Zulässigkeit der Zurückhaltung von Honorarzahlungen in der vertragsärztlichen Versorgung wegen Nichteinbehaltung der von den
Versicherten zu leistenden Zuzahlungen
Gründe:
I
Im Streit steht die Berechtigung der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV), Honorarzahlungen wegen des unterbliebenen
Einzugs der von den Versicherten nach §
28 Abs
4 SGB V zu entrichtenden Zuzahlung (sogenannte "Praxisgebühr") in den Quartalen I/2005 bis III/2005 zurückzuhalten.
Die Klägerin betreibt als Krankenhausträger in Berlin ua das vorliegend betroffene Klinikum Spandau, welches in einer Notfallambulanz
(örtlich als "Rettungsstelle" bzw "Erste-Hilfe-Stelle" bezeichnet) ambulante vertragsärztliche Leistungen erbringt. Mit undatierten,
den jeweiligen Honorarbescheiden beigefügten Bescheiden machte die Beklagte ein Zurückbehaltungsrecht bezüglich der der Klägerin
für erbrachte Notfallleistungen in den streitigen Quartalen zustehenden Honorare in Höhe der nicht einbehaltenen Zuzahlungen
nach §
28 Abs
4 SGB V geltend und hielt insgesamt (nach Teilabhilfe) 48 350 Euro zurück. Die Nichteinzugs- bzw Nichtzahlerquote im Klinikum Spandau
betrug nach den Feststellungen des LSG im Quartal I/2005 59,55 % (1628 Fälle bei einer Gesamtfallzahl von 2734 zahlungspflichtigen
Patienten), im Quartal II/2005 68,80 % (1912 Fälle bei einer Gesamtfallzahl von 2779) und im Quartal III/2005 55,60 % (1652
Fälle bei einer Gesamtfallzahl von 2971).
Widersprüche und Klage sind erfolglos geblieben (Widerspruchsbescheid vom 13.6.2006, Urteil des SG vom 13.5.2009). Im Laufe des Klageverfahrens hat die von der Beklagten angerufene Schlichtungsstelle nach § 49 Abs 1 Bundesmantelvertrag-Ärzte
([BMV-Ä] bzw § 45 Abs 1 Bundesmantelvertrag-Ärzte/Ersatzkassen [EKV-Ä]) mit Bescheiden vom 13.5.2008 festgestellt, dass die
Klägerin wegen des Nichteinzugs der "Praxisgebühr" in ihren Notfallambulanzen in den Quartalen I/2005 bis II/2007 zum Ersatz
des hieraus resultierenden Schadens in Höhe der nicht eingezogenen Zuzahlungen verpflichtet sei; die Widersprüche der Klägerin
wurden mit Widerspruchsbescheid vom 16.12.2008 zurückgewiesen. Hiergegen hat die Klägerin Klage beim SG Berlin erhoben; das
unter dem Az S 79 KA 18/09 anhängige Verfahren ruht.
Auf die Berufung der Klägerin hat das LSG das Urteil des SG vom 13.5.2009 sowie die angefochtenen Bescheide der Beklagten aufgehoben und die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 48
350 Euro nebst Zinsen ab Rechtshängigkeit zu zahlen (Urteil vom 17.11.2010). Zur Begründung hat es ausgeführt, die von der
Beklagten vorgenommene Zurückbehaltung von Honorar habe in § 18 Abs 7a Satz 1 BMV-Ä (bzw § 21 Abs 7a Satz 1 EKV-Ä) eine als solche nicht zu beanstandende Rechtsgrundlage; diese wiederum beruhe auf einer hinreichenden Ermächtigungsgrundlage
in §
43b Abs
2 Satz 4
SGB V aF und §
43b Abs
2 Satz 8
SGB V nF. Das zwischenzeitliche Außerkrafttreten von § 18 Abs 7a Satz 1 BMV-Ä (bzw § 21 Abs 7a Satz 1 EKV-Ä) führe nicht zur Rechtswidrigkeit der Zurückbehaltung. Die Vertragsparteien hätten eine Verlängerung der - ursprünglich
bis zum 31.12.2006 bestimmten - Befristung der Vorschriften bis zum 30.6.2007 vereinbart und die Befristung am 30.8.2010 mit
Wirkung ab 1.7.2007 vollständig aufgehoben. Die rückwirkende Entfristung sei statthaft. Zudem seien die streitigen Widerspruchsbescheide
noch während des ursprünglichen Geltungszeitraums ergangen. Der Tatbestand des § 18 Abs 7a Satz 1 BMV-Ä (bzw § 21 Abs 7a Satz 1 EKV-Ä) sei erfüllt.
Jedoch habe die Beklagte das Ermessen, das ihr bei der Ausübung des Zurückbehaltungsrechts hinsichtlich der Entschließung,
nicht aber in Bezug auf die Höhe des Einbehalts zustehe, nicht dem Zweck der Ermächtigung entsprechend ausgeübt. Das in §
18 Abs 7a Satz 1 BMV-Ä (bzw § 21 Abs 7a Satz 1 EKV-Ä) normierte Zurückbehaltungsrecht der KÄV diene nur der Sicherung eines im Schlichtungsverfahren nach § 49 BMV-Ä (bzw § 45 EKV-Ä) festzustellenden Schadensersatzanspruchs wegen nicht einbehaltener Zuzahlungen und habe keinen eigenen Sanktionscharakter.
Der zeitnahe Weg der Zurückbehaltung der mutmaßlichen Schadenssumme biete Schutz gegen die Insolvenz des betroffenen Leistungserbringers.
Notwendig sei die Sicherung einer Schadensersatzforderung nur dann, wenn fraglich erscheine, ob sie in Zukunft realisiert
werden könne. Hierbei sei die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des potentiellen Schuldners in den Blick zu nehmen. Daneben
habe die Ermessensentscheidung zu prognostizieren, wie erfolgreich das Regressverfahren nach § 49 BMV-Ä (bzw § 45 EKV-Ä) voraussichtlich sein werde. Die Ausübung des Zurückbehaltungsrechts sei nur zulässig, wenn eine schuldhafte Verletzung
vertragsärztlicher Pflichten im Zusammenhang mit der Nichteinbehaltung der Zuzahlung wahrscheinlich sei.
Die Beklagte habe keine Erwägungen zum Sicherungszweck der Zurückbehaltung von Honorar sowie zur Notwendigkeit der Einbehaltung
angestellt. Der Sicherungszweck hätte ganz besonders der Erwägung bedurft, weil es sich bei der Klägerin um Deutschlands größten
kommunalen Krankenhauskonzern handele. Entscheidend sei, dass die Besonderheiten von Erste-Hilfe- bzw Rettungsstellen in einem
Krankenhaus nicht hinreichend erwogen worden seien; diese unterschieden sich maßgeblich von einer herkömmlichen vertragsärztlichen
Praxis. Nach den Vorgaben in § 18 Abs 3 BMV-Ä (bzw § 21 Abs 3 EKV-Ä) könne die Zuzahlung bei akuter Behandlungsbedürftigkeit auch nach der Inanspruchnahme erhoben werden; in diesem Fall ziehe
der Leistungserbringer den Betrag nachträglich ein und quittiere die geleisteten Zuzahlungen. Die Beklagte verkenne, dass
bei Versicherten, die Erste-Hilfe- bzw Rettungsstellen aufsuchten, dem ersten Anschein nach zumeist "akute Behandlungsbedürftigkeit"
in diesem Sinne bestehen dürfte. Deshalb spreche einiges für das Vorbringen der Klägerin, dass die Besonderheiten der Notfallbehandlung
eine Einziehung der Praxisgebühr vor der Behandlung im Regelfall nicht zuließen. Schließlich komme auch den von der Beklagten
angeführten Nichteinzugsquoten nur dann eine "Indizwirkung" zu, wenn die Beklagte die tatsächlichen Nichteinzugsquoten der
Klägerin zu denen vergleichbarer Rettungsstellen ins Verhältnis gesetzt und plausibel gemacht hätte, dass und warum die Klägerin
den Begriff der akuten Behandlungsbedürftigkeit fehlinterpretiert habe. Der Anspruch auf Prozesszinsen ergebe sich aus einer
