Entschädigung wegen der Dauer eines sozialgerichtlichen Verfahrens
Kompensation einer Verzögerung
Vielzahl von Verfahren
Tatbestand
Im Streit steht eine Entschädigung wegen der Dauer eines sozialgerichtlichen Verfahrens (Ausgangsverfahren S 12 AS 552/12).
Die Klägerin steht seit 2005 im laufenden Bezug von Leistungen nach dem SGB II. Das Jobcenter lehnte die Erstattung von Fahrkosten ab. Das Klageverfahren nahm folgenden Verlauf:
8.8.2012
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Klageerhebung (auf Zahlung von Fahrkosten von 14,30 €).
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9.8.2012
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Übersendung der Klageschrift an Beklagten.
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20.9.2012
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Eingang der Klageerwiderung.
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21.9.2012
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Weiterleitung an die Klägerin zur Kenntnis und Stellungnahme binnen 5 Wochen.
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18.9.2012
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Befangenheitsantrag der Klägerin gegen RSG B..
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26.9.2012
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Hinweis des RSG Gr., dass der Befangenheitsantrag nicht ausreichend begründet sei.
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27.9.2012
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Hinweis des RSG Gr., dass in allen von den Ablehnungsgesuchen betroffenen Verfahren die Eingänge künftig dem Vorsitzenden der Kammer 12 zur
Kenntnisnahme und Entscheidung, ob das Tätigkeitsverbot des § 47 Absatz 1 ZPO eingreife, vorgelegt würden.
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11.10.2012
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Stellungnahme Beklagter.
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31.10.2012
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Stellungnahme Klägerin.
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31.10.2012
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Anfrage des SG, ob im Hinblick auf eine Änderung im Vorsitz der Kammer 12 zum 1.12.2012 der Befangenheitsantrag aufrechterhalten bleibt.
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19.11.2012
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Klägerin bittet um Fristverlängerung.
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27.11.2012
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Stellungnahme Klägerin: Zweifel an der Wirksamkeit des Geschäftsverteilungsplans.
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28.11.2012
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Hinweis des SG.
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18.12.2012
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Stellungnahme Klägerin.
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18.12.2012
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Hinweis des SG auf den neuen Geschäftsverteilungsplan.
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23.12.2012
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Befangenheitsantrag der Klägerin gegen den neuen Vorsitzenden der Kammer 12 RVG Kö.. (Az. S 12 SF 29/13 AB)
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9.1.2013
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Hinweis des SG, dass der 2. Befangenheitsantrag unbegründet sein dürfte.
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28.1.2013
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Stellungnahme Klägerin zum 1. Befangenheitsverfahren.
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30.1.2013
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Beschluss des SG: Befangenheitsantrag gegen den RSG B. wird zurückgewiesen.
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6.2.2013
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Zustellung des Beschlusses an die Klägerin.
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14.2.2013
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Stellungnahme der Klägerin zum 2. Befangenheitsantrag.
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18.2.2013
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Stellungnahme der Klägerin zum 2. Befangenheitsantrag.
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19.2.2013
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Anforderung einer dienstlichen Stellungnahme des RVG Kö. sowie Hinweis zur Sach- und Rechtslage an die Klägerin.
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20.2.2013
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Dienstliche Stellungnahme des RVG Kö. (mit falschem Datum 20.12.2013), übersandt an die Beteiligten.
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15.3.2013
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Klägerin bittet um Fristverlängerung.
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15.3.2013
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Hinweis des SG zur Sach- und Rechtslage.
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22.4.2013
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Rücknahme des Befangenheitsantrages durch den Prozessbevollmächtigten der Klägerin sowie Stellung eines PKH-Antrages und Ankündigung,
dass in der Sache die gestellten Anträge noch einmal überprüft, gegebenenfalls korrigiert würden und ergänzend vorgetragen
werde.
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24.10.2013
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Hinweis des SG zur Sach- und Rechtslage an Beklagten mit der Bitte um Stellungnahme.
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11.12.2013
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SG erinnert den Beklagten an Stellungnahme.
