Anspruch auf Krankengeld in der gesetzlichen Krankenversicherung
Nachsichtgewährung nach einer Verletzung der Meldepflichten durch den Versicherten
Überlassung von Freiumschlägen an Vertragsärzte zur Erfüllung der Meldeobliegenheiten
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um das Ruhen des Anspruchs auf Krankengeld i.H.v. 764,64 EUR für die Zeit vom 5.3. bis 22.3.2016.
Die 1962 geborene und bei der Beklagten gegen Krankheit versicherte Klägerin steht in einem ungekündigten Beschäftigungsverhältnis
als Verwaltungsangestellte bei der Stadt S. Sie erkrankte ab dem 15.1.2015 arbeitsunfähig. Die Arbeitsunfähigkeit wurde von
dem Allgemeinmediziner Dr. B. durchgehend bis zum 29.6.2018 festgestellt. Nach Ablauf der Lohnfortzahlung bewilligte die Beklagte
abschnittsweise Krankengeld.
Zum Versenden von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (fortan: AU-Bescheinigungen) nutzte Dr. B. etwa 20 Jahre lang die ihm
von der Beklagten zur Verfügung gestellten Freiumschläge. Auf diesen war die Adresse der Beklagten vorgedruckt. In der Praxis
wurden die AU-Bescheinigungen in den Freiumschlägen gesammelt, bis diese voll waren. Dr. B. wies seine Angestellten an, die
Umschläge spätestens am Ende einer Woche dem täglich von der Deutschen Post in der Praxis erscheinenden Postboten mitzugeben.
An Freitagen kommt der Postbote am Nachmittag. Dr. B. hat freitags nur vormittags Sprechstunde.
Die Arbeitsunfähigkeit der Klägerin attestierte Dr. B. bis zum 31.12.2015 ausschließlich auf Auszahlscheinen. Die Klägerin
gab diese immer persönlich bei der Beklagten in der Geschäftsstelle S. ab.
Ab dem 1.1.2016 attestierte Dr. B. die Arbeitsunfähigkeit der Klägerin auf AU-Bescheinigungen. Er bescheinigte der Klägerin
am 29.1.2016 Arbeitsunfähigkeit bis zum 4.3.2016 und erklärte ihr, dass er die AU-Bescheinigungen in den Freiumschlägen an
die Beklagte senden könne; dies sei eine lang bewährte Praxis. Die Klägerin gab die Bescheinigung persönlich am gleichen Tag
bei der Beklagten ab und erkundigte sich dort, ob es in Ordnung sei, wenn der Arzt die AU-Bescheinigung in Freiumschlägen
an die Beklagte versende. Dies wurde bejaht. Die Beklagte bewilligte der Klägerin Krankengeld bis zum 4.3.2016.
Am Vormittag des 4.3.2016 hatte die Klägerin vormittags einen Termin bei Dr. B. Dieser attestierte weiterhin Arbeitsunfähigkeit
bis zum 1.4.2016. Die Klägerin gab den für die Beklagte bestimmten Teil der AU-Bescheinigung den Mitarbeiterinnen der Beklagten
zur Weiterleitung an die Beklagte im Freiumschlag. Die AU-Bescheinigung ging bei der Beklagten nicht ein.
Die für die Klägerin zuständige Sachbearbeiterin der Beklagten, Frau A, rief die Klägerin am 22.2.2016 an und erklärte, ihr
sei aufgefallen, dass die erneute AU-Bescheinigung der Klägerin nicht vorliege. Die Klägerin begab sich am 23.3.2016 zu Dr.
B. und erbat ein Duplikat der AU-Bescheinigung vom 4.3.2016, welches sie persönlich am 23.3.2016 bei der Beklagten einreichte.
Mit Bescheid vom 30.3.2016 bewilligte die Beklagte der Klägerin Krankengeld für die Zeit vom 23.3. bis 30.3.2016, stellte
aber zugleich das Ruhen des Anspruchs auf Krankengeld vom 5.3.-22.3.2016 fest, da die Arbeitsunfähigkeit nicht binnen einer
Woche nach ihrer Feststellung angezeigt worden sei.