entsprechenden Anwendung der §
288 Abs
1, §
291 BGB.
Mit ihrer Revision rügt die Beklagte die Verletzung von Bundesrecht. Das Berufungsgericht habe die Entstehungsgeschichte der
bundesmantelvertraglichen Bestimmungen (§ 18 Abs 7a Satz 1 BMV-Ä bzw § 21 Abs 7a Satz 1 EKV-Ä) nicht berücksichtigt und deren Sinn und Zweck weitgehend verkannt. In der vom LSG vorgenommenen Auslegung seien die Bestimmungen
praktisch obsolet, da kaum ein Fall denkbar sei, in dem diese noch zur Anwendung gelangen könnten. Grund für die Einführung
der Bestimmungen sei eine Ende des Jahres 2004 durchgeführte Bestandsaufnahme der Bundesmantelvertragspartner gewesen, die
ergeben habe, dass die Nichtzahlerquote in den Praxen niedergelassener Ärzte bei rund 1 %, in den Notfallambulanzen der Krankenhäuser
jedoch weitaus höher gelegen habe. Das Zurückbehaltungsrecht sei keine Sanktion, aber auch kein reines Sicherungsmittel. Durch
die Ausübung des Zurückbehaltungsrechts solle Druck auf den Leistungserbringer ausgeübt werden, seiner Verpflichtung zum Einzug
der Praxisgebühr nachzukommen und sich an dem nachfolgenden Verfahren vor der Schlichtungsstelle aktiv zu beteiligen. Die
Vertragspartner der Bundesmantelverträge hätten unterstellt, dass eine Nichteinzugsquote von mehr als 10 % - dem zehnfachen
des Durchschnitts in Arztpraxen - ein Indiz dafür sei, dass ein Leistungserbringer seiner Verpflichtung zum ordnungsgemäßen
Einzug der Praxisgebühr nicht nachgekommen sei.
Die Ausübung des Zurückbehaltungsrechts setze nicht notwendiger Weise den Erlass eines Verwaltungsaktes voraus, denn sie lasse
die Honorarfestsetzung unberührt und setze beim banktechnischen Vorgang der Überweisung an; zudem handele es sich um eine
vorbereitende Maßnahme für die Durchführung des Schlichtungsverfahrens. Auch bei der Ausübung des Ermessens seien nur die
für schlicht-hoheitliches Verwaltungshandeln geltenden Anforderungen zu beachten. Weder sei eine Prognose hinsichtlich des
Ausgangs des Schlichtungsverfahrens zu stellen noch sei die Bonität der Klägerin zu berücksichtigen gewesen. Maßgeblich sei
vielmehr die besonders hohe Nichteinzugsquote in den von dieser betriebenen Erste-Hilfe-Stellen gewesen. So habe im Jahr 2005
die durchschnittliche Nichtzahlerquote bei Krankenhäusern, die die 10 %-Marke überschritten hätten, bei ca 30 % gelegen; in
den Erste-Hilfe-Stellen der Klägerin habe sie deutlich darüber und berlinweit (mit) an der Spitze gelegen. Insofern habe eine
Ermessensreduzierung auf Null vorgelegen; hätte sie - die Beklagte - das Zurückbehaltungsrecht im Falle der Klägerin nicht
ausgeübt, hätte sie es in keinem Fall ausüben können. Fehlerhaft sei auch die vom LSG ausgesprochene Zahlungsverpflichtung.
Da die Ausübung des Zurückbehaltungsrechts in ihrem - der Beklagten - Ermessen gestanden habe, hätte eine Verurteilung zur
Auszahlung nur erfolgen dürfen, wenn eine ermessensfehlerfreie Ausübung des Zurückbehaltungsrechts schlechterdings ausgeschlossen
gewesen sei; dies sei jedoch nicht der Fall.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 17.11.2010 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Berlin
vom 13.5.2009 zurückzuweisen, hilfsweise, das Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 17.11.2010 insoweit abzuändern, als die
Beklagte verurteilt worden ist, an die Klägerin 48 300 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 % über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit
zu zahlen, und insoweit die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie - die Klägerin - sei der größte Anbieter von Notfallmedizin in Berlin und versorge - zusammen mit der Charité - rund 50
% aller Notfallpatienten. Die Krankenhausambulanzen seien insbesondere an Wochenenden, nachts und an Feiertagen "erste Anlaufstelle"
für Patienten, die ihren Hausarzt dann nicht erreichen könnten. Notfallambulanzen seien außerdem Anlaufstellen der Polizei-
und Ordnungsbehörden; häufig würden bewusstlose, alkoholisierte oder aus anderen Gründen nicht ansprechbare Patienten in die
Rettungsstellen verbracht. Die Erledigung der Formalitäten könne in diesen Fällen häufig aus tatsächlichen Gründen erst nach
Erstellung der Diagnose und der medizinischen Erstbehandlung erfolgen. Viele Patienten - gerade Unfallopfer - führten weder
Papiere noch Zahlungsmittel bei sich. Rein technisch sei die Begleichung der Praxisgebühr in bar oder an ec-Zahlungsautomaten
in den Krankenhäusern möglich. Bargeldautomaten seien bis 2007 nach und nach flächendeckend eingeführt worden; zuvor sei die
Barzahlung an den zentralen Kassen des Krankenhauses möglich gewesen, dies aber nur zu den (eingeschränkten) Öffnungszeiten
der Kassen. Die Patienten seien immer auf ihre Verpflichtung zur Zahlung hingewiesen worden. In den Notfallambulanzen der
Krankenhäuser seien bis heute auffallend hohe Nichtzahlerquoten feststellbar; sie betrügen noch heute in den meisten großen
Rettungsambulanzen jedenfalls mehr als 20 %.
Die Beklagte handele bereits seit dem 1.1.2007 ohne Rechtsgrundlage, denn die maßgeblichen Vorschriften der Bundesmantelverträge
seien zum 31.12.2006 außer Kraft getreten; anschließende Verlängerungen bzw mit Rückwirkung erlassene Änderungen seien nicht
wirksam geworden. Die rückwirkend in Kraft getretene Änderung sei als "echte Rückwirkung" aus verfassungsrechtlichen Gründen
unwirksam gewesen. Auch während des Geltungszeitraums der Ermächtigungsgrundlage seien die Zurückbehaltungen rechtswidrig
gewesen. Das Zurückbehaltungsrecht sei ein Sicherungsmittel; es solle einen fälligen Anspruch dagegen absichern, infolge der
Zahlungsunfähigkeit eines Vertragspartners nicht mehr durchsetzbar zu sein. Es gestatte nicht, quasi "vorsorglich" Beträge
einzubehalten, um so das Risiko des fehlgeschlagenen Zahlungseinzugs auf die Leistungserbringer zu verlagern.
Die Beklagte dürfe das Zurückbehaltungsrecht nicht pauschal bei jedem Überschreiten der mehr oder weniger zufällig festgesetzten
Quote von 10 % ausüben, sondern nur in den Fällen, in denen offensichtlich sei, dass der Leistungserbringer schuldhaft gehandelt
und möglicherweise sogar mutwillig die Eintreibung der Praxisgebühr bei seinen Patienten boykottiert habe. Die hohen Nichtzahlerquoten
in Notfallambulanzen seien jedoch den Notfallbehandlungen immanent. Diese unterschieden sich ganz erheblich von Behandlungen
in den Praxen niedergelassener Ärzte. Es fehle die enge Arzt-Patienten-Beziehung. Zudem würden Patienten, die Notfallambulanzen
aufsuchten, von einem unerwarteten, unvorhersehbaren Krankheitsverlauf überrascht und seien deshalb nicht imstande, den Arztbesuch
"vorzubereiten". Soweit ein Einzug der Praxisgebühr nicht vor der Behandlung erfolge, liege dies daran, dass die Patienten
entweder akut behandlungsbedürftig oder nicht kommunikationsfähig seien. Die ärztliche Verpflichtung, die Patienten zu untersuchen
und überhaupt festzustellen, ob ein Notfall vorliegt, gehe der Verpflichtung zum Einzug der Zuzahlung stets vor. Der Leistungserbringer
schulde im Verfahren der Einziehung der Praxisgebühr das ordnungsgemäße Bemühen der Einziehung, nicht aber deren Erfolg. Die
besonderen Umstände der Notfallbehandlung verböten eine pauschale Übertragung von Vorgaben, die ursprünglich für den vertragsärztlichen
Bereich konzipiert worden seien. Die Quote von 10 % Nichtzahlern würde im Bereich der niedergelassenen Ärzte nur selten erreicht
oder überschritten, sodass ihr Überschreiten dort den Verdacht eines schadensersatzpflichtigen Verschuldens des Arztes nahelege.
Demgegenüber stelle der Einzug der Praxisgebühr in Notfallambulanzen ein systemimmanentes Problem dar. Somit hätte der Normgeber
den besonderen Gegebenheiten durch eine den Besonderheiten dieses Bereichs angepasste Quote entsprechen müssen.