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17.1.2014
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Beklagter bittet um Fristverlängerung.
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20.1.2014
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SG gewährt Fristverlängerung bis 20.2.2014.
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15.5.2014
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SG erinnert den Beklagten erneut an Stellungnahme.
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3.6.2014
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Stellungnahme Beklagter.
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4.6.2014
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Übersendung an Klägerin zur Stellungnahme.
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31.7.2014
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Betreibensaufforderung an Klägerin.
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11.9.2014
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Erneute Betreibensaufforderung an Klägerin.
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24.9.2014
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Antrag der Klägerin auf Fristverlängerung.
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18.12.2014
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Klägerin bittet um Entscheidung über den PKH-Antrag.
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22.12.2014
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PKH-Bewilligung durch Beschluss des SG.
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21.1.2015
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Schreiben an die Beteiligten (in dem Verfahren S 12 AS 20/11, die Verfügung wurde als Kopie im vorliegenden Ausgangsverfahren abgeheftet), dass derzeit 71 Verfahren im Bereich des SGB II bezüglich der Klägerin anhängig seien. Es solle vor weiterer Betreibung der Verfahren unter anderem zunächst geklärt werden,
welche Verfahren zusammengeführt werden müssten, zudem müsse geklärt werden, ob bestimmte streitgegenständliche Teilzeiträume
mehrfach rechtshängig seien. Da die Kammer 12 derzeit im Hinblick auf einen Wechsel im Vorsitz vertretungsweise geführt werde,
könne im Hinblick auf die Vielzahl der bei Gericht anhängigen Verfahren ein entsprechender Hinweis des Gerichts wohl nicht
vor März 2014 (gemeint: 2015) erteilt werden. Es werde im wohlverstandenen Interesse der Beteiligten vorgeschlagen, dass die Beteiligten die bis zum heutigen
Tage noch erbetenen Stellungnahmen zurückstellten und zunächst der angekündigte Hinweis des Gerichts abgewartet werde. Betreibensaufforderungen
im Rahmen von § 102 SGG seien natürlich fristgemäß noch zu beantworten.
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9.2.2015
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Die Betreibensaufforderungen werden für gegenstandslos erklärt. Den Beteiligten wird mitgeteilt, dass im Hinblick auf wohl
rund 90 aktuelle Verfahren ein Erörterungstermin im April 2015 geplant sei. Die Beteiligten würden daher für die nächsten
6 Wochen um ein „Stillhalten“ gebeten.
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6.3.2015
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Beklagter bittet um Erörterungstermin im Mai statt April.
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15.11.2015
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Verzögerungsrüge verbunden mit umfangreichem Sachvortrag, an Beklagten mit Verfügung vom 19.11.2015 übersandt; die Verfügung
wurde jedoch erst am 26.4.2016 ausgeführt.
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29.3.2016
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Vermerk des Kammervorsitzenden, dass die die Bearbeitung der Verfahren der Klägerin und ihres Sohnes (112 Verfahren bei Übernahme,
37 Bände und 2 Aktenordner Leistungsakten) sowie weitere anhängige Altverfahren und Eilverfahren mit Ausländerbezug die Kapazität
der Kammer erheblich beanspruchten.
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25.7.2016
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Anfrage der Klägerin, ob ein anderer Rechtsanwalt beigeordnet werden könne, da der bisherige Rechtsanwalt das Mandat aus Altersgründen
niedergelegt habe.
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6.4.2017
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Antrag auf Beiordnung des Rechtsanwalts B..
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17.8.2018
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Beiordnung des Rechtsanwaltes B. durch Beschluss des SG sowie Bestimmung eines Termins zur mündlichen Verhandlung auf dem 14.9.2018.
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14.9.2018
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Urteil: Verurteilung des Beklagten zur Zahlung von 3,44 €, im Übrigen Klageabweisung.
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19.2.2019
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Zustellung an Klägerin.
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19.3.2019
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Nichtzulassungsbeschwerde ohne Begründung (L 4 AS 6/19 NZB).
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1.4.2019
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Übersendung an Beklagten.
