § 1 Abs 1 S 1 des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes (AAÜG) vom 25.7.1991 (BGBl I 1606, seither mehrfach geändert, zuletzt durch das Gesetz zur Änderung des
Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 19.12.2007, BGBl I 3024). Denn er falle nicht in den Geltungsbereich des § 1 Abs 1 S 1 AAÜG, weil er der AVItech weder tatsächlich noch im Wege der Unterstellung angehört habe. Zwar sei die persönliche Voraussetzung
zu bejahen, nicht aber die sachliche noch die betriebliche. Die sachliche Voraussetzung fehle, weil der Kläger am Stichtag
(30.6.1990) als Leiter des STZ L. sowie als Sicherheitsbeauftragter der HdB F. überwiegend kaufmännisch, organisierend sowie
leitend und gerade nicht als Ingenieur tätig gewesen sei. Des Weiteren erfülle der Kläger auch nicht die betriebliche Anspruchsvoraussetzung.
Gemäß dem Arbeitsvertrag vom 11.2.1986 sei Arbeitgeber die HdB F.. Dabei handele es sich weder um einen volkseigenen Produktionsbetrieb
noch um einen gleichgestellten Betrieb iS des § 1 Abs 2 der Zweiten Durchführungsbestimmung (2. DB) vom 24.5.1951 (GBl Nr
62 S 487) zur Verordnung über die zusätzliche Altersversorgung der technischen Intelligenz in den volkseigenen und ihnen gleichgestellten
Betrieben (VO-AVItech) vom 17.8.1950 (GBl Nr 93 S 844). Nichts anderes ergebe sich, wenn man - dem Kläger folgend - das STZ
L. als Beschäftigungsbetrieb ansähe. Denn dessen Hauptgegenstand seien die Durchführung von Weiterbildungsveranstaltungen
und damit klassische Dienstleistungen gewesen.
Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung der §§ 1, 5, 8 AAÜG sowie der §§
103,
128 SGG. Er sei Inhaber einer fiktiven Versorgungsanwartschaft gewesen, denn zum 30.6.1990 als auch im Zeitraum vom 1.8.1969 bis
30.6.1990 lägen die Voraussetzungen für die Einbeziehung vor. Soweit das LSG die sachliche Voraussetzung verneine, sei die
Entscheidung unschlüssig, weil es die tatsächlichen Angaben, die gegen eine Ingenieurtätigkeit sprächen, nicht einzelfallbezogen
festgestellt habe. Auch die betriebliche Voraussetzung liege vor, weil der Beschäftigungsbetrieb als eine Stätte der Aus-
und Weiterbildung und damit als technische Schule iS von § 1 Abs 2 der 2. DB anzusehen sei. Schließlich habe das LSG keinerlei
Feststellungen hinsichtlich seiner Beschäftigung in der Zeit vom 1.8.1969 bis 14.2.1986 getroffen. Im Hinblick auf den umfassend
verfolgten Feststellungsantrag (1.8.1969 bis 30.6.1990) habe das LSG damit aber wegen fehlender Ermittlung und Unterlassen
des rechtlichen Gehörs gegen die verfahrensrechtlichen Garantien der §§
103,
128 SGG verstoßen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 20. März 2012 und das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen
vom 12. November 2008 sowie den Bescheid der Beklagten vom 22. April 2005 und den Widerspruchsbescheid vom 10. November 2005
aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Zeit vom 1. August 1969 bis zum 30. Juni 1990 als Zeit der Zugehörigkeit
zum Zusatzversorgungssystem der Anlage 1 Nr 1 zum AAÜG und die hieraus erzielten Arbeitsentgelte festzustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
II
Die Revision ist unbegründet.
Zu Recht haben das LSG und das SG einen Anspruch des Klägers auf Feststellung der Zeit vom 1.8.1969 bis zum 30.6.1990 als Zeit der Zugehörigkeit zur AVItech
einschließlich der dabei erzielten Arbeitsentgelte verneint. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 22.4.2005 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.11.2005 ist rechtmäßig.