Die Beigeladenen zu 6. und zu 7. schließen sich - ohne Anträge zu stellen - den Ausführungen der Beklagten an. Die Beigeladene
zu 7. führt ergänzend aus, es bleibe unerklärlich, warum die Praxisgebühr nicht während der Wartezeiten bzw bei Erledigung
der Formalitäten von begleitenden Angehörigen erhoben worden sei. Soweit die Patienten sich nicht in Begleitung befänden und
nicht ansprechbar seien, schließe sich in der Regel eine stationäre Behandlung an. Die übrigen Beigeladenen haben sich weder
geäußert noch Anträge gestellt.
II
Die Revision der Beklagten hat nur teilweise Erfolg. Das vorinstanzliche Urteil ist zu ändern, soweit die Beklagte zur Auszahlung
des einbehaltenen Betrages nebst Zinsen verurteilt worden ist. Die Beklagte ist vielmehr nur verpflichtet, über die Ausübung
des Zurückbehaltungsrechts der Höhe nach unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut zu entscheiden. Soweit die
Beklagte weitergehend die vollständige Zurückweisung der Berufung der Klägerin begehrt, bleibt ihre Revision ohne Erfolg.
Das LSG hat zutreffend angenommen, dass für die Ausübung des Zurückbehaltungsrechts durch die Beklagte eine den rechtlichen
Anforderungen entsprechende Rechtsgrundlage besteht, diese auf einer ausreichenden Ermächtigungsgrundlage beruht und deren
tatbestandlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Ebenso hat es im Ergebnis zutreffend entschieden, dass die Beklagte das ihr
zustehende Ermessen fehlerhaft ausgeübt hat. Allerdings hat das LSG die Beklagte zu Unrecht zur Zahlung statt zur Neubescheidung
verurteilt.
1. Gemäß §
28 Abs
4 SGB V (idF des GKV-Modernisierungsgesetzes [GMG]) leisten Versicherte, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, je Kalendervierteljahr
für jede erste Inanspruchnahme eines an der ambulanten ärztlichen, zahnärztlichen oder psychotherapeutischen Versorgung teilnehmenden
Leistungserbringers, die nicht auf Überweisung aus demselben Kalendervierteljahr erfolgt, als Zuzahlung den sich nach §
61 Satz 2
SGB V ergebenden Betrag an den Leistungserbringer. Die durch §
28 Abs
4 SGB V normierte Verpflichtung, Zuzahlungen zur ambulanten ärztlichen Behandlung zu leisten, ist verfassungsgemäß (vgl BSGE 103,
275 = SozR 4-2500 § 28 Nr 3, RdNr 18 ff). Sie gilt auch für ambulante ärztliche Behandlungen, die auf der Grundlage des §
76 Abs
1 Satz 2
SGB V in Notfällen von "anderen Ärzten" - vorliegend von der Notfallambulanz eines Krankenhauses - erbracht werden, da diese an
der ambulanten ärztlichen Versorgung teilnehmende Leistungserbringer iS des §
28 Abs
4 SGB V sind (vgl § 18 Abs 1 Satz 3 letzter Spiegelstrich BMV-Ä; s auch Noftz in Hauck/Noftz,
SGB V, Stand Juli 2011, K §
43b RdNr 24).
Der für den Einzug der "Praxisgebühr" maßgebliche Zahlungsweg wird durch §
43b SGB V (idF des GMG) bestimmt. Danach hat der Leistungserbringer Zuzahlungen, die Versicherte nach §
28 Abs
4 SGB V zu entrichten haben, einzubehalten; sein Vergütungsanspruch gegenüber der Krankenkasse, der KÄV oder Kassenzahnärztlichen
Vereinigung (KZÄV) verringert sich entsprechend (Abs
2 Satz 1 aaO). Die nach §
83 SGB V von der Krankenkasse zu entrichtenden Vergütungen verringern sich in Höhe der Summe der von den mit der KÄV oder KZÄV abrechnenden
Leistungserbringern nach Satz 1 einbehaltenen Zuzahlungen (Abs 2 Satz 2 aaO). Absatz 1 Satz 2 - dh die dort normierte Verpflichtung
der Krankenkasse zum Zahlungseinzug, wenn der Versicherte trotz einer gesonderten schriftlichen Aufforderung durch den Leistungserbringer
nicht zahlt - gilt nicht im Falle der Leistungserbringung und Abrechnung im Rahmen von Gesamtverträgen nach den §§
82 und
83 SGB V (Abs
2 Satz 3 aaO). Mit Wirkung vom 1.1.2007 (Vertragsarztrechtsänderungsgesetz vom 22.12.2006, BGBl I S 3439) wurde die Vorschrift
dahingehend ergänzt, dass in den Fällen des §
43b Abs
2 Satz 3
SGB V die KÄV (oder KZÄV) im Auftrag der Krankenkasse die Einziehung der Zuzahlung zu übernehmen hat, wenn der Versicherte trotz
einer gesonderten schriftlichen Aufforderung durch den Leistungserbringer nicht zahlt (Abs 2 Satz 4 aaO nF). Sie kann hierzu
Verwaltungsakte gegenüber den Versicherten erlassen (Abs 2 Satz 5 aaO nF). Klagen gegen Verwaltungsakte nach Satz 5 haben
keine aufschiebende Wirkung (Abs 2 Satz 6 aaO nF). Ein Vorverfahren findet nicht statt (Abs 2 Satz 7 aaO nF). Das Nähere zum
Verfahren nach den Sätzen 1 und 2 - ab 1.1.2007: nach den Sätzen 1, 2 und 4 bis 7 - ist in den Bundesmantelverträgen zu vereinbaren
(§
43b Abs
2 Satz 4
SGB V aF, §
43b Abs
2 Satz 8 Halbsatz 2
SGB V nF). In den Bundesmantelverträgen kann ein von Satz 4 abweichendes Verfahren vereinbart werden (§
43b Abs
2 Satz 8 Halbsatz 1
SGB V nF).
Gläubigerin des Anspruchs auf Zuzahlung ist damit die Krankenkasse, während die Vertragsärzte lediglich als Einzugs- bzw Inkassostelle
fungieren (BSGE 103, 275 = SozR 4-2500 § 28 Nr 3, RdNr 16); für sonstige Leistungserbringer und für die an der Einziehung beteiligten KÄVen gilt dies
entsprechend. Ausfälle gehen somit letztlich zu Lasten der Krankenkasse (BSG aaO RdNr 17). Der Vertragsarzt hat einen Versicherten, der die Praxisgebühr anlässlich einer ärztlichen Behandlung nicht
zahlt, lediglich schriftlich zur Nachentrichtung aufzufordern (§
43b Abs
2 Satz 4 Halbsatz 2
SGB V nF; s auch BSG aaO RdNr 17); bleibt diese Mahnung erfolglos, hat die KÄV im Auftrag der Krankenkasse die Einziehung der Zuzahlung zu übernehmen
(§
43b Abs
2 Satz 4 Halbsatz 1
SGB V nF).
2. Da die Leistungserbringer an der Einziehung der Praxisgebühr nicht notwendig ein eigenes wirtschaftliches Interesse haben,
haben die Vertragspartner der Bundesmantelverträge vereinbart, dass die KÄVen unter bestimmten Voraussetzungen Teile der geschuldeten
Vergütung zurückbehalten dürfen. Dieses Zurückbehaltungsrecht findet seine Rechtsgrundlage in § 18 Abs 7a BMV-Ä (bzw § 21 Abs 7a EKV-Ä). Diese Normen beruhen ihrerseits auf einer ausreichenden Ermächtigungsgrundlage und sind auch im Übrigen nicht zu beanstanden.
a. Nach § 18 Abs 7a BMV-Ä (bzw § 21 Abs 7a EKV-Ä) kann die KÄV die Differenz zwischen einzubehaltender und einbehaltener Zuzahlung zurückbehalten, wenn sich aus der Abrechnung
ergibt, dass ein Leistungserbringer in einem Quartal in 10 von Hundert oder einem höheren Anteil der Behandlungsfälle, in
denen die Zuzahlung nach §
28 Abs
4 SGB V zu erheben ist, die Zuzahlung nicht erhoben hat (jeweils Satz 1 aaO). In den Fällen, in denen die KÄV von dem Zurückbehaltungsrecht
nach Satz 1 Gebrauch macht, informiert sie die betroffenen Landesverbände der Krankenkassen bzw die Landesvertretungen der
"Ersatzkassenverbände" (jeweils Satz 2 aaO). Gleichzeitig leitet die KÄV in Abstimmung mit der zuständigen Krankenkasse ein
Verfahren nach § 49 BMV-Ä (bzw § 45 EKV-Ä) ein (jeweils Satz 3 aaO).
