Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes im sozialgerichtlichen Verfahren
Keine Beendigung einer Bedarfsgemeinschaft durch eine Haft
Gründe
Die Beschwerde des Antragsgegners und Beschwerdeführers ist zulässig, aber nicht begründet. Das Sozialgericht Ulm (SG) hat dem Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zu Recht stattgegeben.
Das SG hat in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Beschlusses zutreffend die rechtlichen Grundlagen für die Beurteilung des
Sachverhalts dargelegt und ebenso zutreffend ausgeführt, dass die - näher dargelegten - Voraussetzungen des § 86b Abs. 2 Satz
2
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) erfüllt sind, weil sowohl ein Anordnungsanspruch als auch ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht ist. Der Senat schließt
sich dem nach eigener Überprüfung uneingeschränkt an, sieht deshalb gemäß § 142 Abs. 2 Satz 3
SGG von einer weiteren Darstellung der Gründe weitgehend ab und weist die Beschwerde insoweit aus den Gründen der angefochtenen
Entscheidung zurück.
Ergänzend und mit Blick auf das Beschwerdevorbringen ist auf Folgendes hinzuweisen:
Mit seiner Beschwerdebegründung stellt der Beschwerdeführer offensichtlich nicht mehr in Abrede, dass die Antragstellerin
ihr Aufenthaltsrecht als Familienangehörige eines (nach den vom Beschwerdeführer nicht bestrittenen Feststellungen des SG) daueraufenthaltsberechtigten Unionsbürgers (kroatischer Staatsbürger und gewöhnlicher Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland
seit 09.11.1989, vgl. Bl. 35 SG-Akte) herleiten kann. Damit leitet sich das Aufenthaltsrecht der Antragstellerin nicht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche
(§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2b) SGB II) ab, weshalb ein Ausschluss von Leistungen nach den Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II nicht eingreift.
Soweit der Beschwerdeführer die Anspruchsberechtigung der Antragstellerin bezweifelt, greifen diese Einlassungen nicht durch.
Insoweit macht der Beschwerdeführer geltend, die Antragstellerin habe keinen Anspruch auf Leistungen, weil der Ehemann der
Antragstellerin seit 01.11.2020 inhaftiert und daher wegen § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II selbst nicht mehr anspruchsberechtigt sei. Eine solche Rechtsfolge käme jedoch nur dann in Betracht, wenn sich der Leistungsanspruch
der Antragstellerin allein aus § 7 Abs. 2 Satz 1 SGB II ergäbe und die Haft eine bestehende Bedarfsgemeinschaft beendete. Beides trifft aber nicht zu. Gemäß § 7 Abs. 3 Nr. 3a) SGB II gehört zur Bedarfsgemeinschaft (u.a.) die als Partnerin des erwerbsfähigen Leistungsberechtigten nicht dauernd getrennt lebende
Ehegattin. Diese Voraussetzungen sind auch weiterhin erfüllt. Eine Trennung und insbesondere ein Trennungswille hat der Beschwerdeführer
nicht behauptet. Entsprechendes ist auch nach dem Inhalt der Akten nicht ersichtlich. Im Übrigen verbleibt der Ehemann auch
bei Verbüßung einer Haft in einer Bedarfsgemeinschaft mit der Ehefrau (vgl. Münder, Sozialgesetzbuch II, SGB II § 7 Rn. 67 mit Verweis auf Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 16.04.2013 - B 14 AS 55/12 R -, juris). Auch eine langjährige Strafhaft beendet die Mitgliedschaft in einer Bedarfsgemeinschaft nicht, sondern führt
nur zu einem Leistungsausschluss des betroffenen Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft nach § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II (BSG, Urteil vom 22.08.2013 - B 14 AS 78/12 R -, juris Rn. 32). Vorausgesetzt wird auch nicht, dass schon vor Herbeiführung der Hilfebedürftigkeit Leistungen bezogen
wurden und damit eine "Bedarfsgemeinschaft im Leistungsbezug" vorgelegen hat. Es genügt vielmehr, dass bei Eintritt der Hilfebedürftigkeit
dem Grunde nach eine Bedarfsgemeinschaft bestanden hätte (vgl. hierzu Münker, a. a. O.). So verhält es sich auch im vorliegenden
Fall, denn schon vor der Inhaftierung wurde eine Bedarfsgemeinschaft mit der Ehefrau nach §?7 Abs.?3 Nr.?3 a) SGB II gebildet, da diese nach der Heirat am 08.09.2018 am 21.03.2019 in die eheliche Wohnung eingezogen war.