Anspruchsgrundlage für die begehrten Feststellungen ist § 8 Abs 2, Abs 3 S 1 und Abs 4 Nr 1 AAÜG. Nach § 8 Abs 3 S 1 AAÜG hat die Beklagte als Versorgungsträger für die Zusatzversorgungssysteme der Anlage 1 bis 27 (§ 8 Abs 4 Nr 1 AAÜG) dem Berechtigten durch Bescheid den Inhalt der Mitteilung nach Abs 2 aaO bekannt zu geben. Diese Mitteilung hat folgende
Daten zu enthalten (vgl BSG SozR 3-8570 § 8 Nr 7 S 38 f): Zeiten der Zugehörigkeit zu einem Zusatzversorgungssystem, das hieraus tatsächlich erzielte Arbeitsentgelt
oder Arbeitseinkommen, die Arbeitsausfalltage sowie - jedenfalls bis zum Inkrafttreten des 2. AAÜG-ÄndG am 3.8.2001 (vgl hierzu Urteil des erkennenden Senats vom 14.12.2011 - B 5 R 2/10 R - SozR 4-8570 § 7 Nr 3 RdNr 26 f) - alle Tatumstände, die erforderlich sind, um eine besondere Beitragsbemessungsgrenze
anzuwenden (§§ 6, 7 AAÜG).
Allerdings hat der Versorgungsträger diese Daten nur festzustellen, wenn das AAÜG anwendbar ist (BSG SozR 3-8570 § 1 Nr 2 S 10 und Nr 6 S 37). Den Anwendungsbereich des AAÜG, das am 1.8.1991 in Kraft trat (Art 42 Abs 8 des Gesetzes zur Herstellung der Rechtseinheit in der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung [Rentenüberleitungsgesetz
- RÜG] vom 25.7.1991, BGBl I 1606), regelt dessen seither unveränderter § 1 Abs 1. Danach gilt das Gesetz für Ansprüche und
Anwartschaften (= Versorgungsberechtigungen), die aufgrund der Zugehörigkeit zu Zusatz- und Sonderversorgungssystemen (Versorgungssysteme
iS der Anlage 1 und 2 im Beitrittsgebiet [§ 18 Abs 3 SGB IV]) erworben worden sind (S 1). Soweit die Regelungen der Versorgungssysteme
einen Verlust der Anwartschaften bei einem Ausscheiden aus dem Versorgungssystem vor dem Leistungsfall vorsahen, gilt dieser
Verlust als nicht eingetreten (S 2), so dass das AAÜG auch in diesen Fällen Geltung beansprucht.
Der Kläger wird vom persönlichen Anwendungsbereich des AAÜG nicht erfasst. Denn er hat weder einen "Anspruch" noch eine "aufgrund der Zugehörigkeit" zur AVItech "erworbene" Anwartschaft
iS von § 1 Abs 1 S 1 AAÜG noch eine fiktive Anwartschaft gemäß S 2 aaO inne. Der Ausdruck "Anspruch" umfasst in seiner bundesrechtlichen Bedeutung
das (Voll-)Recht auf Versorgung, wie die in §
194 BGB umschriebene Berechtigung, an die auch §
40 SGB I anknüpft, vom Versorgungsträger (wiederkehrend) Leistungen, nämlich die Zahlung eines bestimmten Geldbetrages zu verlangen.
Dagegen umschreibt "Anwartschaft" entsprechend dem bundesdeutschen Rechtsverständnis eine Rechtsposition unterhalb der Vollrechtsebene,
in der alle Voraussetzungen für den Anspruchserwerb bis auf den Eintritt des Versicherungs- bzw Leistungsfalls (Versorgungsfall)
erfüllt sind (BSG SozR 3-8570 § 1 Nr 6 S 38 und Nr 7 S 54).