b. Die zitierten bundesmantelvertraglichen Regelungen haben in §
43b Abs
2 Satz 4
SGB V aF bzw in §
43b Abs
2 Satz 8
SGB V nF eine nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichende Ermächtigungsgrundlage. Die dort geregelte Ermächtigung, das "Nähere zum
Verfahren" zu regeln, umfasst auch die Berechtigung, Bestimmungen für den Fall zu treffen, dass die Leistungserbringer ihren
Verpflichtungen nicht in ausreichendem Umfang nachkommen (vgl auch Sichert in Becker/Kingreen,
SGB V, 2. Aufl 2010, §
43b RdNr 14). Nach der Gesetzesbegründung soll durch die den Vertragspartnern der Bundesmantelverträge übertragene Aufgabe, "die
Einzelheiten" bundeseinheitlich zu regeln, ein reibungsloses Verfahren zum Einzug der Praxisgebühr gewährleistet werden (Ausschussbericht
zum GMG, BT-Drucks 15/1600 S 13 zu §
43b Abs
2 Satz 4
SGB V aF). Zu diesem Zweck bedarf es auch rechtlicher bzw tatsächlicher Möglichkeiten der Vertragspartner zur Durchsetzung der
die Leistungserbringer treffenden Einzugsverpflichtung.
c. Die bundesmantelvertraglichen Regelungen über das Zurückbehaltungsrecht sind nicht allein für Vertragsärzte verbindlich,
sondern gelten auch für andere Leistungserbringer, die vertragsärztliche Leistungen erbringen. Hierzu zählen nach der Rechtsprechung
des Senats auch Krankenhäuser, die Versicherte gemäß §
76 Abs
1 Satz 2
SGB V in Notfällen wie Vertragsärzte ambulant behandeln. Krankenhäuser sind bei der Durchführung von Notfallbehandlungen nicht
allein hinsichtlich der Honorierung den Vertragsärzten gleichgestellt (vgl hierzu BSG SozR 3-2500 § 120 Nr 7 S 37 f; BSG SozR 4-2500 § 75 Nr 4 RdNr 15; BSG SozR 4-2500 § 75 Nr 8 RdNr 18), sondern unterliegen insoweit auch im Übrigen den für die ambulante vertragsärztliche Versorgung geltenden
Vorschriften. Ungeachtet ihrer Erbringung durch nicht an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmende Ärzte sind auch die
in Notfällen ambulant ausgeführten ärztlichen Leistungen Teil der vertragsärztlichen Versorgung (so ausdrücklich § 2 Abs 2 Nr 4 BMV-Ä und § 2 Abs 2 Nr 4 EKV-Ä). Zu den für die ambulante vertragsärztliche Versorgung geltenden Vorschriften gehören auch die Bundesmantelverträge nach
§
82 Abs
1 SGB V, die die gesetzliche Verpflichtung umsetzen, die vertragsärztliche Versorgung im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften und
der Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses durch schriftliche Verträge der Partner der gemeinsamen Selbstverwaltung
aus Ärzten und Krankenkassen zu regeln (§
72 Abs
2 iVm Abs
1 Satz 1
SGB V).
Einer Beteiligung der Krankenhäuser an der Vereinbarung eines Zurückbehaltungsrechts bedurfte es insoweit nicht. Der Gesetzgeber
hat die Ausgestaltung des Verfahrens zum Einzug der Zuzahlungen nach §
28 Abs
4 SGB V ausdrücklich den Vertragspartnern der Bundesmantelverträge übertragen (vgl §
43b Abs
2 Satz 4 aF, Satz 8 nF
SGB V). Dabei hat er in Kenntnis des Umstandes, dass auch Krankenhausambulanzen - in begrenztem Umfang - an der ambulanten vertragsärztlichen
Versorgung teilnehmen, keine Beteiligung der Krankenhäuser an der Normsetzung vorgesehen (zur Zulässigkeit der Geltungserstreckung
auf Dritte zur Abrundung eines Normanwendungsbereichs vgl BSG SozR 3-2500 § 88 Nr 3 S 24 mwN). Dass die Partner der Bundesmantelverträge gehindert wären, ein Zurückbehaltungsrecht der KÄVen auch zu Lasten
der Krankenhäuser zu vereinbaren, ergibt sich auch nicht aus der von den (damaligen) Spitzenverbänden der Krankenkassen, der
Deutschen Krankenhausgesellschaft und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung geschlossenen "Rahmenempfehlung zum Erheben der
Zuzahlung nach §
28 Abs.
4 SGB V (Praxisgebühr) bei ambulanten Leistungen im Krankenhaus" vom 18.12.2003, welche nach ihrem § 1 Abs 2 auf alle Fälle ambulanter
Behandlung im Krankenhaus - einschließlich der ausdrücklich genannten ambulanten Notfallbehandlungen gemäß §
76 Abs
1 Satz 2
SGB V - Anwendung findet. Wie die ausdrückliche Inbezugnahme der Bundesmantelverträge in §
1 Abs 2 Satz 1 der Rahmenempfehlung verdeutlicht, wollten die Vertragspartner der dreiseitigen Rahmenempfehlungen keine hiervon
abweichenden Regelungen für den Einzug der Zuzahlungen nach §
28 Abs
4 SGB V treffen.
d. Der Ausübung des Zurückbehaltungsrechts steht auch nicht entgegen, dass der Geltungszeitraum der Regelungen in § 18 Abs 7a BMV-Ä (bzw § 21 Abs 7a EKV-Ä) zunächst begrenzt war und erst nachträglich auf unbestimmte Zeit verlängert wurde.
§ 18 Abs 7a BMV-Ä (bzw § 21 Abs 7a EKV-Ä) wurde mit Wirkung vom 1.1.2005 in die Bundesmantelverträge eingefügt (vgl Teil I Nr 4 und 8 der Vereinbarung vom 29.6.2005,
DÄ 2005, A 2117). Die Regelung galt zunächst bis zum 31.12.2006 (vgl Teil I Nr 8 der Vereinbarung aaO). Durch die - am 1.1.2007
in Kraft getretene - Vereinbarung vom 13.12.2006 wurde "die Befristung" sodann bis zum 30.6.2007 verlängert (DÄ 2007, A 73).
Durch die rückwirkend zum 1.7.2007 in Kraft getretene Vereinbarung vom 30.8.2010 wurden "die Befristungen" in den Vereinbarungen
vom 29.6.2005 und vom 13.12.2006 aufgehoben (DÄ 2010, A 1828).
Der Einwand der Klägerin, die rückwirkende Aufhebung der Befristung stelle eine verfassungsrechtlich unzulässige "echte" Rückwirkung
dar, greift nicht durch. Das grundsätzliche Verbot einer rückwirkenden - bereits für einen Zeitpunkt vor ihrer Bekanntgabe
Wirksamkeit beanspruchenden - Änderung von Normen gilt prinzipiell auch für die Bundesmantelverträge als untergesetzliche
Normsetzungsverträge. Zu unterscheiden ist zwischen einer echten (retroaktiven) Rückwirkung, die nur in Ausnahmefällen zulässig
ist, und einer unechten Rückwirkung, die rechtmäßig ist, wenn ausreichende Gemeinwohlgründe sie erfordern und das schutzwürdige
Vertrauen der Betroffenen auf den Fortbestand der bisherigen Rechtslage nicht überwiegt (vgl BSG SozR 4-2500 § 85 Nr 30 RdNr 19 mwN). Ein echte Rückwirkung liegt (nur dann) vor, wenn eine Norm nachträglich ändernd in abgewickelte, der
Vergangenheit angehörende Sachverhalte eingreift, eine unechte Rückwirkung dann, wenn eine Rechtsnorm auf gegenwärtige, noch
nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt, indem sie Rechtspositionen nachträglich
entwertet (BSGE 81, 86, 89 f = SozR 3-2500 § 87 Nr 18, S 84 f; BSG SozR 4-2500 § 85 Nr 4 RdNr 10; BSGE 94, 50 = SozR 4-2500 § 72 Nr 2, RdNr 46; BSG SozR 4-2500 § 85 Nr 30 RdNr 14; zuletzt BSG SozR 4-2500 § 84 Nr 2 RdNr 22). Bei dieser Abgrenzung ist auf den Zeitpunkt der Bekanntgabe der Norm abzustellen (BSGE 95, 199 = SozR 4-2500 § 106 Nr 11, RdNr 46; BSGE 94, 50 = SozR 4-2500 § 72 Nr 2, RdNr 46; BSG SozR 4-2500 § 85 Nr 30 RdNr 14; BSG SozR 4-2500 § 84 Nr 2 RdNr 22).
