Zulässigkeit einer einstweiligen Anordnung im sozialgerichtlichen Verfahren zur Unterlassung von Werbeanrufen durch gesetzliche
Krankenkassen
Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes im Sinne einer besonderen Dringlichkeit – hier im Bereich des
Wettbewerbsrechts der Krankenkassen
Gründe
I.
Die Antragstellerin begehrt, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zur Unterlassung von Werbeanrufen zu
verurteilen.
Die Antragstellerin und die Antragsgegnerin sind Krankenkassen. Im Auftrag der Antragsgegnerin tätigte das Unternehmen "T
GmbH" mit Sitz in Erfurt (im Folgenden: Vermittlerin) jedenfalls in den Monaten Juni bis November 2020 Anrufe bei mehreren
Versicherten der Antragstellerin. Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Angerufenen zuvor ihr Einverständnis zu diesen
Anrufen erteilten. Die Antragsgegnerin macht insoweit geltend, dass die Angerufenen an Internet-Gewinnspielen teilgenommen
und dort ihre Einwilligung erteilt hätten. In den Telefongesprächen wurde für die Mitgliedschaft bei der Antragsgegnerin unter
Beendigung der Mitgliedschaft bei der Antragstellerin geworben. Weitere Einzelheiten der Gesprächsinhalte sind zwischen den
Beteiligten streitig. Das Auftragsverhältnis zwischen der Antragsgegnerin und der Vermittlerin endete zum 31. Dezember 2020.
Bereits seit dem 16. November 2020 führte die Vermittlerin keine Anrufe mehr für die Antragsgegnerin aus.
Mit E-Mail vom 16. Juli 2020 wandte sich die Justitiarin der Antragstellerin an die Antragsgegnerin und schilderte, dass seit
April 2020 Mitarbeiter bzw. Beauftragte der Antragsgegnerin vermehrt telefonisch Kontakt zu Versicherten der Antragstellerin
aufnähmen und versuchten, diese zu einem Kassenwechsel zu bewegen. Teilweise würden Geldzahlungen in erheblicher Höhe versprochen,
für die keine Rechtsgrundlage ersichtlich sei. Die Versicherten hätten der Antragstellerin gegenüber angegeben, dass sie für
diese Werbeanrufe vorab keine Einwilligung erteilt hätten. In der E-Mail wurden sieben Versicherte namentlich benannt, verbunden
mit einer Schilderung der Umstände des Anrufs.
Die Antragsgegnerin antwortete mit E-Mail vom 30. Juli 2020 und machte geltend, dass sämtliche Anrufe nicht von ihren Mitarbeitern
durchgeführt worden seien. Sie gehe vom Vorliegen einer Einwilligung aus. Die Vermittlerin habe dies bestätigt. In der E-Mail
wurde zu den sieben benannten Versicherten jeweils eine Stellungnahme abgegeben. In der Anlage übersandte die Antragsgegnerin
Gesprächsaufzeichnungen ("Voicefiles") der Telefonate.
