Pflichtverletzung eines Leistungsberechtigten durch unzureichende Bewerbungsbemühungen
Vollständige Aufhebung der Bewilligung von Alg II
Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs gegen den Aufhebungsbescheid
Zumutbarkeit der dem Leistungsempfänger abverlangten Eigenbemühungen
Keine Verfassungswidrigkeit der Sanktionsregelungen des SGB II
Gründe
Die Beschwerde ist zulässig, aber unbegründet.
Die Beschwerde ist statthaft. Der Beschwerdeausschluss des §
172 Abs.
3 Nr.
1 SGG greift nicht ein, da Streitgegenstand die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Aufhebungsbescheid
vom 21.07.2013 ist, mit dem die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für August 2015 i.H.v. 752,88
EUR wegen der Verhängung einer Sanktion mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben wird.
Die Beschwerde ist unbegründet.
Bei der Entscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung hat das Gericht eine Abwägung des Interesses des Antragstellers,
die Wirkung des angefochtenen Bescheides (zunächst) zu unterbinden (Aussetzungsinteresse) mit dem Vollzugsinteresse vorzunehmen.
Die aufschiebende Wirkung ist anzuordnen, wenn das Aussetzungsinteresse das Vollzugsinteresse überwiegt. Bei der Interessenabwägung
ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber in der vorliegenden Fallgestaltung ein Regel-/Ausnahmeverhältnis angeordnet hat.
In der Regel überwiegt das Vollzugsinteresse, wenn der Gesetzgeber die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen ausgeschlossen
hat (vgl. BSG Beschluss vom 29.08.2011 - B 6 KA 18/11 R). Dies ist hier der Fall (§ 39 Nr. 1 SGB II).
Vorliegend hat das Sozialgericht zutreffend festgestellt, dass das Vollzugsinteresse das Aussetzungsinteresse des Antragsstellers
überwiegt.
Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Aufhebungsbescheides vom 21.07.2015 bestehen nicht. Der Antragsgegner hat zu
Recht den vollständigen Entfall des AlgII für die Zeit vom 01.08.2015 bis zum 31.10.2015 i.S.v. § 31a Abs. 1 S. 3 SGB II festgestellt und die Bewilligung von AlgII für den Monat August 2015 nach § 48 Abs. 1 SGB X wegen Eintritts einer wesentlichen Änderung - Entfall des Anspruchs wegen einer wiederholten Pflichtverletzung - vollständig
aufgehoben.
Der Antragsteller hat den Sanktionstatbestand des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II erfüllt. Danach verletzen Leistungsberechtigte ihre Pflichten, wenn sie sich trotz schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen
oder deren Kenntnis weigern, die in einem einer Eingliederungsvereinbarung ersetzenden Verwaltungsakt festgelegten Pflichten
zu erfüllen. Durch Bescheid vom 04.11.2014 legte der Antragsgegner fest, dass der Antragssteller innerhalb der Gültigkeitsdauer
im Zeitraum vom 22.10.2014 bis zum 21.04.2015 jeweils mindestens zwei Bewerbungsbemühungen um leidensgerechte, sozialversicherungspflichtige
und geringfügige Beschäftigungsverhältnisse pro Monat tätigt und diese Eigenbemühungen nach Ablauf der Gültigkeitsdauer nachweist.
Dieser Verpflichtung ist der Antragsteller - wie das Sozialgericht zutreffend ausgeführt hat - objektiv nicht nachgekommen,
obwohl es ihm subjektiv möglich und zumutbar im Sinne des § 10 SGB II gewesen wäre.