Ob die rückwirkende Aufhebung der "Befristung" bezüglich der Quartale ab III/2007 in abgeschlossene Sachverhalte eingreift,
kann vorliegend ebenso dahingestellt bleiben wie der Einwand der Klägerin, dass die ursprüngliche Regelung mit Ende ihres
vorgegebenen Geltungszeitraums am 31.12.2006 um 24 Uhr außer Kraft getreten und daher eine Verlängerung der "Befristung" -
präzise: des Geltungszeitraums - ab dem 1.1.2007 um null Uhr nicht mehr in Betracht gekommen sei. Denn die hier allein strittigen
Einbehalte für die Quartale I bis III/2005 sind auf der Grundlage der seinerzeit geltenden Ermächtigung erfolgt. Ein (Zurückbehaltungs-)Recht,
welches auf der Grundlage einer gültigen Rechtsgrundlage ausgeübt wurde, entfällt nicht nachträglich, wenn die Rechtsgrundlage
später - mit Wirkung für die Zukunft - ihre Geltung verliert. Das Zurückbehaltungsrecht stellt ein Leistungsverweigerungsrecht
dar, welches dem Schuldner, der seinerseits einen fälligen Anspruch gegen den Gläubiger hat, bis zur Erbringung der ihm gebührenden
Leistung eine aufschiebende Einrede verschafft (vgl Kerwer in jurisPK-
BGB, 5. Aufl 2010, §
273 RdNr 1). Die Ausübung des Zurückbehaltungsrechts hat rechtsgestaltende Wirkung (BGH NJW-RR 1986, 991 mwN; Grüneberg in Palandt,
BGB, 71. Aufl 2012, §
273 RdNr 20). Ein Zurückbehaltungsrecht entfaltet Rechtswirkungen bereits mit seiner (erstmaligen) Ausübung und muss nicht für
jeden Tag der Zurückbehaltung neu ausgeübt werden.
e. Die bundesmantelvertraglichen Regelungen sind auch im Übrigen rechtmäßig. Der Rechtmäßigkeit des § 18 Abs 7a Satz 1 BMV-Ä (bzw § 21 Abs 7a Satz 1 EKV-Ä) steht insbesondere nicht entgegen, dass die Normen sowohl auf der Tatbestandsseite als auch auf der Rechtsfolgenseite
sehr weit gefasst sind. So besteht auf der Tatbestandsseite ein Zurückbehaltungsrecht bereits dann, wenn die Zuzahlungen -
aus welchen Gründen auch immer - in einem bestimmten Prozentsatz der Behandlungsfälle nicht eingezogen werden. Die gesetzlich
normierten Zurückbehaltungsrechte (§
75 Abs
1 Satz 3
SGB V aF, in der bis zum 31.12.2011 geltenden Fassung, jetzt Satz 5; §
85 Abs
4f Satz 1
SGB V) setzen hingegen voraus, dass die K(Z)ÄV "ihrem Sicherstellungsauftrag aus Gründen, die sie zu vertreten hat, nicht nach(kommt)"
(§
75 Abs
1 Satz 3
SGB V aF) bzw "ihren Pflichten ... nicht nachkommt" (§
85 Abs
4f Satz 1
SGB V). Erforderlich ist also das Vorliegen einer Pflichtverletzung, im Falle des §
75 Abs
1 Satz 3
SGB V aF darüber hinaus auch ein Verschulden. Demgegenüber setzen die hier in Rede stehenden bundesmantelvertraglichen Regelungen
keine (nachgewiesene) Pflichtverletzung voraus, sondern lassen ein bestimmtes Ausmaß an nicht eingezogenen Zuzahlungen genügen.
Auch auf der Rechtsfolgenseite lassen die bundesmantelvertraglichen Regelungen den KÄVen einen weiten Spielraum. Während §
75 Abs
1 Satz 3
SGB V aF eine "teilweise" Zurückbehaltung der vereinbarten Gesamtvergütungen und §
85 Abs
4f Satz 1
SGB V ein auf 10 % der Forderungen begrenztes Zurückbehaltungsrecht normieren, erlauben § 18 Abs 7a Satz 1 BMV-Ä bzw § 21 Abs 7a Satz 1 EKV-Ä (maximal) die Zurückhaltung der vollen Differenz zwischen den einzubehaltenden und den tatsächlich einbehaltenen Zuzahlungen.
Der tatbestandlichen Weite der Norm kann jedoch durch die gebotene Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles im Rahmen
der Ermessensausübung angemessen Rechnung getragen werden (s dazu unter 4.a. und 4.b.cc.).
3. Die Tatbestandsvoraussetzungen der bundesmantelvertraglichen Regelungen sind erfüllt. In der Notfallambulanz der Klägerin
wurden die Zuzahlungen unstrittig in weitaus mehr als 10 % der Behandlungsfälle - nach den Feststellungen des LSG lag die
Nichteinzugsquote im Klinikum Spandau in den strittigen Quartalen zwischen 55,60 % und 68,80 % - "nicht erhoben". Mit "Erheben"
ist hier das erfolgreiche Einziehen iS der tatsächlichen Realisierung der Praxisgebühr durch Zahlung gemeint (so auch Sichert
in Becker/Kingreen,
SGB V, 2. Aufl 2010, §
43b RdNr 14). Weitere Tatbestandsvoraussetzungen bestehen nicht.
Insbesondere setzt § 18 Abs 7a BMV-Ä (bzw § 21 Abs 7a EKV-Ä) weder nach seinem Wortlaut noch nach seinem Zweck eine schuldhafte Pflichtverletzung voraus. Zwar ist die Beklagte bei
Ausübung des Zurückbehaltungsrechts zugleich verpflichtet, das - auf Feststellung des Anspruchs auf Ersatz eines durch schuldhafte
Pflichtverletzung verursachten Schadens gerichtete - Schlichtungsverfahren nach § 49 BMV-Ä (bzw § 45 EKV-Ä) einzuleiten (§ 18 Abs 7a Satz 3 BMV-Ä bzw § 21 Abs 7a Satz 3 EKV-Ä); jedoch dient das Zurückbehaltungsrecht nicht der Sicherung dieses Verfahrens, sondern dazu, die Leistungserbringer zur
Erfüllung ihrer hinsichtlich des Einzugs der Praxisgebühr bestehenden Pflichten anzuhalten (s hierzu unter 4. b.bb). Ob diesen
ein Verschulden zur Last fällt, soll gerade in dem sich an die Ausübung des Zurückbehaltungsrechts anschließenden Schlichtungsverfahren
geklärt werden.
4. Die Beklagte hat jedoch das ihr bei der Ausübung des Zurückbehaltungsrechts zustehende Ermessen fehlerhaft ausgeübt, wie
das LSG im Ergebnis zutreffend festgestellt hat.
a. Der Beklagten steht bei der Ausübung des Zurückbehaltungsrechts ein Ermessen zu ("kann ... zurückbehalten"), dh es wird
ihr die Freiheit eingeräumt, zwischen mehreren vom Normgeber als rechtmäßig angesehenen Entscheidungen zu wählen (vgl Keller
in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 10. Aufl 2012, §
54 RdNr
25 - zu Ermessensentscheidungen). Entgegen der Auffassung des LSG beinhaltet § 18 Abs 7a Satz 1 BMV-Ä (bzw § 21 Abs 7a Satz 1 EKV-Ä) nicht allein ein Entschließungsermessen dahingehend, ob die KÄV ihr Zurückbehaltungsrecht überhaupt ausübt, sondern das
Ermessen der KÄV umfasst auch die Entscheidung darüber, in welchem Umfang sie von diesem Recht Gebrauch macht. Dies ergibt
sich aus dem Zweck der Regelung.
Einer Ermessenausübung gerade auch in Bezug auf den Umfang der zurückbehaltenen Honorare bedarf es - wie bereits unter 2.e.
dargelegt - schon deswegen, weil die Rechtsgrundlage (auch) auf der Rechtsfolgenseite sehr weit gefasst ist. § 18 Abs 7a Satz 1 BMV-Ä (bzw § 21 Abs 7a Satz 1 EKV-Ä) gestattet es dem Grunde nach, die Differenz zwischen einzubehaltender und einbehaltener Zuzahlung in vollem Umfang zurückzubehalten.