Die Antragstellerin entgegnete mit E-Mail vom 5. August 2020, dass die Voicefiles sämtlich den gleichen, von den Mitarbeitern
der Vermittlerin vorgelesenen Text enthielten, der ebenso stereotyp bejaht werde. Sie gäben nicht den gesamten Gesprächsinhalt
wieder und widerlegten nicht, dass den Versicherten Geldzahlungen versprochen worden seien. Die Antragsgegnerin habe überdies
eine vorherige Anruferlaubnis nicht nachgewiesen. Die Antragstellerin verwies auf die "Gemeinsamen Wettbewerbsgrundsätze der
Aufsichtsbehörden der Gesetzlichen Krankenversicherungen". Danach dürften Werbemaßnahmen keinen belästigenden Charakter haben;
Werbeanrufe ohne vorherige Einwilligung seien unzulässig. Dies gelte unabhängig davon, ob die Anrufe durch die Krankenkasse
oder einen von ihr beauftragten Dritten durchgeführt würden. Zudem sei das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) heranzuziehen. Unzulässig sei danach eine unzumutbare Belästigung, was bei Werbeanrufen gegenüber einem Verbraucher ohne
dessen vorherige Einwilligung stets anzunehmen sei (§ 7 Abs. 2 Nr. 2 UWG). Eine derartige unzulässige Handlung begründe einen Anspruch des Mitbewerbers auf Beseitigung und Unterlassung (§ 8 Abs. 1 UWG). Dieser Anspruch bestehe auch, wenn die Zuwiderhandlung durch einen Beauftragten begangen worden sei (§ 8 Abs. 2 UWG). Deshalb habe die Antragsgegnerin dafür einzustehen, dass die von ihr beauftragten und von der Vermittlerin durchgeführten
Werbeanrufe ausschließlich auf der Grundlage vorheriger rechtswirksamer und ausdrücklicher Einwilligungen der angerufenen
Versicherten erfolgt seien und weiterhin erfolgten. Die Antragsgegnerin werde nochmals aufgefordert, für alle durchgeführten
Werbeanrufe mit den bisher genannten Versicherten die vorherige Einwilligung der Angerufenen mitzuteilen. Zwischenzeitlich
seien weitere 10 Versicherte der Antragstellerin ohne vorherige Anruferlaubnis angerufen worden. Dabei seien teilweise Prämienzahlungen
für den Krankenkassenwechsel versprochen worden.
Die Antragsgegnerin teilte - nachdem sie am 14. August 2020 um eine von der Antragstellerin bis zum 31. August 2020 gewährte
Fristverlängerung ersucht hatte - mit E-Mail vom 9. September 2020 mit, dass das Vorliegen der erforderlichen Einwilligungen
mit der Vermittlerin erörtert worden sei. Diese habe dargelegt, dass sie die Versicherten nur dann kontaktiere, wenn diese
einer werblichen telefonischen Kontaktaufnahme durch die Vermittlerin zuvor ausdrücklich mittels "Double Opt-In" zugestimmt
hätten. Durch das angewandte Verfahren werde sichergestellt, dass allein der tatsächliche Anschlussinhaber sein Werbeeinverständnis
erteilt habe. Die Antragsgegnerin wies darauf hin, dass sie in einem vor dem Landgericht Hamburg (416 HKO 100/19) geführten einstweiligen Anordnungsverfahren obsiegt habe, in dem sie von einer anderen Krankenkasse auf Unterlassung wegen
unerlaubter Werbeanrufe in Anspruch genommen worden sei. Die dort vorgelegte eidesstattliche Versicherung des betroffenen
Versicherten, wonach keine Einwilligung vorgelegen habe, habe sich als unwahr herausgestellt. Ähnliches werde sich auch in
dieser Sache erweisen. Allerdings könnten die Einwilligungserklärungen aus Datenschutzgründen ohne förmliche Abmahnung bzw.
außerhalb eines Gerichtsverfahrens nicht übermittelt werden.
Die Antragstellerin mahnte die Antragsgegnerin daraufhin mit Schreiben vom 2. Oktober 2020 ab. In dem Schreiben führte die
Antragstellerin 20 betroffene Personen auf, die ohne vorherige Einwilligung angerufen worden seien. Die Antragsgegnerin habe
mit den Werbeanrufen ohne vorherige Anruferlaubnis gegen das geltende Wettbewerbsrecht verstoßen. Nach §
4a Abs.