Mit ihrem Widerspruch wandte die Klägerin ein, Dr. B. reiche die AU-Bescheinigungen immer direkt bei der Beklagten ein. Bisher
habe alles reibungslos geklappt. Ihr Arzt habe ihr auch hinsichtlich der letzten AU-Bescheinigung versichert, dass seitens
seiner Praxis alles korrekt gelaufen sei.
Gegen den zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 25.4.2016 hat die Klägerin am 11.5.2016 Klage erhoben. Ihr sei sowohl seitens
der Beklagten als auch des Dr. B. Ende 2015 mitgeteilt worden, dass man nunmehr keine Auszahlungsscheine mehr einzureichen
brauche, da die Korrespondenz zwischen Arzt und Kasse abgewickelt werde. Dies habe im Januar und Februar auch problemlos geklappt.
Da sie tatsächlich im streitigen Zeitraum au gewesen sei, verlange sie nichts Unrechtes und habe auch darauf vertrauen dürfen,
dass der ihr angetragene Ablauf störungsfrei funktioniere. Nach dem Vorfall habe sie die AU-Bescheinigung immer selbst bei
der Beklagten abgegeben und sich den Erhalt auf einer Kopie bestätigen lassen.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, ihr unter Aufhebung des Bescheids vom 30.3.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom
25.4.2016 Krankengeld für den Zeitraum vom 5.3.2016 bis 22.3.2016 zu gewähren nach den gesetzlichen Bestimmungen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat betont, dass die seit dem 1.1.2016 ausschließlich zu verwendenden AU-Bescheinigungen den Hinweis enthielten, dass
der Anspruch auf Krankengeld ruhe, wenn die AU-Bescheinigung verspätet bei der Krankenkasse vorgelegt werde. Die Folgen einer
verspäteten Meldung habe der Versicherte zu tragen. Dieses Übermittlungsrisiko habe sich für die Klägerin realisiert, da die
Original-AU-Bescheinigung nie eingegangen sei. Anlass, von einer Beweislastumkehr hinsichtlich des Zugangs der Bescheinigung
auszugehen, gebe es nicht. Zwar habe sie vor dem Hintergrund des §
5 Entgeltfortzahlungsgesetz (EntgFG) als Service für die Ärzte ein Freiumschlagssystem eingeführt. Dieses sei jedoch wegen der vielen Klageverfahren
Mitte 2016 wieder eingestellt. Eine Vereinbarung mit Vertragsärzten dahingehend, dass diese den Versicherten die Obliegenheit
der Meldung der Arbeitsunfähigkeit abnehmen sollten, habe es zu keinem Zeitpunkt gegeben. Ein Fehlverhalten der Ärzte sei
ihr auch nicht zuzurechnen.
Das SG hat Dr. B. im Erörterungstermin vom 16.5.2017 als Zeugen vernommen. Hinsichtlich der Einzelheiten seiner Aussage wird auf
das Sitzungsprotokoll verwiesen. Die Beteiligten haben sich in dem Termin mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung
einverstanden erklärt.
Das SG hat die angegriffenen Bescheide mit Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 11.9.2018 insoweit aufgehoben, als darin die Zahlung
von Krankengeld für die Zeit vom 5.3. bis 22.3.2016 ablehnt worden war, und der Klage auf Zahlung des Krankengeldes stattgegeben.
Es hat sich der Rechtsauffassung des erkennenden Senats in der Entscheidung vom 26.4.2018 angeschlossen (Aktenzeichen: L 5 KR 783/17, Revision anhängig unter B 3 KR 13/18 R: siehe auch L 5 KR 265/17 - Revision anhängig: B 3 KR 6/18 R; L 5 KR 771/18 - Revision anhängig: B 3 KR 18/18 R und L 5 KR 151/17 - Revision anhängig: B 3 KR 17/18 R). Die Klägerin habe alles Zumutbare getan, um ihren Anspruch auf Krankengeld über den 4.3.2016 hinaus zu sichern. Sie habe
darauf vertrauen dürfen, dass die ihr bekannte und seit Jahren von Dr. B. geübte Praxis mit den Freiumschlägen weiterhin reibungslos
funktioniere.