Ausgehend von diesem bundesrechtlichen Begriffsverständnis hat der Kläger schon deshalb keinen "Anspruch" auf Versorgung iS
des § 1 Abs 1 S 1 AAÜG erworben, weil bei ihm bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes am 1.8.1991 kein Versorgungsfall (Alter, Invalidität) eingetreten
war, wie das LSG bindend (§
163 SGG) festgestellt hat. Zu seinen Gunsten begründet auch nicht ausnahmsweise § 1 Abs 1 S 2 AAÜG eine (gesetzlich) fingierte Anwartschaft ab dem 1.8.1991, weil der Kläger in der DDR nie konkret in ein Versorgungssystem
einbezogen worden war und diese Rechtsposition deshalb später auch nicht wieder verlieren konnte (vgl dazu BSG SozR 3-8570 § 1 Nr 2 S 15 und Nr 3 S 20 f, SozR 4-8570 § 1 Nr 4 RdNr 8 f).
Ob nach dem am 1.8.1991 geltenden Bundesrecht aufgrund der am Stichtag 30.6.1990 gegebenen tatsächlichen Umstände ein fiktiver
bundesrechtlicher "Anspruch auf Erteilung einer Versorgungszusage" - eine fingierte Versorgungsanwartschaft - besteht, hängt
im Bereich der AVItech gemäß § 1 VO-AVItech und der dazu ergangenen 2. DB von folgenden drei Voraussetzungen ab (vgl BSG SozR 3-8570 § 1 Nr 6 S 40 f; SozR 4-8570 § 1 Nr 9 RdNr 23), die kumulativ vorliegen müssen, 1. von der Berechtigung, eine bestimmte Berufsbezeichnung
zu führen (persönliche Voraussetzung), 2. von der Ausübung einer entsprechenden Tätigkeit (sachliche Voraussetzung), 3. und
zwar in einem volkseigenen Produktionsbetrieb im Bereich der Industrie oder des Bauwesens (§ 1 Abs 1 der 2. DB) oder in einem
durch § 1 Abs 2 der 2. DB gleichgestellten Betrieb (betriebliche Voraussetzung).
Das LSG hat das Vorliegen der persönlichen Voraussetzung bejaht und die betriebliche Voraussetzung zu Recht verneint. Ob auch
die sachliche Voraussetzung - wie das LSG meint - fehlt, kann offenbleiben.
Das LSG hat jedoch die betriebliche Voraussetzung im Bereich der Zusatzversorgung der technischen Intelligenz gemäß § 1 VO-AVItech
und der 2. DB zu Recht verneint.
Ob die betriebliche Voraussetzung iS der VO-AVItech iVm der 2. DB rechtlich erfüllt ist, bestimmt sich danach, wer am maßgeblichen
Stichtag Arbeitgeber im rechtlichen Sinne war (BSG Urteil vom 18.12.2003 - B 4 RA 20/03 R - SozR 4-8570 § 1 Nr 2 RdNr 31) und welchen Zweck dessen Betrieb tatsächlich verfolgte (vgl zum Ganzen BSG Urteil vom 15.6.2010 - B 5 RS 10/09 R - BSGE 106, 160 = SozR 4-8570 § 1 Nr 17, RdNr 32). Abzustellen ist hierbei nach ständiger Rechtsprechung des BSG gemäß den Vorgaben des Einigungsvertrags (EinigVtr) auf die tatsächlichen Gegebenheiten am 30.6.1990 (vgl ua: BSG Urteile vom 9. und 10.4.2002 - SozR 3-8570 § 1 Nr 2 bis 8). In den genannten höchstrichterlichen Entscheidungen ist zugleich darauf hingewiesen worden, dass der Bundesgesetzgeber
an die im Zeitpunkt der Wiedervereinigung vorgefundene Ausgestaltung der Versorgungssysteme in der DDR sowie an die gegebene
versorgungsrechtliche Lage der Betroffenen ohne Willkürverstoß anknüpfen und damit ua zu Grunde legen durfte, dass nur derjenige
in das Zusatzversorgungssystem der AVItech einbezogen werden durfte, der am 30.6.1990 (Zeitpunkt der Schließung der Zusatzversorgungssysteme)
in einem volkseigenen Produktionsbetrieb im Bereich der Industrie und des Bauwesens oder in einem gleichgestellten Betrieb
beschäftigt war. Art
3 Abs
1 und
3 GG gebietet nicht, von jenen zu Bundesrecht gewordenen Regelungen der Versorgungssysteme sowie von den historischen Fakten,
aus denen sich etwa Ungleichheiten ergeben, abzusehen und sie "rückwirkend" zu Lasten der heutigen Beitrags- und Steuerzahler
auszugleichen (BSG Urteil vom 7.9.2006 - B 4 RA 41/05 R - SozR 4-8570 § 1 Nr 11 RdNr 15).