Damit erfasst das Zurückbehaltungsrecht auch Fälle, in denen die Nichtzahlung der Praxisgebühr nicht mehr in den Verantwortungsbereich
des Leistungserbringers fällt und in denen sich - sofern auch eine Vollstreckung erfolglos bleibt - das Inkassorisiko der
Krankenkassen realisiert. Das Gesetz sieht nicht vor, dass die Leistungserbringer die Zuzahlung "erfolgreich" einziehen müssen,
sondern ihre Verpflichtung besteht lediglich darin, die Zuzahlung vom Versicherten einzufordern; sie endet, wenn der Versicherte
trotz einer gesonderten schriftlichen Aufforderung durch den Leistungserbringer nicht zahlt (§
43b Abs
2 Satz 4
SGB V nF). Die Regelungen (insbesondere §
43b Abs
2 Satz 4 bis 7
SGB V nF) belegen, dass auch der Gesetzgeber davon ausgeht, dass ein gewisser Teil der Patienten seiner Zahlungspflicht nicht freiwillig
nachkommt. Zu diesem Personenkreis gehören schon diejenigen Patienten, die - selbst bei pflichtgemäßen Einzugsversuchen durch
den Leistungserbringer - weder im unmittelbaren Zusammenhang mit der Behandlung noch nach schriftlicher Aufforderung durch
den Leistungserbringer zu einer Zahlung bereit sind. Ein undifferenziert ausgeübtes Zurückbehaltungsrecht würde dazu führen,
dass Honorarzahlungen auch in Fällen zurückgehalten werden dürften, in denen (auch) einen korrekt handelnden Leistungserbringer
nach erfolgloser Mahnung keine weiteren Pflichten träfen.
Hinzu kommt, dass die bundesmantelvertragliche Regelung erkennbar auf die Leistungserbringung bei niedergelassenen Vertragsärzten
zugeschnitten ist. Sie unterstellt, dass eine Überschreitung der 10 %-Grenze ohne Weiteres eine Zurückbehaltung rechtfertigt,
weil ein Nichteinzug in dieser Höhe nur in extremen Ausnahmefällen zu erwarten ist. Dies trifft jedoch für die Leistungserbringung
in Notfallambulanzen (s hierzu unter 4.b.cc.) nicht zu.
Die Notwendigkeit einer differenzierten Ausübung des Zurückbehaltungsrechts bzw einer pflichtgemäßen Ermessensausübung auch
in Bezug auf die Höhe des Einbehalts zeigt sich schließlich daran, dass andernfalls die Gefahr besteht, dass die KÄVen sich
auf die Ausübung des Zurückbehaltungsrechts beschränken und von der ihnen obliegenden Aufgabe der Einleitung eines Verwaltungsverfahrens
gegen säumige Zahler absehen. Auch die Beklagte hat es offenbar dabei bewenden lassen, Honorare im Umfang der nicht von der
Klägerin eingezogenen Zuzahlungen zurückzuhalten und in dieser Höhe einen Schaden bei der Schlichtungsstelle geltend zu machen,
wobei die Anrufung der Schlichtungsstelle bezüglich der vorliegend relevanten Quartale erst Ende 2007/Anfang 2008 erfolgt
ist. Die Anwendung des § 18 Abs 7a Satz 1 BMV-Ä (bzw § 21 Abs 7a Satz 1 EKV-Ä) darf jedoch die gesetzlich vorgegebene Aufgaben- und Risikoverteilung (§
28 Abs
4, §
43b Abs
2 SGB V) nicht unterlaufen. Eine KÄV ist daher nicht berechtigt, unter Hinweis auf einen ggf insuffizienten Einzug der Praxisgebühr
durch den Leistungserbringer die gesetzlich vorgegebenen Maßnahmen zu unterlassen und stattdessen ohne Weiteres die (volle)
Differenz als Schaden geltend zu machen.
b. Die Beklagte hat das ihr eingeräumte Ermessen fehlerhaft ausgeübt.
aa. Nach §
39 Abs
1 SGB I haben Leistungsträger, die ermächtigt sind, bei der Entscheidung über Sozialleistungen nach ihrem Ermessen zu handeln, ihr
Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten (Satz 1
aaO). Auf die pflichtgemäße Ausübung des Ermessens besteht ein Anspruch (Satz 2 aaO). §
39 SGB I gilt zwar unmittelbar nur für Sozialleistungen, findet aber auf Ermessensentscheidungen im Vertragsarztrecht entsprechende
Anwendung (zur entsprechenden Anwendung leistungsrechtlicher Bestimmungen des
SGB I vgl BSGE 97, 84 = SozR 4-2500 § 106 Nr 15, RdNr 14; BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 28 RdNr 48 mwN).
Dabei kann es vorliegend dahingestellt bleiben, ob die Ausübung eines Zurückbehaltungsrechts in Form eines Verwaltungsakts
erfolgt. Denn §
39 SGB I enthält allgemeine Rechtsgrundsätze des Verwaltungsrechts für jegliche Ermessensbetätigung (Seewald in Kasseler Komm, Stand
März 2005, §
39 SGB I RdNr 20) und findet daher unabhängig von der Rechtsnatur der Ausübung des Zurückbehaltungsrechts Anwendung. Dem entspricht
auch die ganz herrschende Meinung im Verwaltungsrecht, die die Parallelvorschrift des § 40 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) als Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgedankens versteht und auch auf das Verwaltungshandeln außerhalb konkreter Verwaltungsverfahren
anwendet (Ramsauer in Kopp/Ramsauer, VwVfG, 12. Aufl 2011, § 40 RdNr 4a; Sachs in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Aufl 2008, § 40 RdNr 47), nicht zuletzt auf die Entscheidung, ob ein öffentlich-rechtliches Zurückbehaltungsrecht ausgeübt werden soll (OVG
NRW, DVBl 1983, 1074; Ramsauer aaO; vgl auch Hamburgisches OVG, NJW 2007, 3513).
bb. Der Senat teilt allerdings nicht die Auffassung des LSG, die Beklagte habe von ihrem Ermessen, ob sie § 18 Abs 7a BMV-Ä (bzw § 21 Abs 7a EKV-Ä) anwenden will, schon dem Grunde nach unzureichend Gebrauch gemacht, weil in deren Entscheidung keine Erwägungen zum Sicherungszweck
des Honorareinbehalts eingeflossen seien und ihre Prognose hinsichtlich der Erfolgsaussichten des Schadensersatzverfahrens
einem Abwägungsmangel unterliege. Entgegen der Auffassung des LSG (in diesem Sinne auch Sichert in Becker/Kingreen,
SGB V, 2. Aufl 2010, §
43b RdNr 14) dient das bundesmantelvertragliche Zurückbehaltungsrecht weder ausschließlich noch vorrangig der Sicherung von Schadensersatzansprüchen
der Krankenkassen, die aus einem von der Schlichtungsstelle nach § 49 BMV-Ä (bzw § 45 EKV-Ä) festgestellten schuldhaften Nichteinbehalt der Zuzahlungen durch den Leistungserbringer resultieren, sondern dem Ziel,
Druck auf die Leistungserbringer auszuüben, auf eine möglichst vollständige Zahlung der Zuzahlungen durch die Versicherten
hinzuwirken und ggf anschließend den Weg für ein Schlichtungsverfahren nach § 49 BMV-Ä (bzw § 45 EKV-Ä) zu öffnen. Es besteht ein sachliches Bedürfnis für Regelungen, welche die den Leistungserbringern gesetzlich auferlegte
Verpflichtung zur Einziehung der Praxisgebühr absichern. Denn es steht außer Frage, dass die Leistungserbringer kein originäres
Interesse an der Einziehung haben, weil sich ihre Vergütungsansprüche nur im Umfang der tatsächlich eingezogenen Zuzahlungen
verringern (vgl §
43b Abs
2 Satz 1 Halbsatz 2
SGB V). Daher liegt die Annahme nahe, dass es gewisser "Druckmittel" bedarf, um der gesetzlichen Verpflichtung Nachdruck zu verleihen.
Dient das Zurückbehaltungsrecht aber als Druckmittel, besteht daher keine Notwendigkeit, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit
des potentiellen Schuldners in die Ermessenserwägungen einzubeziehen.