Gegen das ihr am 23.10.2018 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 26.10.2018 Berufung eingelegt. Nach ständiger Rechtsprechung
des BSG handele es sich bei der Meldung der Arbeitsunfähigkeit um eine Obliegenheit des Versicherten. Der Versicherte habe selbst
dann keinen Anspruch auf Krankengeld, wenn er den verspäteten Zugang der AU-Bescheinigung nicht verschuldet habe.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 11.9.2018 abzuändern und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie nimmt auf die Ausführungen des erstinstanzlichen Urteils Bezug. Am 29.1.2016 sei ihr sowohl von Dr. B. als auch von der
Beklagten auf ausdrückliche Nachfrage hin versichert worden, dass sie die AU-Bescheinigung über das Freiumschlagssystem durch
Dr. B. versenden lassen könne.
Dr. B. hat auf Nachfrage des Senats erklärt, keine Freiumschläge mehr zu haben und auch nicht zu wissen, mit welcher Adresse
diese bedruckt gewesen seien.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- uns Streitstands wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten und die Gerichtsakte,
die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist zulässig. Insbesondere wird der nach §
144 Abs.
1 Satz 1 Nr.1
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) erforderliche Wert des Beschwerdegegenstands erreicht.
Die Berufung ist unbegründet.
Das Sozialgericht hat der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage gegen den Bescheid vom 30.3.2016 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheids vom 25.4.2016 zu Recht mit Urteil vom 11.9.2018 stattgegeben. Denn die angegriffenen Bescheide sind
im Umfang der Aufhebung rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten nach §
54 Abs.
2 S.1
SGG. Sie hat für die Zeit vom 5.3. bis 22.3.2016 Anspruch auf Krankengeld.
Die Voraussetzungen für den Anspruch auf Krankengeld ergeben sich aus den Regelungen des Zweiten Titels des Fünften Abschnitts
des Dritten Kapitels des
SGB V (§§
44 ff.
SGB V), die hier in der mit dem 23.07.2015 in Kraft getretenen Fassung des GKV-Versorgungsstärkungsgesetz (BGBl. I 2015, 1211-1244; BR-Drs. 641/14) zur Anwendung gelangen. Danach setzt der Anspruch auf Krankengeld zunächst voraus, dass die Arbeitsunfähigkeit
der Klägerin ärztlich festgestellt wurde und sie weiterhin gegen das Risiko der Arbeitsunfähigkeit bei der Beklagten versichert
gewesen ist (vgl. §
44 Abs.
1 SGB V). Beides ist vorliegend unstreitig der Fall, da die Klägerin in einem ungekündigten Beschäftigungsverhältnis steht und Arbeitsunfähigkeit
vom 5.3. bis 22.3.2016 durch Dr. B. festgestellt worden war.
Der Krankengeldanspruch der Klägerin ruhte vom 5.3.- 22.3.2016 nicht nach §
49 Abs.
1 Nr.
5 SGB V.
Gem. §
49 Abs.
1 Nr.
5 SGB V ruht der Anspruch auf Krankengeld, solange die Arbeitsunfähigkeit der Krankenkasse nicht gemeldet wird; dies gilt nicht,
wenn die Meldung innerhalb einer Woche nach Beginn der Arbeitsunfähigkeit erfolgt.