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18.4.2019
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Stellungnahme Beklagter.
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6.6.2019
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Begründung der NZB durch die Klägerin.
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16.7.2019
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Stellungnahme Beklagter.
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11.9.2019
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Beschluss des LSG: Zurückweisung der NZB.
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14.9.2019
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Zustellung an Klägerin.
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30.9.2019
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Anhörungsrüge und Gegenvorstellung (L 4 AS 3/19 RG).
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11.10.2019
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Übersendung an Beklagten zur Stellungnahme binnen 1 Monat.
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3.3.2020
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Stellungnahme Beklagter.
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4.3.2020
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Übersendung an Klägerin zur Kenntnisnahme.
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22.4.2020
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Beschluss des LSG: Verwerfung der Anhörungsrüge und Gegenvorstellung als unzulässig.
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30.4.2020
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Zustellung an Klägerin.
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Am 11.6.2018 hat die Klägerin die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine beabsichtigte Entschädigungsklage beantragt.
Der Senat hat unter dem Aktenzeichen L 2 SF 14/20 EK AS PKH mit Beschluss vom 22.4.2021 für die angekündigte Entschädigungsklage PKH unter Beiordnung des jetzigen Prozessbevollmächtigten
bewilligt. Der Beschluss ist der Klägerin am 24.4.2021 zugestellt worden.
Am 29.4.2021 hat die Klägerin Entschädigungsklage erhoben.
Sie trägt im Wesentlichen vor, das Verfahren S 12 AS 552/12 sei unangemessen lang gewesen. Zwischen dem Eingang der Klage und dem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens seien 93 Monate
vergangen. Folgende Zeiten der Inaktivität lägen vor:
2012: 3 Monate (10/12 bis 12/12),
2013: 10 Monate (1/13 bis 3/13, 5/13 bis 9/13, 11/13 bis 12/13),
2014: 6 Monate (3/14 bis 5/14, 7/14 bis 8/14, 10/14),
2015: 9 Monate (3/15 bis 10/15, 12/15),
2016: 11 Monate,
2017: 10 Monate,
2018: 9 Monate,
2019: 1 Monat (1/19).
Von den 93 Monaten Verfahrensdauer seien höchstens 24 Monate abzuziehen. Da der Sachverhalt einfach gewesen und es um Fragen
der Existenzsicherung gegangen sei, dürfe lediglich eine Vorbereitungs- und Bedenkzeit von 6 Monaten je Instanz, insgesamt
also 12 Monate, abgezogen werden. Es seien also 71 Monate, mindestens aber 59 Monate zu entschädigen. Das SG habe den Rechtsstreit nicht nur verzögert, sondern auch versäumt, eine Klärung der Sach- und Rechtslage herbeizuführen.
Die Klägerin beantragt,
1. festzustellen, dass eine Verzögerung des Rechtsstreites S 12 AS 552/12 im Sinne eines überlangen Verfahrens nach §
198 GVG durch das Sozialgericht für das C. vorliegt,
2. die Beklagte zu verurteilen, ihr wegen der Verfahrensverzögerung im Verfahren S 12 AS 552/12 eine Entschädigung in Höhe von 5.900 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit
Entstehung des Rechtsstreits zu zahlen,
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er führt aus, die Klage auf Feststellung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer sei unzulässig und auch unbegründet. Jedenfalls
bestehe kein Feststellungsinteresse und ein schwerwiegender Fall iSd §
198 Abs.
4 S. 3
GVG liege nicht vor. Der Antrag zu 2. sei ebenfalls nicht begründet. Die Klägerin sei infolge einer Legalzession nicht mehr Inhaberin
eventueller Ansprüche nach §
198 GVG. Es lägen insgesamt auch keine Verzögerungen vor, die zu einer Entschädigung führen müssten.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Akten S 12 AS 552/12.
Entscheidungsgründe
Die Klage, über die der Senat nach §
201 Abs.
1 Satz 1
GVG in Verbindung mit § 202 Satz 2
GVG erstinstanzlich zu entscheiden hat, hat zum Teil Erfolg.