Die dem Antragsteller im Bescheid vom 04.11.2014 abverlangten Eigenbemühungen begegnen weder nach dem Inhalt der Verpflichtung
noch nach der aufgegebenen Frequenz der Bewerbungen keinen Bedenken. Es handelt sich um eine Konkretisierung der in § 2 Abs. 1 SGB II geregelten Selbsthilfeobliegenheit eines erwerbsfähigen Leistungsberechtigten. Ein erwerbsfähiger Leistungsberechtigter ist
verpflichtet, eine ihm zumutbare Erwerbstätigkeit zur Verringerung der Hilfebedürftigkeit fortzuführen bzw. jede zumutbare
Tätigkeit i.S.v. § 10 SGB II anzunehmen. Die dem Antragsteller abverlangten Eigenbemühungen sind zumutbar. Art, Umfang und Intensität der zumutbar abzuverlangenden
Eigenbemühungen eines erwerbsfähigen Leistungsberechtigten bestimmen sich nach dem Einzelfall. Leistungsempfängern sind, unabhängig
von ihrer schulischen und beruflichen Bildung, grundsätzlich alle Arbeiten zur Überwindung ihrer Hilfebedürftigkeit und der
der Mitglieder ihrer Bedarfsgemeinschaft zumutbar (BSG Urteil vom 15.12.2010 - B 14 AS 92/09 R; vgl. auch Beschluss des Senats vom 20.03.2014 - L 19 AS 373/14 B ER). Persönlich Merkmale des Antragstellers, wie z. B. Alter, berufliche und fachliche Qualifikation, Gesundheitszustand,
Besonderheiten in der Einschränkung der Leistungsfähigkeit, die ihn bei den ihm obliegenden Eigenbemühungen um leidensgerechte,
sozialversicherungspflichtige und geringfügige Beschäftigungen einschränken, sind nicht erkennbar. Soweit der Antragsteller
nunmehr im Beschwerdeverfahren vorträgt, er sei aus gesundheitlichen Gründen gehindert gewesen, während des gesamten Zeitraums
vom 04.11.2014 bis zum 21.04.2015 sich zeitnah zu bewerben, genügt der pauschale Hinweis auf ein in den Verwaltungsakten des
Antragsgegners befindliches Gutachten, welches nicht den Gesundheitszustand des Antragstellers während der maßgeblichen Gültigkeitsdauer
betrifft, um eine subjektive Unzumutbarkeit von Bewerbungsbemühungen zu belegen bzw. glaubhaft zu machen. Die Anzahl der nachzuweisenden
Bewerbungsbemühungen ist nicht zu beanstanden (vgl. hierzu BSG im Urteil vom 31.01.2006 - B 11a AL 313/05 R).
Dieses Versäumnis ist dem Antragsteller auch subjektiv vorwerfbar (vgl. hierzu BSG Urteil vom 09.11.2010 - B 4 AS 27/10 R).
Der Senat vermag keinen wichtigen Grund i.S.v. § 31 Abs. 2 SGB II zu erkennen (zum Begriff des wichtigen Grundes, vgl. BSG Urteil vom 09.11.2010 - B 4 AS 27/10 R - SozR 4-4200 § 31 Nr 6). Gegen die Rechtmäßigkeit des eine Eingliederungsvereinbarung ersetzenden Verwaltungsaktes vom
04.11.2014 bestehen keine durchgreifenden Bedenken (vgl. zum Vorliegen eines wichtigen Grundes bei einer rechtswidrigen Eingliederungsvereinbarung:
LSG Hessen, Urteil vom 13.05.2015 - L 6 AS 132/14). Gegen die dem Antragsteller auferlegten Pflichten bestehen keine Bedenken. Die im Gegenzug vom Antragsgegner übernommene
Verpflichtung (u.a.) zur Unterstützung der Bewerbungsaktivitäten durch Übernahme von angemessenen nachgewiesenen Kosten für
schriftliche Bewerbungen sowie ggf. nachgewiesene Fahrtkosten zu Vorstellungsgesprächen steht in einem ausgewogenen Verhältnis
zu den Pflichten des Antragstellers. Aus dem Verwaltungsakt geht ausdrücklich hervor, dass die Kosten für schriftliche Bewerbungen
nach Maßgabe des §
16 Abs.
1 SGBI I i.V.m. §
44 SGB III übernommen werden, und auch die Übernahme von Reisekosten nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen geltend gemacht werden
kann. Eine weitere Konkretisierung der Kostenübernahmeregelung ist weder erforderlich noch möglich, da die Übernahme der angemessenen
Kosten bezogen auf den konkreten Einzelfall anhand der gesetzlichen Bestimmungen zu prüfen ist und eine weitere Konkretisierung
der Kostenübernahmeregelung ggf. das Recht des Betroffenen auf Würdigung der konkret geltend gemachten Kosten in unzulässiger
Weise beeinträchtigen würde (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 12.03.2013 - L 7 AS 40/13 B, vom 26.09.2014 - L 7 AS 201/14 NZB und vom 20.03.2014 - L 19 AS 373/14 B ER; LSG Bayern, Beschluss vom 08.07.2015 - L 16 As 381/15 B ER; siehe auch LSG Hessen, Urteil vom 13.05.2015 - L 6 AS 132/14). Der Antragsgegner ist auch berechtigt gewesen, den Verwaltungsakt zu erlassen. Nach den vorliegenden Verbis-Vermerken sind
die Verhandlungen zwischen dem Antragsteller und dem Antragsgegner gescheitert. den am 22.10.2014 ausgehändigten Entwurf einer
Eingliederungsvereinbarung hat der Antragsteller nicht innerhalb der Frist bis zum 30.10.2014 unterzeichnet.