Der Klägerin kann einen Zugang der Original-AU-Bescheinigung vom 4.3.2016, die wahrscheinlich auf dem Postweg verloren gegangen
ist, nicht nachweisen. Den Zugang des Duplikats kann sie nicht vor dem 23.3.2016 belegen. Eine Wiedereinsetzung in die Wochenfrist
scheidet aus, weil es sich bei dieser um eine Ausschlussfrist handelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.10.1981 - 3 RK 59/80 Rn. 22; Brinkhoff in jurisPK-
SGB V, Stand: 23.02.2016, §
49 Rn. 47 m.w.N.; Noftz in Hauck/Noftz,
SGB V, Stand: Erg.-Lfg. 10/14 X/14, K §
49 Rn. 63).
Unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des BSG, der sich der erkennende Senat in diesem Zusammenhang (wie auch schon in seinen bereits zitierten Urteilen: L 5 KR 783/17, anhängig unter B 3 KR 13/18 R; L 5 KR 265/17, anhängig unter B 3 KR 6/18 R; L 5 KR 771/18, anhängig unter B 3 KR 18/18 R und L 5 KR 151/17, anhängig unter B 3 KR 17/18 R) anschließt, ist es der Beklagten hier jedoch verwehrt, sich auf den Fristablauf zu berufen. Grundlage dafür ist das in dem
Grundsatz von Treu und Glauben (§
242 BGB) wurzelnde Institut der Nachsichtgewährung. Eine Nachsichtgewährung kommt nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts
(vgl. Urteil vom 28.10.1981 - 3 RK 59/80 Rn. 20, 22 m.w.N.) in Betracht, wenn dafür besondere Gründe vorliegen und die vom Gesetzgeber mit der Ausschlussfrist verfolgten
Ziele und die dabei zu berücksichtigenden Interessen nicht entgegenstehen. Denn in solchen Fällen kann sich die Berufung des
Versicherungsträgers auf die Ausschlussfrist als rechtsmissbräuchlich darstellen (vgl. BSG a.a.O. Rn. 22). Sinn und Zweck des §
49 Abs.
1 Nr.
5 SGB V ist es - ebenso wie des §
46 S. 1
SGB V -, Missbrauch und praktische Schwierigkeiten zu vermeiden, zu denen die nachträgliche Behauptung einer AU und deren rückwirkende
Bescheinigung beitragen können (vgl. BSG, Urteil vom 08.11.2005 - B 1 KR 30/04 R Rn. 14 f., 17).
Davon ausgehend hat das Bundessozialgericht (Urteil vom 28.10.1981 - 3 RK 59/80 Rn. 23 ff.) für die Vorgängerregelung zu §
49 Nr.
5 SGB V (§ 216 Abs. 3
RVO) und in nachfolgenden Entscheidungen zu §
49 Nr.
5 SGB V (vgl. etwa BSG, Urteil vom 8.11.2005 - B 1 KR 30/04 R Rn. 15 ff.) zwar entschieden, dass die Meldeobliegenheit - ebenso wie §
46 S. 1
SGB V - stets strikt auszulegen ist (BSG, Urteil vom 16.12.2014 - B 1 KR 35/14 R m.w.N.) und sich Versicherte bei unterbliebener oder verzögerter Meldung auch nicht auf fehlendes (eigenes) Verschulden (etwa
wegen unvorhersehbar langer Postlaufzeiten) berufen können (vgl. Urteil vom 28.10.1981 - 3 RK 59/80 Rn. 23 und Urteil vom 08.11.2005 - B 1 KR 30/04 Rn. 17 - jeweils m.w.N.).
Daraus, dass das Gesetz die Meldung der AU grundsätzlich dem Verantwortungsbereich des Versicherten zuweist, ergibt sich jedoch
nicht, dass der Krankenkasse kein eigener Verantwortungsbereich mehr verbleibt. Vielmehr kann der Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes
unter Umständen dem Ruhen des Krankengeldanspruches entgegenstehen. Ein Ruhen des Krankengeldanspruchs ist nicht gerechtfertigt,
wenn ein Versicherter die AU rechtzeitig "gemeldet" hat, der Zugang der Meldung aber durch Umstände verhindert oder verzögert
wurde, die dem Verantwortungsbereich der Krankenkasse und nicht dem des Versicherten zuzurechnen sind (BSG, Urteil vom 28.10.1981 - 3 RK 59/80 Rn. 24).