Die Klägerin hat ihr Entschädigungsbegehren in zulässiger Weise auf das Klageverfahren S 12 AS 552/12 beschränkt, so dass streitgegenständlich ist nur dessen Dauer ist (vgl. BSG Urteil vom 17.12.2020 - B 10 ÜG 1/19 R, juris Rn. 12). Materiell-rechtlicher Bezugsrahmen bleibt gleichwohl das gesamte gerichtliche
Verfahren (BVerwG, Urteil vom 27.2.2014 – 5 C 1/13 D, juris Rn. 11).
A.
Die Entschädigungsklage ist zulässig.
1.
Die Entschädigungsklage ist als allgemeine Leistungsklage statthaft (§
54 Abs.
5 SGG; BSG Urteil vom 17.12.2020 - B 10 ÜG 1/19 R, juris Rn. 13). Der Antrag zu 2. ist zulässig.
2.
Die Klägerin hat die Wartefrist des §
198 Abs.
5 S. 1
GVG, wonach eine Entschädigungsklage frühestens sechs Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge erhoben werden kann, eingehalten.
Die Klägerin hat im Ausgangsverfahren am 15.11.2015 eine überlange Verfahrensdauer gerügt. Die Entschädigungsklage erhoben
hat sie am 29.4.2021.
3.
Auch die Klagefrist nach §
198 Abs.
5 Satz 2
GVG wurde eingehalten. Danach muss die Klage spätestens sechs Monate nach Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung, die das
Verfahren beendet, oder einer anderen Erledigung des Verfahrens erhoben werden. Die Frist von sechs Monaten ab Rechtskraft
hat mit Zustellung der Entscheidung vom 22.4.2020 über die Anhörungsrüge und Gegenvorstellung am 30.4.2020 begonnen (vgl.
BGH Urteil vom 13.4.2017, Az.: III ZR 277/16, Rn. 12; Urteil des Senats vom 27.5.2020 – L 2 SF 40/18 EK AS). Die Klagefrist des §
198 Abs.
5 Satz 2
GVG ist auch dann noch gewahrt, wenn vor Fristablauf ein vollständiger PKH-Antrag gestellt und unverzüglich nach Bekanntgabe
der abschließenden PKH-Entscheidung Entschädigungsklage erhoben wird (BSG, Urteil vom 7.9.2017- B 10 ÜG 1/17 R, juris Rn. 23). Unverzüglich bedeutet ohne schuldhaftes Zögern (vergleiche §
121 Absatz
1 Satz 1
BGB). „Unverzüglich“ heißt aber nicht „sofort“. Vielmehr ist dem Verfahrensbeteiligten noch eine angemessene Überlegungsfrist
einzuräumen, ob er seine Rechte waren will (BSG, Urteil vom 7.9.2017- B 10 ÜG 1/17 R, juris Rn. 27). Nach Auffassung des Senats ist dem in den §§ 91a Abs.
1,
269 Abs.
2 ZPO enthaltenen Rechtsgedanken folgend dem unbemittelten Beteiligten in der Regel eine Überlegungsfrist von 2 Wochen einzuräumen
(vergleiche hierzu BSG, Urteil vom 7.9.2017- B 10 ÜG 1/17 R, juris Rn. 27 unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BGH; BFH, Urteil vom 20.3.2019
- X K 4/18, juris Rn. 45). Diese Frist hat die Klägerin eingehalten. Der Senat hat PKH mit Beschluss vom 22.4.2021 für die angekündigte
Entschädigungsklage PKH unter Beiordnung des jetzigen Prozessbevollmächtigten bewilligt. Der Beschluss ist der Klägerin am
24.4.2021 zugestellt worden. Bereits am 29.4.2021 hat die Klägerin die Entschädigungsklage erhoben.
B.
Die Entschädigungsklage ist aber nur zum Teil begründet.
Nach §
202 Satz 2
SGG iVm §
198 Absatz
1 Satz 1 iVm Abs.
3 Satz 1
GVG wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil
erleidet, wenn er zuvor bei dem mit der Sache befassten Gericht die Dauer des Verfahrens gerügt hat.