2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Krankenversicherung - (
SGB V) seien unlautere geschäftliche Handlungen der Krankenkassen unzulässig. Damit werde auf das UWG verwiesen und dessen Geltung auf den Wettbewerb der Krankenkassen erstreckt. Nach dem UWG seien Werbeanrufe gegenüber Verbrauchern ohne vorherige Einwilligung jedoch unzulässig. Eine Unzulässigkeit der Anrufe ergebe
sich auch aus den Gemeinsamen Wettbewerbsgrundsätzen. Sie, die Antragstellerin, habe einen Anspruch auf Unterlassung unzulässiger
Werbemaßnahmen anderer Krankenkassen. Sie habe sich im Rahmen der mit der Antragsgegnerin bestehenden Absprache um eine niedrigschwellige
Verständigung auf informeller Ebene bemüht, was gescheitert sei, da die Antragsgegnerin keine Nachweise der vorherigen Einwilligungen
beigebracht habe. Deshalb werde die Antragsgegnerin zur Vermeidung einer gerichtlichen Auseinandersetzung aufgefordert, bis
zum 15. Oktober 2020 die dem Schreiben beigefügte Unterlassungs-/Verpflichtungserklärung durch ihren Vorstand unterzeichnen
zu lassen.
Die Antragsgegnerin unterzeichnete die Unterlassungs-/Verpflichtungserklärung nicht. Sie wies die von der Antragstellerin
erhobenen Vorwürfe mit E-Mail vom 14. Oktober 2020 erneut zurück. Der Sachverhalt liege schon einige Zeit zurück. Der Geschäftsführer
der Vermittlerin habe der Antragsgegnerin bestätigt, dass für alle Fälle rechtssichere "Opt-Ins" vorgelegen hätten. Die benannten
Versicherten würden sicherlich die Teilnahme an Gewinnspielen, verbunden mit der Abgabe entsprechender Einwilligungserklärungen,
einräumen müssen. Da sich die Unterlassungserklärung auf Anrufe ohne vorherige Einwilligung beschränke, gehe sie davon aus,
dass die Vorwürfe bezüglich unzulässiger Gesprächsinhalte nicht mehr aufrechterhalten würden. Eine Übermittlung der Einwilligungserklärungen
könne nicht erfolgen. Dies setze eine Einwilligung durch den jeweiligen Betroffenen voraus.
Die Antragstellerin hat am 12. November 2020 vorläufigen Rechtsschutz beantragt. Sie wiederholt ihr Vorbringen aus der vorgerichtlich
erfolgten Korrespondenz mit der Antragsgegnerin. Ergänzend führt sie aus, dass am Ende der betroffenen Telefonate den Versicherten
jeweils ein Link des Dienstes "Insign" auf ihre Smartphones zugesandt werde, auf welchem sie eine Unterschrift leisten sollten.
Mit der Unterschrift werde die Mitgliedschaft bei der Antragstellerin gekündigt. Die telefonischen Abwerbeversuche fänden
fortlaufend und in großem Umfang statt, so dass neben der Antragstellerin auch andere gesetzliche Krankenkassen betroffen
seien. Mehrere betroffene Versicherungsträger hätten die Werbemaßnahmen bereits gegenüber dem Bundesamt für Soziale Sicherung,
der zuständigen Aufsichtsbehörde, moniert, was zu keiner Änderung des Wettbewerbsverhaltens geführt habe. Die Antragsgegnerin
bestreite die stattgefundenen Werbeanrufe nicht. Soweit sie sich im Gerichtsverfahren auf erfolgte Einwilligungen aufgrund
von Gewinnspielteilnahmen berufe und dazu Datensätze sowie eine Versicherung an Eides Statt des Geschäftsführers der Vermittlerin
vorgelegt habe, sei damit eine Einwilligungserklärung der betroffenen Versicherten im Einzelfall nicht nachgewiesen. Im Übrigen
verhielten sich die Datensätze nicht zu sechs von der Antragstellerin bezeichneten Personen. Die Antragsgegnerin trage als
werbendes Unternehmen nach § 7 Abs. 2 Nr. 2 UWG jedoch die Nachweis- und Beweislast für das Vorhandensein vorheriger Einwilligungen. Die vorgelegten Einwilligungserklärungen
seien zudem unwirksam, da sich aus diesen nicht klar ergebe, welche einzelnen Werbemaßnahmen welcher Unternehmen davon erfasst
würden. Aus dem Textzusammenhang ergebe sich zwar, dass die Vermittlerin telefonische Vermittlungsberatung und Vermarktung
von Versicherungsprodukten für Letztverbraucher betreibe. Daraus folge sich aber nicht ohne Weiteres, dass davon der Wechsel
des gesetzlichen Krankenversicherungsträgers erfasst sei. Dass die Antragsgegnerin das Auftragsverhältnis zur Vermittlerin
beendet habe, sei im Übrigen ohne Relevanz, da die Antragsgegnerin jederzeit ein anderes Unternehmen beauftragen könne und
der Dienstleister insoweit beliebig austauschbar sei.