Eine solche nachträgliche Korrektur der im Bereich der Zusatzversorgungssysteme am 30.6.1990 in Kraft gewesenen abstrakt-generellen
Regelungen ist daher auch insoweit unzulässig, als sie damals willkürlich waren. Mit Blick auf die Neueinbeziehungsverbote
in dem zu Bundesrecht gewordenen Rentenangleichungsgesetz der DDR (vgl Anlage II Kapitel VIII Sachgebiet F Abschnitt III Nr
8 zum EinigVtr) und im EinigVtr (vgl Anlage II Kapitel VIII Sachgebiet H Abschnitt III Nr 9 Buchst a S 1 Halbs 2 zum EinigVtr)
ist eine erweiternde Auslegung über die in § 1 Abs 1 AAÜG selbst angelegte Modifikation hinaus nicht erlaubt (Art
20 Abs
3 GG), so dass ein Analogieverbot besteht. Diese verfassungsrechtliche Wertung des BSG hat das BVerfG bestätigt (Beschluss vom 4.8.2004 - 1 BvR 1557/01 - SozR 4-8570 § 5 Nr 4 RdNr 15 f; Beschluss vom 26.10.2005 - 1 BvR 1921/04 - SozR 4-8560 § 22 Nr 1 RdNr 38 ff).
Aufgrund der tatsächlichen Feststellungen des LSG, die für das BSG bindend sind (§
163 SGG), hat der Senat davon auszugehen, dass laut Arbeitsvertrag vom 11.2.1986 Arbeitgeber des Klägers die Handwerkskammer des
Bezirks Frankfurt/Oder war. Bei ihr handelt es sich offensichtlich weder um einen volkseigenen Produktionsbetrieb der Industrie
oder des Bauwesens noch um einen gleichgestellten Betrieb. Denn Aufgabe der Handwerkskammern der Bezirke war, durch eine aktive
politisch-ideologische Arbeit mit den Genossenschaftshandwerkern, privaten Handwerkern und den in der Gewerberolle der Handwerkskammern
der Bezirke eingetragenen Gewerbetreibenden dazu beizutragen, dass diese die ihnen gestellten volkswirtschaftlichen Aufgaben
gewissenhaft erfüllen (§ 1 der Anlage zur VO über das Statut der Handwerkskammern der Bezirke vom 21.2.1973, GBl I 1973 Nr
14). Damit kommt als Arbeitgeber des Klägers das STZ nicht in Betracht. Auf die Frage, ob das STZ als "technische Schule"
iS des § 1 Abs 2 der 2. DB anzusehen ist, kommt es daher nicht an.
Soweit der Kläger bezüglich der Zeit vom 1.8.1969 bis 14.2.1986 fehlende Ermittlungen des LSG und einen Verstoß gegen das
rechtliche Gehör rügt, kann er damit keinen Erfolg haben. Denn der Kläger unterfällt zum maßgeblichen Zeitpunkt am 30.6.1990
nicht dem persönlichen Anwendungsbereich des § 1 Abs 1 AAÜG, so dass auch für die zurückliegende Zeit der Tatbestand nicht erfüllt sein kann.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.