Entschädigung wegen unangemessener Verfahrensdauer
Ablehnung eines Prozesskostenhilfeantrags
Voraussetzungen einer Überraschungsentscheidung
Gründe
I
Die Klägerin macht in der Hauptsache einen Anspruch auf eine Entschädigung in Höhe von 9177 Euro zuzüglich Prozesszinsen wegen
der unangemessenen Dauer eines vor dem SG und im Berufungsverfahren vor dem LSG Hamburg geführten Verfahrens geltend.
Das LSG als Entschädigungsgericht hat ihr für eine Verzögerung von 46 Monaten im Berufungsverfahren 4600 Euro Entschädigung
zugesprochen. Für die Entschädigung einer möglicherweise im ersten Rechtszug entstandenen Verzögerung fehle es dagegen an
einer rechtzeitig erhobenen Verzögerungsrüge. Die Klägerin habe im Ausgangsverfahren am 14.5.2010 Klage zum SG erhoben. Im Dezember 2011 sei das Ausgangsverfahren nach ihrem Vortrag bereits verzögert gewesen, weshalb sie spätestens
Ende Februar 2012 Verzögerungsrüge hätte erheben müssen. Nur dann hätte sie mit Erfolg für den Zeitraum bis zum Inkrafttreten
des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜGG) Ansprüche
geltend machen können. Ihre am 16.12.2012 erhobene Verzögerungsrüge habe mögliche Verzögerungsansprüche für das Verfahren
erster Instanz nicht mehr erhalten können, weil bereits am 30.11.2012 Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumt gewesen
sei. Die verspätete Rüge der Klägerin sei daher ins Leere gegangen. Ohnehin wäre wegen der nach der Rechtsprechung des BSG regelmäßig anzunehmenden Vorbereitungs- und Bedenkzeit von zwölf Monaten auch bei rechtzeitiger Verzögerungsrüge nach Ende
Februar 2012 keine entschädigungspflichtige Überlänge mehr verblieben.
Die Klägerin hat für die Durchführung des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens Prozesskostenhilfe (PKH) unter Beiordnung eines
Rechtsanwalts beantragt. Die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung. Zudem habe das Entschädigungsgericht verfahrensfehlerhaft
gehandelt und sei von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abgewichen.
II
Der Antrag der Klägerin auf PKH ist abzulehnen. Damit entfällt zugleich die Möglichkeit der Beiordnung eines Rechtsanwalts
im Rahmen der PKH (§
73a Abs
1 Satz 1
SGG iVm §
121 Abs
1 ZPO).
Nach §
73a Abs
1 Satz 1
SGG iVm §
114 Abs
1 Satz 1
ZPO kann einem bedürftigen Beteiligten, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung
nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, für das Verfahren vor dem BSG nur dann PKH bewilligt werden, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht
mutwillig erscheint.
Die beabsichtigte Rechtsverfolgung hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Das gegen die angefochtene Entscheidung des
Entschädigungsgerichts allein in Betracht kommende zulässige Rechtsmittel ist die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der
Revision (§
160a SGG). Die Revision darf gemäß §
160 Abs
2 SGG nur zugelassen werden, wenn einer der dort abschließend genannten Revisionszulassungsgründe vorliegt. Das ist hier nach Durchsicht
der Akten und der im PKH-Verfahren gebotenen summarischen Prüfung nicht erkennbar.
1. Es ist nicht ersichtlich, dass ein zur Vertretung vor dem BSG zugelassener Prozessbevollmächtigter (§
73 Abs
2 und
4 SGG) mit Erfolg eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§
160 Abs
2 Nr
1 SGG) darlegen könnte. Grundsätzliche Bedeutung im Sinne dieser Vorschrift hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine entscheidungsrelevante
Rechtsfrage aufwirft, die allgemein, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besitzt (BSG Beschluss vom 17.10.2018 - B 9 V 20/18 B - juris RdNr 6 mwN). Die Frage muss außerdem klärungsbedürftig sein. Ein solcher Klärungsbedarf fehlt, wenn die Antwort von vornherein praktisch
außer Zweifel steht oder bereits höchstrichterlich entschieden ist (BSG, aaO RdNr 9 mwN).