In der Antragsschrift hat die Antragstellerin 41 Versicherte benannt, die ohne vorherige Erlaubnis angerufen worden seien
(20 in den Monaten Juni und Juli 2020, 21 in der Zeit von September bis Anfang November 2020).
Die Antragstellerin beantragt schriftsätzlich,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, es bei Meidung eines durch das Gericht für jeden
Einzelfall der Zuwiderhandlung festzusetzenden Ordnungsgeldes von bis 250.000 Euro, ersatzweise Ordnungshaft, oder Ordnungshaft
bis zu sechs Monaten, welche am Vorstand der Antragsgegnerin zu vollziehen ist, zu unterlassen, durch eigene Mitarbeiter oder
beauftragte Dritte Versicherte der Antragstellerin ohne deren vorherige ausdrückliche Einwilligung telefonisch zu Werbezwecken
zu kontaktieren, insbesondere, um diesen gegenüber für einen Wechsel der Krankenkassenmitgliedschaft zur Antragsgegnerin zu
werben.
Die Antragsgegnerin beantragt schriftsätzlich,
den Antrag abzulehnen.
Sie macht geltend, dass bereits ein Anordnungsanspruch nicht gegeben sei. Auch wenn im Rahmen des §
4a Abs.
7 Satz 4
SGB V eine Darlegungserleichterung bestehe, reiche der Vortrag der Antragstellerin nicht aus. Sie habe den Vorwurf wettbewerbswidrigen
Verhaltens nicht substantiiert. Ihr Vortrag beruhe auf angeblichen Einlassungen Dritter vom Hörensagen. Die Antragstellerin
teile zudem wahrheitswidrig nicht mit, dass die kontaktierten Personen vor den Anrufen im Rahmen eines Gewinnspiels in die
telefonische Kontaktaufnahme durch die Vermittlerin eingewilligt hätten. Es sei zwar zutreffend, dass die Vermittlerin in
der Vergangenheit Interessenten von Informationen über Versicherungsleistungen telefonisch kontaktiert und hierbei die Leistungen
der Antragsgegnerin vorgestellt habe. Dies habe auf der zum 31. Dezember 2020 beendeten Kooperation mit der Vermittlerin beruht.
Die Anrufe seien nur erfolgt, wenn zum Zeitpunkt des Werbeanrufes eine Einwilligungserklärung vorgelegen habe. Die Einwilligungen
seien erklärt worden im Rahmen der Teilnahme an Gewinnspielen, die von Juni bis November 2020 von der "V AG" mit Sitz in Tägerwilen
(Schweiz) durchgeführt worden seien. Die Identität der Einwilligenden mit den übermittelten Telefondaten sei durch das "CODE-Ident-Verfahren"
sichergestellt worden. Für alle angerufenen Personen hätten Einwilligungen vorgelegen. Diese seien auch wirksam, denn es werde
deutlich benannt, welches Unternehmen mit welchen Leistungen betroffen sei. Aufgrund der Einwilligung erwartbar seien Angebote
zur Änderung der persönlichen Versicherungssituation, was aufgrund der Wahlmöglichkeit auch die gesetzliche Krankenversicherung
betreffe. Die Antragsgegnerin habe sich auf die rechtskonforme Durchführung der Werbeanrufe durch die Vermittlerin verlassen
dürfen, insbesondere vor dem Hintergrund des Verfahrens vor dem Landgericht Hamburg. Aufgrund der Beendigung der Kooperation
zwischen der Antragsgegnerin und der Vermittlerin zum 31. Dezember 2020 und weil die Vermittlerin bereits seit dem 16. November
2020 keine Anrufe für die Antragsgegnerin mehr durchführe, fehle es zudem an einem Anordnungsgrund. Auch die Zeitspanne zwischen
Kenntnisnahme und Verfügungsantrag spreche gegen eine Dringlichkeit.