1.
Ein Anspruch auf Entschädigung scheitert nicht schon daran, dass die Klägerin nicht aktivlegitimiert wäre. Ein gesetzlicher
Forderungsübergang auf das Jobcenter hat nicht stattgefunden. Dies hat der Senat in den den Beteiligten bekannten Urteilen
vom 21.3.2018 (L 2 SF 4/17 EK AS und L 2 SF 6/17 EK AS) bereits begründet und daran hält der Senat auch fest.
2.
Die am 15.11.2015 beim SG im Auswahlverfahren erhobene Verzögerungsrüge war auch wirksam. Nach §
198 Abs.
3 Satz 2 Halbsatz 1
GVG kann eine Verzögerungsrüge von einem Beteiligten erst (wirksam) erhoben werden, wenn im jeweiligen Ausgangsverfahren Anlass
zur Besorgnis besteht, das Verfahren werde nicht in einer angemessenen Zeit abgeschlossen. Wer eine Verzögerungsrüge bei einem
Gericht erheben will, muss daher zunächst in jedem dort anhängigen Verfahren selbst prüfen, ob der konkrete Verfahrensstand
diese Besorgnis rechtfertigt, er also (objektive) Anhaltspunkte dafür hat, dass das Verfahren als solches keinen angemessenen
zügigen Fortgang nimmt (BSG Urteil vom 27.3.2020 - B 10 ÜG 4/19 R, juris Rn. 44 mit weiteren Nachweisen). Maßgeblich ist, wann ein Betroffener erstmals
Anhaltspunkte dafür hat, dass das Ausgangsverfahren keinen angemessenen zügigen Fortgang nimmt (BGH Urteile vom 26.11.2020
- III ZR 61/20, juris Rn. 21 und vom 21.5.2014 - III ZR 355/13, juris Rn. 16; BFH Urteil vom 26.10.2016 - X K 2/15, juris Rn. 47). Auf ein rein subjektives Empfinden des Verfahrensbeteiligten kommt es hierbei nicht an. Vielmehr müssen objektive
Gründe vorliegen, die bei vernünftiger Betrachtungsweise geeignet sind, zu einer unangemessenen Verfahrensdauer zu führen,
ohne dass ein allzu strenger Maßstab angelegt werden darf. Da sich der richtige Zeitpunkt aus Sicht des Betroffenen, der regelmäßig
keinen Einblick in die inneren Abläufe des Gerichts hat, nur schwer einschätzen lässt, geht es im Kern nur darum, Missbrauchsfälle
abzuwehren (BGH Urteile vom 26.11.2020 - III ZR 61/20, juris Rn. 21 mit weiteren Nachweisen). Ein solcher Anlass bestand hier. Die im Ausgangsverfahren am 8.8.2012 erhobene Klage
war zum Zeitpunkt der Erhebung der Verzögerungsrüge am 8.11.2015 bereits seit 3 ¼ Jahren anhängig. Nachdem das SG am 9.2.2015 einen Erörterungstermin für April 2015 in Aussicht gestellt hatte, der jedoch nicht anberaumt wurde, wurde das
Verfahren in der Folgezeit vom SG nicht mehr betrieben. Bereits der Zeitraum zwischen dem 9.2.2015 und dem 8.11.2015 beträgt knapp 9 Monate. Von einer missbräuchlichen
Erhebung der Verzögerungsrüge kann hier nicht die Rede sein.
Die wirksam erhobene Verzögerungsrüge wirkt auch auf das gesamte verzögerte Verfahren zurück (vergleiche BSG Urteil vom 12.12.2019 - B 10 ÜG 3/19 R, juris Rn. 29).
3.