Für die Annahme, dass Sicherungsaspekte für die Ausübung des Zurückbehaltungsrechts ohne Bedeutung sind, spricht bereits die
inhaltliche Nähe zu den gesetzlichen Regelungen in §
85 Abs
4f Satz 1
SGB V und §
75 Abs
1 SGB V. Das Zurückbehaltungsrecht nach §
85 Abs
4f Satz 1
SGB V stellt eine Sanktionsmöglichkeit zur Sicherung der Durchführung des Degressionsverfahrens und zur Weitergabe der Einsparungen
an die Krankenkassen dar (BSG Urteil vom 28.8.1996 - 6 RKa 41/95 - USK 96150); das Zurückbehaltungsrecht nach §
75 Abs
1 Satz 3
SGB V aF wird als Druckmittel verstanden, um eine KÄV dazu zu zwingen, ihrem Sicherstellungsauftrag nachzukommen (Sproll in Krauskopf,
Soziale Krankenversicherung, Pflegeversicherung, Stand September 2010, § 75 RdNr 17). Vergleichbar geht der Wille der Vertragspartner
der Bundesmantelverträge bei der Regelung des Zurückbehaltungsrechts dahin, Druck auf die Leistungserbringer auszuüben, damit
diese ihren Pflichten zur Einziehung der Praxisgebühr nachkommen. Es gibt keinen Anhalt dafür, dass die Vertragspartner die
Gefahr eines Forderungsausfalls in den Blick genommen haben. Hierfür bestand angesichts der grundsätzlich zu unterstellenden
Solvenz der Leistungserbringer auch keine Veranlassung. Im Übrigen hat die Beklagte zu Recht darauf hingewiesen, dass das
Zurückbehaltungsrecht weitestgehend ins Leere ginge, wenn seine Ausübung nur im Falle einer zu besorgenden Insolvenz des Leistungserbringers
in Betracht käme. Dient das Zurückbehaltungsrecht keinem Sicherungszweck, nimmt es also entgegen der Auffassung des LSG die
Folge des Schadensregresses nicht zeitweise vorweg, bedarf es für seine rechtmäßige Ausübung auch keiner Prognose, ob ein
Schadensregress Erfolg haben wird.
cc. Ungeachtet dessen hat die Beklagte jedoch deswegen fehlerhaft gehandelt, weil sie das ihr auch hinsichtlich der Höhe des
vorgenommenen Einbehalts zustehende Ermessen weder erkannt noch dieses Ermessen entsprechend dem Zweck der bundesmantelvertraglichen
Regelungen ausgeübt hat. Die Entscheidung der Beklagten lässt bereits nicht erkennen, dass sie sich ihres auch in Bezug auf
den Umfang der Zurückbehaltung zustehenden Ermessens bewusst gewesen ist; sie ist bereits aus diesem Grunde fehlerhaft. Darüber
hinaus hat die Beklagte ihr Ermessen nicht - bzw nicht in vollem Umfang - dem Zweck der Ermächtigung entsprechend ausgeübt.
Ausgehend von der Zielsetzung des in den Bundesmantelverträgen normierten Zurückbehaltungsrechts als Druckmittel hat die KÄV
im Rahmen ihrer Ermessenentscheidung zu prüfen, ob und in welchem Umfang es in Bezug auf den konkret betroffenen Leistungserbringer
dieses Drucks auch tatsächlich bedarf. § 18 Abs 7a BMV-Ä (bzw § 21 Abs 7a EKV-Ä) berechtigt die KÄV zur Einbehaltung von Honorar maximal in Höhe der Differenz zwischen den tatsächlich einbehaltenen Zuzahlungen
der Versicherten und der vollen Summe der angefallenen Zuzahlungen. Ob die KÄV diesen Rahmen ausschöpft, liegt in ihrem Ermessen,
von dem sie sachgerechten Gebrauch machen muss. Das hat zur Folge, dass sie sich je nach Art der Leistungserbringung daran
orientieren muss, welche Ausfallquote tatsächlich unvermeidbar ist.
Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass ein vollständiger Einbehalt des Differenzbetrages nur in Extremfällen in Betracht
kommt. Dies ist etwa dann der Fall, wenn ein Einzug der Zuzahlung grundsätzlich verweigert wird. Dasselbe gilt, wenn die Nichteinzugsquote
auch nach Ablauf einer gewissen Eingewöhnungszeit nach Einführung der "Praxisgebühr" unverändert hoch bleibt, obwohl in einem
Schiedsverfahren nach § 49 BMV-Ä (bzw § 45 EKV-Ä) bestandskräftig festgestellt worden ist, dass die Höhe des Nichteinbehalts ganz wesentlich auf eine schuldhafte Verletzung
der dem Leistungserbringer obliegenden Pflichten zurückzuführen ist. Liegen derartige Fälle hingegen nicht vor, verstößt ein
über das Maß des Erforderlichen hinausgehender Einbehalt gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Bei der Ermessensausübung ist zunächst in Betracht zu ziehen, dass es eine gewisse Quote von Patienten geben wird, die bei
der Inanspruchnahme des Notfalldienstes die Zahlung der Praxisgebühr generell verweigern und für deren Verhalten die Leistungserbringer
keine Verantwortung trifft. Hinzu kommen die Fälle, in denen eine unmittelbare Zahlung an den Leistungserbringer an tatsächlichen
Gegebenheiten scheitert. Um entscheiden zu können, ob es bzw - hiervon nicht zu trennen - in welchem Umfang es der Ausübung
des Druckmittels gegenüber einem Leistungserbringer bedarf, ist daher vorab zu klären, inwieweit die konkreten Umstände der
Leistungserbringung Einfluss auf den "erfolgreichen" Einzug der Zuzahlung durch den Leistungserbringer haben.
Wie dargelegt, wurde die einen "Verdacht" begründende 10 %-Grenze offenbar anhand der im Bereich der niedergelassenen Vertragsärzte
gesammelten Erfahrungen entwickelt und unterstellt, dass jeder korrekt handelnde Vertragsarzt diese Grenze unterschreitet.
Im Umkehrschluss mag man für diesen Bereich angenommen haben, dass eine Überschreitung des Werts gröbliches Fehlverhalten
und zugleich die Notwendigkeit maximalen Drucks indiziert. Dies ist auf den Bereich der Notfallambulanzen aber nicht ohne
Weiteres übertragbar, da nach allen vorliegenden Daten signifikante Unterschiede zwischen Arztpraxen und Notfallambulanzen
von Krankenhäusern bestehen. So wird - mit einer Ausnahme - in keiner von der Klägerin betriebenen Notfallambulanzen eine
Zahlungsquote von 50 % erreicht. Ob dazu das Verhalten der Klägerin beigetragen hat, zumindest bis Ende 2006 nicht einmal
die technische Möglichkeit der Entrichtung der Zuzahlung in bar in unmittelbarem Zusammenhang mit der Notfallbehandlung zu
schaffen - wofür manches spricht -, wird abschließend im Schlichtungsverfahren zu klären sein.
Schon die Lebenserfahrung spricht allerdings dafür, dass die Nichtzahlerquote in Arztpraxen angesichts einer mehr oder weniger
starken Arzt-Patienten-Bindung gering ist, während sie in Notfallambulanzen aus einer Vielzahl von Gründen typischerweise
größer sein wird. Eine Arzt--Patienten-Bindung wird dort in aller Regel fehlen. Es liegt weiter nahe, dass ein größerer Anteil
an Patienten "unvorbereitet" in die Notfallambulanz kommt; dies gilt zumindest für die "echten" Notfälle. Ein gewisser Teil
der Patienten wird also ggf keine Zahlungsmittel dabei haben. Zu berücksichtigen ist auch, dass ein gewisser Teil der Patienten
nicht ansprechbar ist und den Patienten auch keine Angehörigen begleiten.