Es handelt sich auch um eine wiederholte Pflichtverletzung i.S.v. § 31a Abs. 1 S. 3 SGB II, die mit dem vollständigen Entfall des AlgII-Anspruchs verbunden ist. Insoweit nimmt der Senat Bezug auf die erstinstanzlichen
Gründe (§
142 Abs.
2 S. 3
SGG). Der Minderungszeitraum ergibt sich aus § 31b Abs. 1 SGB II. Die Voraussetzungen für eine nachträgliche Herabsetzung der Sanktion auf einen Betrag von 60 % des maßgebenden Regelbedarfs
nach § 31a Abs. 1 S. 6 SGB II liegen nicht vor. Ergänzende Sachleistungen und geldwerte Leistungen nach § 31a Abs. 3 S. 1 SGB II wurden dem Antragsteller angeboten, wenngleich der Antragsteller hiervon noch keinen Gebrauch gemacht hat.
Die erforderliche schriftliche Belehrung über die Rechtsfolgen seines Tuns bzw. seiner Unterlassung wurde dem Antragsteller
in dem Bescheid vom 04.11.2014 erteilt. Die in einem einer Eingliederungsvereinbarung ersetzenden Verwaltungsakt enthaltene
Rechtsfolgenbelehrung muss konkret, richtig und vollständig sein und dem Leistungsberechtigten in verständlicher Form zutreffend
erläutern, welche unmittelbaren und konkreten Auswirkungen sich aus seinem Verhalten für ihn ergeben, wenn hierfür kein wichtiger
Grund vorliegt. Der Antragsteller ist in dem Bescheid vom 04.11.2014 klar und eindeutig darauf hingewiesen worden, dass ein
Verstoß gegen die unter Ziffer 2 des Bescheides aufgeführten Bemühungen den vollständigen Wegfall des AlgII-Anspruchs für
die Dauer von drei Monaten nach sich zieht. Damit sind dem Antragsteller für ein konkretes Fehlverhalten klar die Konsequenzen
vor Augen geführt worden.
Durchgreifende Anhaltspunkte für eine Verfassungswidrigkeit der Sanktionsregelungen des SGB II hat der Senat nicht (vgl. Beschluss des Senats vom 28.03.2013 - L 19 AS 458/13 B; LSG Bayern, Beschluss vom 08.07.2015 - L 16 S 381/15 B ER m.w.N. a. A. SG Gotha, Beschluss vom 26.05.2015 - S 15 AS 5157/14). Das
Grundgesetz gebietet nicht die Gewährung voraussetzungsloser Sozialleistungen (vgl. z.B. Nichtannahmebeschluss des Bundesverfassungsgerichts
vom 07.07.2010 - 1 BvR 2556/09). Auch das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum gewährleistet keinen von Mitwirkungsobliegenheiten und Eigenaktivität
unabhängigen Anspruch auf Sicherung eines Leistungsniveaus, das durchweg einen gewissen finanziellen Spielraum auch zur Pflege
zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben
gewährleistet. Der bei Art und Umfang der Möglichkeit zu dieser Teilhabe erweiterte Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers
lässt dem Grunde nach Raum für abgesenkte Leistungen bei Pflichtverletzungen und steht einem Sanktionssystem nicht schlechthin
entgegen. Von Verfassungs wegen ist eine Minderung bis hin zum Wegfall der ALG II-Geldleistungen nicht dem Grunde nach ausgeschlossen (Berlit in LPK - SGB II, 5. Aufl., § 31 Rn 13 f., § 31a Rn 3f). Dass bei dem vollständigen Entfall des Leistungsanspruchs zu beachtende Übermaßverbot, ist durch die Regelung des
§ 31a Abs. 3 SGB II gewahrt (vgl. hierzu LSG Bayern, Urteil vom 19.03.2014 - L 16 AS 383/11).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.