Die Antragsgegnerin hat eine Versicherung an Eides Statt von Herrn S J, Geschäftsführer der Vermittlerin, mit Datum vom 8.
Dezember 2020 sowie eine Erklärung der "V" AG vom 8. Dezember 2020 vorgelegt. Auf diese Erklärungen wird Bezug genommen. Wegen
der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vortrags der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakte Bezug genommen.
II.
A. Der Antrag bleibt ohne Erfolg. Er ist zulässig (dazu unter I.), aber unbegründet (dazu unter II.).
I. Der Antrag ist zulässig, insbesondere ist das Landessozialgericht nach §
29 Abs.
2 Nr.
5 Sozialgerichtsgesetz zuständig, wobei die Zuständigkeit auch für den einstweiligen Rechtsschutz gilt (Stotz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-
SGG, §
29 SGG (Stand: 25.08.2020), Rn. 20).
II. Der Antrag ist jedoch unbegründet. Das Vorliegen eines für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung erforderlichen
Anordnungsgrundes lässt sich auch unter Berücksichtigung der für die Antragstellerin geltenden Darlegungserleichterung (dazu
unter 1.) nicht mit dem für das Eilverfahren erforderlichen Beweismaßstab feststellen (dazu unter 2.).
1. a) Der Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich die Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache
(Anordnungsanspruch) sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung (Anordnungsgrund). Droht dem
Antragsteller bei Versagung des einstweiligen Rechtsschutzes eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in
seinen Rechten, die durch eine Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, so ist - erforderlichenfalls
unter eingehender tatsächlicher und rechtlicher Prüfung des im Hauptsacheverfahren geltend gemachten Anspruchs - einstweiliger
Rechtsschutz zu gewähren (vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 -; Senat, Beschlüsse vom 11. Oktober 2016 - L 11 KR 259/16 B ER -, 14. Januar 2015 - L 11 KA 44/14 B ER - und 12. August 2013 - L 11 KA 92/12 B ER -), es sei denn, dass ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen (BVerfG, Beschluss vom
16. Mai 1995 - 1 BvR 1087/91 -). Andererseits müssen die Gerichte unter Umständen wegen der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit Rechtsfragen nicht
vertiefend behandeln und ihre Entscheidung maßgeblich auf der Grundlage einer Interessenabwägung treffen können (Senat, Beschlüsse
vom 11. Oktober 2016 - L 11 KR 259/16 B ER -, 14. Januar 2015 - L 11 KA 44/14 B ER -, 12. August 2013 - L 11 KA 92/12 B ER - und 12.Oktober 2009 - L 11 B 17/09 KA ER -). Ferner darf oder muss das Gericht ggf. auch im Sinne einer Folgenbetrachtung bedenken, zu welchen Konsequenzen
für die Beteiligten die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes bei späterem Misserfolg des Antragstellers im Hauptsacheverfahren
einerseits gegenüber der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes bei nachfolgendem Obsiegen in der Hauptsache andererseits führen
würde (vgl. Senat, Beschlüsse vom 11.Oktober 2016 - L 11 KR 259/16 B ER -, 14. Januar 2015 - L 11 KA 44/14 B ER, 12. August 2013 - L 11 KA 92/12 B ER -, 21. Januar 2012 - L 11 KA 77/11 B ER - und 5. April 2018 - L 11 KR 651/17 B ER -).
b) Sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund sind nach Maßgabe des §
294 Abs.
1 Zivilprozessordnung (
ZPO) grundsätzlich glaubhaft zu machen (§
86b Abs.
2 Satz 4
SGG i.V.m. §
920 Abs.
2 ZPO). Für den hier betroffenen Bereich des Wettbewerbsrechts der Krankenkassen regelt §
4a Abs.