Die Voraussetzungen für eine Nachsichtgewährung bei Versäumung der Meldefrist hat das BSG (Urteil vom 08.11.2005 - B 1 KR 30/04 R Rn. 22) folgendermaßen konkretisiert: Hat der Versicherte alles in seiner Macht stehende und ihm Zumutbare getan, um seine
Ansprüche zu wahren, wurde er daran aber durch eine von der Krankenkasse zu vertretende Fehlentscheidung gehindert und macht
er seine Rechte bei der Kasse unverzüglich (spätestens innerhalb der zeitlichen Grenzen des §
49 Abs.
1 Nr.
5 SGB V) nach Erlangung der Kenntnis von dem Fehler geltend, kann er sich auf die Fehlentscheidung auch zu einem späteren Zeitpunkt
berufen.
Diese Kriterien entsprechen im Wesentlichen auch den Grundsätzen, die in der neueren Rechtsprechung des BSG (vgl. Urteil vom 11.05.2017 - B 3 KR 22/15 R) zu der gleich gelagerten (s.o.) Bestimmung des §
46 S. 1
SGB V entwickelt worden sind und finden auch auf den hier vorliegenden Fall Anwendung. Danach hat die Klägerin im vorliegenden
Fall alles ihr Mögliche und Zumutbare getan, um ab dem 5.3.2016 wieder einen Anspruch auf Krankengeld zu haben.
Die Klägerin hat sich am Vormittag des 4.3.2016 in die Sprechstunde des Dr. B. begeben, wo sie weiter bis zum 1.4.2016 Arbeitsunfähigkeit
festgestellt wurde. Nach den Angaben der Klägerin, die auch anhand der Auszahlscheine in den Verwaltungsakten belegt sind,
hat sie diese bis zum Ende des Jahres 2015 immer selbst bei der Beklagten abgegeben. Als Dr. B. am 29.1.2016 erklärte, er
werde die nunmehr zu verwendenden AU-Bescheinigungen mittels Freiumschlag an die Beklagte senden, hat sie die ihr an diesem
Tag ausgehändigte AU-Bescheinigung nochmals persönlich bei der Beklagten abgegeben, um sich auch dort zu erkundigen, ob sie
das System mit den Freiumschlägen nutzen könne. Dass diese Frage bejaht wurde, hat die Beklagte nicht bestritten. Es ist nicht
ersichtlich, weshalb die Klägerin ihrem ihr seit Jahren bekannten Hausarzt oder der Beklagten, die dessen Auskünfte bestätigte,
hätte misstrauen sollen. Da die Klägerin an einem Freitagvormittag in der Praxis die AU-Bescheinigungen an die Mitarbeiterinnen
des Dr. B. gab, durfte sie auch darauf vertrauen, dass diese (in dem Freiumschlag) spätestens Freitagmittag von dem Postboten
der Deutschen Post abgeholt werden würde, da ihr dies als langjährige funktionierende Praxis beschrieben worden war. Weil
es in der Praxis des Dr. B. noch nie zuvor zu Schwierigkeiten mit den Freiumschlägen gekommen war, musste die Klägerin auch
nicht damit rechnen, dass gerade ihre AU-Bescheinigung verloren gehen würde. Es überspannte die an sie zu stellenden Sorgfaltsanforderungen,
wenn man von ihr verlangte, sie hätte sich entgegen der bisher geübten - und von der Beklagte gebilligten - Praxis eine Kopie
der AU-Bescheinigung von Dr. B. bzw. dessen Mitarbeitern aushändigen lassen und diese an die Beklagte schicken müssen.
Eine (Fehl)Entscheidung der Beklagten, die die Klägerin im vorliegenden Fall daran hinderte, ihren Krankengeldanspruch zu
wahren, liegt ebenfalls vor. Denn die Praxis der Beklagten, Dr. B. Freiumschläge zur Übermittlung von AU-Bescheinigungen an
sie zu überlassen, hinderte die Klägerin an der Wahrung ihres Krankengeldanspruches.