Rechtsfragen, die in diesem Sinne klärungsbedürftig sein könnten, sind hier nicht ersichtlich. Soweit die Klägerin solche
Fragen im Zusammenhang mit Art 23 ÜGG zu erkennen glaubt, erschließt sich bereits nicht, warum in Bezug auf diese Übergangsvorschrift
noch grundsätzlicher Klärungsbedarf fortbestehen sollte. Die Norm betrifft Verfahren, die im Dezember 2011 bei Inkrafttreten
des ÜGG bereits anhängig waren. Im Falle solchen Übergangsrechts ist - vergleichbar der Situation bei auslaufendem Recht -
eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nur dann gegeben, wenn noch eine erhebliche Zahl von Fällen auf der Grundlage
des Übergangsrechts zu entscheiden ist oder wenn die Überprüfung der Rechtsnorm bzw ihre Auslegung aus anderen Gründen fortwirkende
allgemeine Bedeutung hat (vgl BSG Beschluss vom 17.6.2013 - B 10 EG 6/13 B - juris RdNr 5 mwN). Dafür ist hier mehr als zehn Jahre nach Inkrafttreten des ÜGG nichts ersichtlich.
Ohnehin ist das Entschädigungsgericht der von ihm zitierten aktuellen Rechtsprechung des BSG zur Auslegung von §
198 GVG und von Art 23 ÜGG gefolgt. Das dagegen gerichtete Vorbringen der Klägerin kritisiert im Ergebnis ausschließlich die Rechtsanwendung durch
das Entschädigungsgericht, ua zur rechtzeitigen Erhebung ihrer Verzögerungsrüge aus dem Ausland. Mit diesem Vortrag ließe
sich allerdings eine Nichtzulassungsbeschwerde nicht zulässig begründen. Denn ob das Entschädigungsgericht den Einzelfall
richtig entschieden hat, ist keine Frage grundsätzlicher Bedeutung und damit nicht Gegenstand einer Nichtzulassungsbeschwerde
(vgl BSG Beschluss vom 9.6.2017 - B 9 V 88/16 B - juris RdNr 11).
2. Ferner ist nichts dafür ersichtlich, dass das Entschädigungsgericht entscheidungstragend von der Rechtsprechung des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des BVerfG abgewichen sein könnte (Zulassungsgrund gemäß §
160 Abs
2 Nr
2 SGG). Bei den dort genannten Gerichten handelt es sich um eine abschließende Aufzählung (vgl BSG Beschluss vom 30.10.2019 - B 6 KA 22/19 B - juris RdNr 5 mwN). Die pauschale Behauptung der Klägerin, das Entschädigungsgericht sei von seiner eigenen und von der gängigen Rechtsprechung
der übrigen Entschädigungsgerichte abgewichen, genügt für die Bezeichnung einer Divergenz iS des §
160 Abs
2 Nr
2 SGG - wie bereits ausgeführt - nicht. Vielmehr hat sich das Entschädigungsgericht in seinem Urteil ausdrücklich auf die Rechtsprechung
des BSG zu Art 23 ÜGG und zu §
198 GVG gestützt. Die Klägerin verkennt den Inhalt dieser Rechtsprechung, wenn sie dem Entschädigungsgericht vorhält, es habe zu
Unrecht die statistische Durchschnittsdauer von Verfahren derselben Art wie das Ausgangsverfahren unberücksichtigt gelassen.
Zwar hat das BSG in früheren Urteilen vereinzelt an die verfügbaren statistischen Zahlen über die Dauer von Verfahren vergleichbarer Art angeknüpft,
ihnen jedoch allenfalls eine indizielle, keineswegs eine entscheidende Bedeutung zugemessen. Vielmehr hat es, dem Wortlaut
des §
198 Abs
1 Satz 2
GVG entsprechend, für die Beurteilung der angemessenen Dauer des Ausgangsverfahrens entscheidend auf die Einzelfallumstände abgestellt.
Daher kann es keine allgemeine Festlegung der unangemessenen Verfahrensdauer anhand von statistischen Daten geben (BSG Beschluss vom 16.12.2013 - B 10 ÜG 13/13 B - juris RdNr 6).
Soweit die Klägerin als weitere Divergenz eine Abweichung von der Rechtsprechung des BGH zum Verbot der Überraschungsentscheidung
geltend macht, rügt sie in der Sache einen Verfahrensfehler, für den aber ebenfalls nichts ersichtlich ist (dazu sogleich).