7 Satz 4
SGB V (in der Fassung vom 22. März 2020, in Kraft getreten zum 1. April 2020, BGBl. I 2020, 604) allerdings, dass zur Sicherung von Ansprüchen nach §
4a Abs.
7 Satz 1
SGB V einstweilige Anordnungen auch ohne die Darlegung und Glaubhaftmachung der in §
86b Abs.
2 Satz 1 und
2 SGG bezeichneten Voraussetzungen erlassen werden können.
(1) Der Anwendungsbereich von §
4a Abs.
7 Satz Satz 4
SGB V ist eröffnet. Gemäß §
4a Abs.
1 Satz 1
SGB V können Krankenkassen von anderen Krankenkassen die Beseitigung und Unterlassung unzulässiger Maßnahmen verlangen, die geeignet
sind, ihre Interessen im Wettbewerb zu beeinträchtigen. Einen solchen Unterlassungsanspruch aufgrund unzulässiger Maßnahmen
durch einen von der Antragsgegnerin Beauftragten macht die Antragstellerin vorliegend geltend.
(2) Aus §
4a Abs.
7 Satz 4
SGB V folgt eine widerlegliche Vermutung von Anordnungsanspruch und -grund. Bereits der Wortlaut ergibt, dass mit der Regelung
nicht auf das Vorliegen von Anordnungsanspruch und -grund verzichtet wird, sondern lediglich die antragstellende Krankenkasse
zunächst von deren Darlegung und Glaubhaftmachung befreit wird. Dafür spricht auch die Gesetzesbegründung, wonach die gerichtliche
Durchsetzung des Anspruchs dadurch erleichtert wird, dass einstweilige "Verfügungen" auch ohne Darlegung einer besonderen
Dringlichkeit erlassen werden können (vgl. BT-Drs. 19/15662, S. 70). Im Ergebnis kommt der Regelung damit die Wirkung einer
Vermutung des Vorliegens von Anordnungsanspruch und -grund zu, die jedoch von der Gegenseite durch entsprechenden Vortrag
und ggf. Beweis widerlegt werden kann (vgl. dazu Krasney in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-
SGB V, 4. Aufl., §
4a SGB V (Stand: 15.06.2020), Rn. 72, m.w.N.).
2. Ausgehend davon ist das Vorliegen eines Anordnungsgrundes im Sinne einer besonderen Dringlichkeit nicht glaubhaft gemacht.
Die durch §
4a Abs.
7 Satz 4
SGB V aufgestellte Dringlichkeitsvermutung ist widerlegt.
a) Der Senat legt insoweit die zu § 12 Abs. 1 UWG in der seit dem 2. Dezember 2020 geltenden Fassung durch Art. 1 Nr. 4 Buchst. c) des Gesetzes zur Stärkung des fairen Wettbewerbs vom 26. November 2020 (BGBl. I S. 2568) - n.F. - bzw. zu dem wortgleichen § 12 Abs. 2 UWG in der bis zum 1. Dezember 2020 maßgeblichen Fassung ergangene zivilgerichtliche Rechtsprechung zugrunde. Hierzu sieht er
sich insbesondere deshalb veranlasst und berechtigt, weil der Gesetzgeber des §
4a SGB V auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht eine erkennbar enge Anbindung an das UWG gesucht hat. So sind die Vorschriften des §4a Abs.
7 Satz 4
SGB V und des § 12 Abs. 1 UWG n.F. weitgehend gleich gefasst. Während § 12 Abs. 1 UWG n.F. u.a. auf §
940 ZPO verweist, der einstweilige Verfügungen zur Regelung eines einstweiligen Zustandes erfasst, nimmt §
4a Abs.
7 Satz 4
SGB V u.a. auf §
86b Abs.