Die Beklagte hat mit der Überlassung der Freiumschläge an Vertrags- bzw. Knappschaftsärzte deutlich zum Ausdruck gebracht,
dass sie die Erfüllung der Meldeobliegenheit für ihre Versicherten erleichtern wollte, indem sie einen kostenfreien Meldeweg
über den Vertrags-/Knappschaftsarzt eröffnete. Ist dies der Fall, erscheint es - unabhängig von zivilrechtlichen Zurechnungsregeln
- offenbar treuwidrig, sich darauf zu berufen, wenn auf diesem von ihr (ohne Not) eröffneten besonderen Übermittlungsweg ein
Fehler passiert, der zur Versäumung der Meldefrist führt.
Dieses Ergebnis steht nicht in Widerspruch zu dem Grundsatz, dass das Risiko einer fehlenden oder verspäteten Übermittlung
einer AU-Bescheinigung (grundsätzlich) den Versicherten zur Last fällt. Der maßgebende, eine abweichende Beurteilung rechtfertigende
Unterschied liegt darin, dass die Beklagte einen gesonderten Übermittlungsweg für die Versicherten eröffnet hat. Auch wenn
dieser nicht verpflichtend war, hat sie damit die Übermittlung und damit auch das Risiko eines Versagens aus der Sphäre der
Versicherten in ihre Sphäre überführt.
Den Einwand der Beklagten, die Übersendung der Bescheinigungen für die Versicherten stelle in dem vorliegenden Zusammenhang
eine reine Serviceleistung der Ärzte dar, die weder im Auftrag noch auf Veranlassung der Beklagten erfolge, sondern von den
Ärzten eigenverantwortlich angeboten und durchgeführt werde, ist kaum noch nachvollziehbar. Es stellt schlichtweg ein gröblich
widersprüchliches Verhalten dar, durch die Überlassung von Freiumschlägen einen gesonderten - und damit offenbar gewünschten
- Übermittlungsweg zu eröffnen, gleichzeitig aber zu behaupten, dies nicht veranlasst zu haben, wenn dieser Übermittlungsweg
dann beschritten wird. Von einer ärztlichen Serviceleistung könnte allenfalls dann gesprochen werden, wenn Dr. B. die Übersendung
der AU-Bescheinigung eigenständig initiiert und auf eigene Kosten übernommen hätte. So verhält es sich hier jedoch unstreitig
gerade nicht.
Ob in der Überlassung der Freiumschläge ein Auftrag im zivilrechtlichen Sinne zu sehen oder Dr. B. als Erfüllungs- oder Verrichtungsgehilfe
tätig geworden sein könnte, bedarf keiner Erörterung. Auch um die Zurechnung eines (etwaigen) vertragsärztlichen Fehlverhaltens
geht es nicht. Es kommt allein darauf an, dass die Beklagte selbst rein tatsächlich eine Ursache gesetzt hat, die eine Berufung
auf die Versäumung der Meldefrist treuwidrig erscheinen lässt.
Klarstellend ist mit Blick auf das Urteil des BSG vom 04.03.2014 - B 1 KR 17/13 R, wonach ein vertragsärztliches Fehlverhalten nicht ohne weiteres der Krankenkasse zugerechnet werden kann, darauf hinzuweisen,
dass es sich dort um ein von der Krankenkasse nicht veranlasstes vertragsärztliches Fehlverhalten handelte. Auf (möglicherweise)
parallel bestehende, unsichere Regressansprüche gegen Vertragsärzte müssen sich Versicherte - und damit hier die Klägerin
- grundsätzlich nicht verweisen lassen (vgl. BSG, Urteil vom 11.05.2017 - B 3 KR 22/15 R).
Die Kostenentscheidung beruht auf §§
193 Abs.
1 S. 1, 183
SGG.
Die Revision ist wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache zuzulassen; §
160 Abs.
2 Nr.
1 SGG.