3. Es ist nicht davon auszugehen, dass ein vor dem BSG zugelassener Prozessbevollmächtigter einen Verfahrensfehler des Entschädigungsgerichts bezeichnen könnte, der die Revisionszulassung
rechtfertigt (Zulassungsgrund gemäß §
160 Abs
2 Nr
3 SGG). Danach ist die Revision nur zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung
beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§
109 und
128 Abs
1 Satz 1
SGG (Anhörung eines bestimmten Arztes und Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des §
103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Entschädigungsgericht
ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Hierfür liegen trotz des Vortrags der Klägerin keinerlei Anhaltspunkte vor.
a) Die Klägerin sieht im Urteil des Entschädigungsgerichts eine Überraschungsentscheidung, weil dieses mit Beschluss vom 29.1.2021
den Beteiligten den Abschluss eines Vergleichs über eine Entschädigungssumme von 6000 Euro nebst Zinsen vorgeschlagen hatte,
der Klägerin in seinem späteren Urteil jedoch nur noch 4600 Euro zugesprochen hat. Wie sich indes aus dem Text des Vergleichsvorschlags
ergibt, hat das Entschädigungsgericht damit lediglich eine "überschlägige" Berechnung der Entschädigungssumme vorgenommen
und dabei ersichtlich die vom BSG in ständiger Rechtsprechung regelmäßig angenommene Vorbereitungs- und Bedenkzeit des Ausgangsgerichts außer Acht gelassen
(zB BSG Urteil vom 12.2.2015 - B 10 ÜG 11/13 R - BSGE 118, 102 = SozR 4-1720 § 198 Nr 9, RdNr 33 mwN). Da zudem die Beklagte der vorgeschlagenen Summe mit substantiierten Argumenten entgegengetreten war, konnte die Klägerin
nicht darauf vertrauen, das Entschädigungsgericht werde bei seiner streitigen Entscheidung des Verfahrens auch nach gründlicher
Prüfung an der zuvor vergleichsweise vorgeschlagenen Entschädigungssumme festhalten.
b) Die Klägerin rügt darüber hinaus als Verfahrensfehler, das Entschädigungsgericht habe ein Teilurteil über die nach ihrer
Ansicht unstreitige Entschädigung für das Berufungsverfahren erlassen müssen. Indes sind hier bereits die Voraussetzungen
für den Erlass eines Teilurteils nach §
202 Satz 1
SGG iVm §
301 ZPO zweifelhaft. Es spricht für dessen Unzulässigkeit, wenn der gesamte Rechtsstreit entscheidungsreif ist (Bolay in Berchtold,
SGG, 6. Aufl 2021, §
125 RdNr 6). Aus dem Vortrag der Klägerin ergibt sich nicht, warum eine solche Entscheidungsreife in ihrem Fall gefehlt haben sollte,
da das Entschädigungsgericht auf der Grundlage der Akten des Ausgangsprozesses entscheiden konnte. Ohnehin steht der Erlass
eines Teilurteils im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 13. Aufl 2020, §
125 RdNr 3b). Aus welchem Grund das Entschädigungsgericht insoweit seinen Ermessensspielraum überschritten haben sollte, erschließt sich
nicht.
c) Auch der von der Klägerin behauptete Verstoß gegen §
118 Abs
1 Satz 3
ZPO wegen angeblich unzureichender Vergleichsbemühungen des Entschädigungsgerichts liegt in diesem Zusammenhang schon deshalb
fern, weil das Gericht den Beteiligten sogar im Beschlusswege einen schriftlichen Vergleich über eine Entschädigungszahlung
vorgeschlagen hatte, den die Beklagte aber abgelehnt hatte.
d) Soweit die Klägerin im Übrigen mehrfach vorträgt, das Entschädigungsgericht sei von einem falschen Sachverhalt ausgegangen,
rügt sie wiederum die unrichtige Entscheidung in ihrem Verfahren. Die inhaltliche Richtigkeit der Entscheidung des Entschädigungsgerichts
im Einzelfall ist, wie ausgeführt, nicht Gegenstand einer Nichtzulassungsbeschwerde (BSG Beschluss vom 24.8.2017 - B 9 SB 24/17 B - juris RdNr 16 mwN).