2 Satz 2
SGG Bezug, der die einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands betrifft.
b) Nach allgemeiner Auffassung in der zivilgerichtlichen Rechtsprechung kann die Dringlichkeitsvermutung insbesondere dadurch
widerlegt werden, dass der Verletzte durch sein eigenes Verhalten zu erkennen gegeben hat, dass die Verfolgung des beanstandeten
Verstoßes für ihn selbst nicht eilig ist (vgl. zum Folgenden Spoenle in jurisPK-UWG, 5. Aufl. 2021, § 12 Rn. 8 ff. mit umfangreichen weiteren Nachweisen). Eine typische Fallgruppe ist dabei die zögerliche Verfahrenseinleitung.
Wer in Kenntnis der maßgeblichen Umstände und der ihm fortdauernd drohenden Nachteile ohne überzeugenden Grund längere Zeit
untätig geblieben ist und dadurch die Durchsetzung des Unterlassungsanspruchs verzögert, hat damit zu erkennen gegeben, dass
die Sache für ihn nicht so eilig ist (OLG Nürnberg, Beschluss vom 14. September 2018 - 3 U 1138/18 - GRUR-RR 2019, 131 - juris-Rn. 5; KG, Beschluss vom 2. Juni 2017 - 5 U 196/16 - juris-Rn. 4; OLG Hamm, Urteil vom 27. Januar 2011 - 4 U 183/10 - juris-Rn. 52; OLG Frankfurt, Urteil vom 14. August 2008 - 1 U 27/08 - juris-Rn. 3; jeweils m.w.N.).
Abzustellen ist dabei auf die Zeitspanne zwischen der Erlangung der Kenntnis der Person des Verletzers und den maßgeblichen
Umständen der Verletzungshandlung bis zur Einreichung des Antrags auf einstweilige Anordnung (OLG Düsseldorf, Urteil vom 21.
April 1998 - 20 U 155/97 - juris-Rn. 5; OLG Hamburg, Urteil vom 20. September 2012 - 3 U 53/11 - WRP 2013, 196 - juris-Rn. 28; jeweils m.w.N.). Maßgeblich ist nach allgemeinen Grundsätzen die Kenntnis der zuständigen Personen in der
jeweils betroffenen Krankenkasse, die dieser in entsprechender Anwendung von § 166 Abs. 1 Bürgerliches Gesetz zuzurechnen
ist.
Wann Untätigkeit über einen "längeren" Zeitraum besteht, wird von den einzelnen Oberlandesgerichten im Detail unterschiedlich
beurteilt (vgl. die Rechtsprechungsübersicht bei Spoenle, a.a.O., Rn. 17 f.). Zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung
im Lande Nordrhein-Westfalen orientiert sich der erkennende Senat insoweit in erster Linie an der Spruchpraxis der nordrhein-westfälischen
Oberlandesgerichte. Nach der Rechtsprechung des OLG Düsseldorf ist die Dringlichkeit im Allgemeinen bei einem Zuwarten von
mehr als zwei Monaten widerlegt (Urteil vom 25. November 2014 - 20 U 154/14 - juris-Rn. 21). Das OLG Hamm geht - unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Einzelfalles - regelhaft von einer Monatsfrist
aus (vgl. Urteil vom 10. September 2013 - 4 U 48/13 - juris-Rn. 82 m.w.N.). Ebenfalls unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles nimmt das OLG Köln an, dass die Dringlichkeitsvermutung
noch eingreift, wenn die Monatsfrist nicht überschritten ist (Urteil vom 13. Mai 2015 - 6 W 16/15 - juris-Rn. 15). Ausgehend davon ist die Dringlichkeitsvermutung jedenfalls dann als widerlegt anzusehen, wenn zwischen der
Kenntnis vom (mutmaßlichen) Wettbewerbsverstoß und der Einleitung des einstweiligen Anordnungsverfahrens mehr als zwei Monate
liegen, wenn nicht besondere Umstände des Einzelfalles ein längeres Zuwarten rechtfertigen.
Die Regelung des §
4a Abs.