Bei der Prüfung, in welchem Umfang ein Einzug der Zuzahlung auch bei Beachtung der gebotenen Sorgfalt überhaupt möglich bzw
realistisch ist, ist zudem zu berücksichtigen, dass nach § 18 Abs 3 BMV-Ä (bzw § 21 Abs 3 EKV-Ä) der Einzug der Praxisgebühr bei "akuter Behandlungsbedürftigkeit" auch nachträglich - dh nach der Behandlung bzw Diagnosestellung
- erhoben werden kann. Mit "akuter Behandlungsbedürftigkeit" sind Konstellationen gemeint, die eine sofortige, "von Zuzahlungsbemühungen
nicht verzögerte", Behandlung erforderlich machen (Rixen, SGb 2004, 2, 6; ebenso Noftz in Hauck/Noftz,
SGB V, Stand Juli 2011, K §
43b RdNr 33). Dass sich an die Erstbehandlung eine stationäre Aufnahme anschließt, ist nicht erforderlich und auch keineswegs
regelhaft zu erwarten. Hierbei ist ausnahmslos auf die Person des Versicherten abzustellen; ob Begleitpersonen die Zuzahlung
erbringen können, ist ohne Bedeutung (Rixen aaO S 6/7). Damit ist der Begriff weitgehend deckungsgleich mit dem Begriff des
"Notfalls" in §
76 Abs
1 Satz 2
SGB V. "Akute Behandlungsbedürftigkeit" in diesem Sinne dürfte in Notfallambulanzen in deutlich höherem Ausmaß gegeben sein als
in den Praxen niedergelassener Ärzte, auch wenn anzunehmen ist, dass die Notfallambulanzen der Krankenhäuser abends und am
Wochenende auch von zahlreichen Patienten aufgesucht werden, die die Voraussetzungen für einen "Notfall" nicht erfüllen. Zwar
hat die Beklagte zutreffend darauf hingewiesen, dass auch in Fällen akuter Behandlungsbedürftigkeit die Möglichkeit zur Einziehung
jedenfalls nach Durchführung der Behandlung besteht; jedoch dürfte sich der Druck auf den Patienten, die Praxisgebühr zu entrichten,
nach Durchführung der Behandlung deutlich vermindert haben. Dies exkulpiert zwar den Leistungserbringer nicht, der unzureichende
Versuche zur Einziehung der Praxisgebühr unternommen hat, stützt aber die Annahme, dass die Zahl der Nichtzahler in Notfallambulanzen
naturgemäß deutlich höher ist als in Arztpraxen.
Es liegt nach alledem nahe, dass die 10 %-Grenze in Notfallambulanzen regelhaft überschritten wird, ohne dass dies den Leistungserbringern
angelastet werden kann. Diese Annahme wird auch durch das tatsächliche Vorbringen der Beteiligten gestützt, wonach - jedenfalls
im streitigen Zeitraum - keine der Notfallambulanzen an Berliner Krankenhäusern auch nur annähernd 90 % der an sich anfallenden
Zuzahlungen eingezogen hat, sondern vielmehr die Nichteinzugsquoten in allen Notfallambulanzen ein erhebliches Ausmaß - nach
den Angaben der Beklagten im Durchschnitt rund 30 % - erreicht haben. Sofern keine Erkenntnisse dafür vorliegen, dass die
Notfallambulanzen aller Berliner Krankenhäuser systematisch und flächendeckend den Einzug der Zuzahlungen unterlaufen, ist
davon auszugehen, dass die durchschnittliche Nichteinzugsquote aus den speziellen Umständen der Leistungserbringung resultiert.
Zumindest bis ein erstes Schlichtungsverfahren nach § 49 BMV-Ä (bzw § 45 EKV-Ä) bestandskräftig abgeschlossen ist, muss sich die Höhe der Ausfallquote, auf die eine KÄV ihr Zurückbehaltungsrecht bei
pflichtgemäßer Ermessensausübung erstreckt, daher an dem orientieren, was in Notfallambulanzen von Krankenhäusern leistbar
ist. Die Beklagte muss den Umfang der typischerweise "unvermeidbaren" Nichtzahlungen nicht exakt ermitteln, aber doch der
Größenordnung nach berücksichtigen. Sie hat daher vor der Zurückbehaltung einer bestimmten Summe die Frage zu klären, welche
Ausfall- bzw Nichteinzugsquoten sich in vergleichbaren Einrichtungen ergeben. Es ist insoweit sachgerecht, wenn die Beklagte
ermittelt, wie hoch die Ausfallquote in vertragsärztlichen Notfalleinrichtungen ist, also bei Patienten, die einen ihnen fremden
Arzt im Quartal nur wegen einer Notfallversorgung aufgesucht haben. Aussagekräftig können auch die Werte von anderen Klinikträgern
im Bereich der Beklagten (zB Universitätsmedizin Berlin, kirchliche Krankenhäuser) sowie aus anderen KÄV-Bezirken sein. Wenn
diese Ermittlungen ergeben, dass die Nichteinzugsquote auch bei sachgerechter Organisation generell im Notfalldienst wegen
der Besonderheiten des Patientenklientels und der Art der Behandlungen Werte von zB 30 % oder 35 % erreicht, darf die Beklagte
(jedenfalls vor bestandskräftigem Abschluss des ersten Schlichtungsverfahrens) nicht einfach unterstellen, die Klägerin hätte
eine Ausfallquote von mehr als 10 % verhindern können und müssen. Als Druck für Eigenbemühungen und als Voraussetzung für
die Einleitung der Schlichtung reicht es aus, lediglich Honorarzahlungen im Umfang der die durchschnittlichen Werte übersteigenden
Nichtzahlungen zurückzubehalten; dann kann auch nicht der Eindruck entstehen, die KÄV verlagere faktisch das Einzugsrisiko
auf die Leistungserbringer.
5. Das LSG hat die Beklagte jedoch zu Unrecht weitergehend zur Auskehrung der zurückbehaltenen Vergütungen verpflichtet. Das
Berufungsgericht hat mit seiner Entscheidung in das der Beklagten bei der Ausübung des Zurückbehaltungsrechts zustehende Ermessen
eingegriffen. Dies wäre nur dann zulässig, wenn keine andere Entscheidung als ein Absehen von der Ausübung des Zurückbehaltungsrechts
- iS einer Ermessensreduzierung auf Null - in Betracht kommt; dass ein derartiger Fall gegeben ist, ist jedoch weder vom Berufungsgericht
festgestellt worden noch sonst erkennbar. Daher war das Urteil entsprechend - wie tenoriert - zu ändern. Die Beklagte wird
nach alledem erneut entscheiden müssen, in welcher Höhe sie von ihrem Zurückbehaltungsrecht Gebrauch macht, und in diesem
Zusammenhang die unterlassenen Ermessenserwägungen und die hierzu erforderlichen Feststellungen nachholen. Eventuell zu viel
einbehaltene Beträge sind auch schon vor rechtskräftigem Abschluss des Schlichtungsverfahrens an die Klägerin auszukehren.
Klarzustellen ist, dass eine eventuelle Rückzahlung nicht zu verzinsen ist. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats haben
Vertragsärzte keinen Anspruch auf Verzinsung rückständiger Honorarzahlungen (BSGE 56, 116 = SozR 1200 § 44 Nr 10; BSGE 95, 141 = SozR 4-2500 § 83 Nr 2, RdNr 32 ff; BSG Beschluss vom 11.3.2009 - B 6 KA 31/08 B - juris RdNr 26; BSGE 108, 56 = SozR 4-2500 § 85 Nr 62, RdNr 30; BSG SozR 4-2500 § 85 Nr 64 RdNr 22). Auch ein Anspruch (zumindest) auf Prozesszinsen steht nach der Senatsrechtsprechung nur einer KÄV im Falle
verspäteter Zahlung von Gesamtvergütungen zu (BSGE 95, 141 = SozR 4-2500 § 83 Nr 2, RdNr 30 ff); diese Rechtsprechung ist auf die Nachzahlung vertragsärztlichen Honorars nicht übertragbar.
Soweit Krankenhäuser gemäß §
76 Abs
1 Satz 2
SGB V in Notfällen wie Vertragsärzte in Anspruch genommen werden, sind sie bei der Honorierung dieser Leistungen den Vertragsärzten
gleichgestellt (vgl hierzu BSG SozR 3-2500 § 120 Nr 7 S 37 f; BSG SozR 4-2500 § 75 Nr 4 RdNr 15; BSG SozR 4-2500 § 75 Nr 8 RdNr 18) und somit auch hinsichtlich der Verzinsung ihrer Vergütungsansprüche wie Vertragsärzte zu behandeln.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
197a Abs
1 Satz 1 Teilsatz 3
SGG iVm einer entsprechenden Anwendung der §§
154 ff
VwGO. Danach haben die Beklagte und die Klägerin die Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens entsprechend dem Umfang ihres
Unterliegens zu 2/3 bzw 1/3 zu tragen (§
154 Abs
1 und
2, §
155 Abs
1 Satz 1
VwGO). Dem liegt die Erwägung zu Grunde, dass das Obsiegen der Klägerin überwiegt, obwohl diese nur hinsichtlich der Höhe erfolgreich
war, in der die Beklagte Honorar einbehalten darf; dass sie im Ergebnis keine oder nur eine ganz unbedeutende Rückzahlung
erreichen wird, scheint nach dem jetzigen Sachstand auf der anderen Seite wenig wahrscheinlich. Eine Erstattung der außergerichtlichen
Kosten der Beigeladenen ist nicht veranlasst, weil diese im Verfahren keinen Antrag gestellt haben (§
162 Abs
3 VwGO, vgl BSGE 96, 257 = SozR 4-1300 §
63 Nr
3 RdNr 16).