§ 7 Abs. 2 Satz 1 SGB II käme zudem nur dann zur Anwendung, wenn die Antragstellerin nicht selbst die Voraussetzungen des Anspruches auf Leistungen
nach dem SGB II erfüllen würde. Die Anspruchsberechtigung nach dem SGB II beurteilt sich grundsätzlich nach Vorgaben, die sich aus § 7 Abs. 1 SGB II (Altersgrenzen, Erwerbsfähigkeit, Hilfebedürftigkeit, gewöhnlicher Aufenthalt) ergeben und die das SG im angefochtenen Beschluss aus zutreffenden und vom Beschwerdeführer auch nicht angegriffenen Gründen bejaht hat. Abgesehen
von der bereits angesprochenen Anspruchsberechtigung aus § 7 Abs. 2 Satz 1 SGB II, die eine Bedarfsgemeinschaft mit mindestens einem erwerbsfähigen Leistungsberechtigten voraussetzt (siehe hierzu oben),
bestehen auch von Seiten des Senats keine durchgreifenden Zweifel, dass die Antragstellerin die Voraussetzungen nach § 7 Abs.
1 SGB II erfüllt. Dabei ist ergänzend zu den Ausführungen in der erstinstanzlichen Entscheidung lediglich darauf hinzuweisen, dass
der Antragstellerin keine mangelnde Erwerbsfähigkeit (§ 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB II) entgegengehalten werden kann. An der gesundheitlichen Erwerbsfähigkeit nach § 8 Abs. 1 SGB II bestehen auch mit Blick auf die Schwangerschaft der Antragstellerin mit einem nach dem vorliegenden Mutterpass errechneten
Entbindungstermin im Mai 2021 keine Zweifel (vgl. Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28.01.2013 - L 14 AS 3133/12 B ER -, juris). Und auch die rechtliche Erwerbsfähigkeit gem. § 8 Abs. 2 SGB II, die nur vorliegt, wenn eine Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte, ist nicht zweifelhaft. Denn die Antragstellerin
fällt als drittstaatsangehörige Familienangehörige in den persönlichen Anwendungsbereich des FreizügG/EU (§ 2 Abs. 1 und 2 Nr. 6 i. V. m. §§ 3, 4 FreizügG/EU i. V. m. § 11 Abs. 2 FreizügG/EU). Aufgrund dieser Stellung besitzt der Familienangehörige den gleichen Zugang zum Arbeitsmarkt wie der Unionsbürger, von
dem er seine Freizügigkeitsberechtigung ableitet, hier also wie der kroatische Ehemann. Denn den Familienangehörigen der Unionsbürger
wird das sich aus § 2 Abs. 1 FreizügG/EU bzw. aus den dieser Norm zugrunde liegenden europäischen Rechtsvorschriften über die Freizügigkeit ergebende Recht auf Einreise
und Aufenthalt mit allen damit zusammenhängenden Rechtsvorteilen, hier konkret das Recht aus der Grundfreiheit der Arbeitnehmerfreizügigkeit
(Art. 45 AEUV) und den Arbeitsplatz frei von nationalen Behinderungen zu suchen (freier Arbeitsmarktzugang), unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit
gewährt; ihre Rechtsstellung ist akzessorisch zu der des Stammberechtigten (vgl. Tewocht in: BeckOK FreizügG/EU § 2 Rn. 16 und § 3 Rn. 5). Der Ehemann der Antragstellerin, der Stammberechtigte in dem genannten Sinn, hat sein Recht auf Einreise und Aufenthalt
aber durch seine Inhaftierung nicht verloren. Die vom Beschwerdeführer aufgestellte These, (allein) die Inhaftierung des Ehemannes
führe zum Verlust der Anspruchsberechtigung der Antragstellerin, weil diese Anspruchsberechtigung über den Ehemann hergeleitet
werde, verfängt nicht, denn nicht die Anspruchsberechtigung der Antragstellerin leitet sich vom Ehemann ab, sondern nur deren
Aufenthaltsrecht.
Auch der Senat hat damit keine begründeten Zweifel an der Glaubhaftmachung von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund gemäß
§ 86b Abs. 2 Satz 2
SGG, weswegen die Beschwerde zurückzuweisen war. Der Antragsgegner hat der Antragstellerin damit Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhaltes entsprechend dem Tenor der erstinstanzlichen Entscheidung, namentlich den Regelbedarf und die Kosten für
Unterkunft und Heizung nach dem SGB II vorläufig zu erbringen. Dass eine Ablehnung von Leistungen durch Verwaltungsakt des Beschwerdeführers bereits bestandskräftig
wäre, hat der Beschwerdeführer weder vorgetragen, noch ist dies nach Aktenlage ersichtlich.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193
SGG.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177
SGG).