4 Satz 2
SGB V, wonach die zur Geltendmachung des Anspruchs berechtigte Krankenkasse die Schuldnerin vor der Einleitung eines gerichtlichen
Verfahrens abmahnen und ihr Gelegenheit geben soll, den Streit durch Abgabe einer mit einer angemessenen Vertragsstrafe bewehrten
Unterlassungsverpflichtung beizulegen, gebietet es nicht, abweichende Maßstäbe anzulegen. Denn eine entsprechende Soll-Verpflichtung
besteht in Gestalt von § 13 Abs. 1 UWG auch im "allgemeinen" Wettbewerbsrecht.
c) Ausgehend von diesen Grundsätzen ist die Frist von zwei Monaten zwischen Kenntnis von dem angeschuldigten Wettbewerbsverstoß
und Einreichung des Antrags auf einstweilige Anordnung überschritten, ohne dass dafür ein rechtfertigender Grund zu erkennen
ist. Dies gilt bereits ausgehend von dem eigenen Vortrag der Antragstellerin.
Es bestehen zunächst keine Bedenken, von der Kenntnis der Mitarbeitenden des Fachbereichs Recht der Antragstellerin auszugehen.
Dort war - wie die E-Mail vom 16. Juli 2020 belegt - bereits Mitte Juli der behauptete Wettbewerbsverstoß der Antragsgegnerin
im Wesentlichen bekannt. Aufzuklären war allein, ob wirksame Einwilligungen der betroffenen Versicherten mit den telefonischen
Kontaktaufnahmen vorlagen. Solche hatte die Antragsgegnerin nach Einschätzung der Antragstellerin jedenfalls mit ihrer ersten
Reaktion, der E-Mail vom 30. Juli 2020, nicht beigebracht. Mit ihrer weiteren E-Mail vom 9. September 2020 verweigerte die
Antragsgegnerin nach Beurteilung der Antragstellerin erneut den Nachweis vorliegender Einwilligungserklärungen. Wie die Antragstellerin
selbst vorträgt, betrachtete sie zu diesem Zeitpunkt den "Versuch einer informellen Klärung" als gescheitert. Gleichwohl hat
sie den Erlass einer einstweiligen Anordnung erst am 11. November 2020 und damit nach Ablauf von mehr als zwei Monaten beantragt.
Die zwischenzeitliche - gleichfalls erfolglose - Durchführung des Abmahnverfahrens rechtfertigt dieses Abwarten schon deshalb
nicht, weil es in keiner Weise der weiteren Aufklärung des Sachverhaltes gedient hat.
3. Angesichts dessen kann es im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben, ob es, möglicherweise mit Blick auf den im sozialgerichtlichen
Verfahren herrschenden Amtsermittlungsgrundsatz, aber auch mit Blick auf die verfahrensrechtliche Ausgestaltung des einstweiligen
Rechtsschutzes im Übrigen das Wettbewerbsrecht der Krankenkassen betreffende bereichsspezifische Ausnahmen gibt, in denen
abweichend von der zivilgerichtlichen Rechtsprechung die Dringlichkeitsvermutung als widerlegt anzusehen ist. Insbesondere
bedarf es keiner Entscheidung des Senates, ob die Beendigung des Vertragsverhältnisses zwischen der Antragsgegnerin und der
Vermittlerin ohne aktuelle Anhaltspunkte für eine Fortführung der von der Antragstellerin beanstandeten Werbeanrufpraxis hierzu
ggf. geeignet wäre.
C. Die Festsetzung des Streitwertes folgt aus §
197a SGG i.V.m. §§ 52 Abs. 2 Gerichtskostengesetz. Danach ist ein Streitwert von 5.000,00 EUR anzunehmen, wenn der Sach- und Streitstand für die Bestimmung des Streitwerts
keine genügenden Anhaltspunkte bietet. So liegt es hier. Das zu Grunde liegende wirtschaftliche Interesse der Antragstellerin
hat diese nicht beziffert. Auch das Gericht sieht keine Anhaltspunkte für eine Bezifferung.
D. Der Beschluss ist nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht anfechtbar (§
177 SGG).