Das dem Entschädigungsbegehren zugrundeliegende Verfahren war überlang.
a)
Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich gemäß §
198 Abs.
1 Satz 2
GVG nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens sowie nach dem Verhalten
der Verfahrensbeteiligten und Dritter. Ausgangspunkt und erster Schritt der Angemessenheitsprüfung bildet die in §
198 Abs.
6 Nummer
1 GVG definierte Gesamtdauer des Gerichtsverfahrens von der Einleitung bis zum rechtskräftigen Abschluss (vergleiche BSG, Urteile vom 3.9.2014, B 10 ÜG 2/13 R, juris Rn. 23 ff und vom 12.12.2019 - B 10 ÜG 3/19 R, juris Rn. 31), wobei die kleinste
relevante Zeiteinheit mit einem Kalendermonat definiert ist (BSG, Urteil vom 7.9.2017, B 10 ÜG 3/16 R, Rn. 24; Urteil vom 12.2.2015, B 10 ÜG 11/13 R, Rn. 34; Urteil vom 5.5.2015, B 10 ÜG
8/14 R, Rn. 34).
Die Klägerin hat am 8.8.2012 Klage erhoben und PKH beantragt. Beendet war das Verfahren am 30.4.2020 mit der Zustellung des
Beschlusses vom 22.4.2020. Das Verfahren hat sich somit über einen Zeitraum von 91 Kalendermonaten erstreckt (ohne August
2012 und April 2020, vgl. BSG Urteil vom 12.12.2019, B 10 ÜG 3/19 R, Rn. 32).
b)
In einem zweiten Schritt ist der Ablauf des Gerichtsverfahrens an den von §
198 Absatz
1 Satz 2
GVG genannten Kriterien, einer Reihe unbestimmter Rechtsbegriffe, zu messen. Auf dieser Grundlage ergibt erst die wertende Gesamtbetrachtung
und Abwägung aller Einzelumstände in einem dritten Schritt, ob die Verfahrensdauer die äußerste Grenze des Angemessenen deutlich
überschritten und deshalb das Recht auf Rechtsschutz in angemessener Zeit verletzt hat (BSG Urteil vom 12.12.2019, B 10 ÜG 3/19 R, Rn. 33).
aa)
Die von §
198 GVG genannte Bedeutung des Verfahrens ergibt sich aus der allgemeinen Tragweite der Entscheidung für die materiellen und ideellen
Interessen der Beteiligten. Entscheidend ist zudem, ob und wie sich der Zeitablauf nachteilig auf die Verfahrensposition eines
Klägers und des geltend gemachten materiellen Rechts sowie möglicherweise auf seine weiteren geschützten Interessen auswirkt
(BSG Urteil vom 12.12.2019, B 10 ÜG 3/19 R, Rn. 34 mit weiteren Nachweisen). Auch bei einem geringen Streitwert kann die Bedeutung
hoch sein, wenn es sich um Leistungen im Bereich des Existenzminimums handelt (BSG, Urteil vom 12.2.2015, B 10 ÜG 11/13 R, Rn. 29).
Die Bedeutung des Verfahrens war für die Klägerin eher gering. Die Beteiligten stritten lediglich um einen Anspruch auf Fahrtkosten
in Höhe von 14,30 € anlässlich eines Vorstellungsgesprächs. Es ging nicht um eine dauerhafte Erhöhung der Leistungen nach
dem SGB II. Eine besondere Eilbedürftigkeit im Hinblick auf die Bedeutung des Verfahrens für die Klägerin bestand nicht.
bb)
Bei dem Begriff der Schwierigkeit des Verfahrens wäre gegebenenfalls zu berücksichtigen, ob eine "gewisse Komplexität" vorliegt,
die die Annahme rechtfertigt, "dass von vorneherein mit zeitaufwändigen zusätzlichen Verfahrensschritten und einer längeren
Verfahrensdauer zu rechnen war" (BSG, Urteil vom 3.9.2014, B 10 ÜG 12/13 R, Rn. 37).
Der Schwierigkeitsgrad des Ausgangsverfahrens war hier unterdurchschnittlich. Es ging lediglich um einen Anspruch der Klägerin
auf Fahrkosten für ein Vorstellungsgespräch. Das Verfahren für sich alleine genommen war zwar nicht komplex und bedingte keine
lange Verfahrensdauer. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass die Klägerin zahlreiche Verfahren gleichzeitig führte, im Januar
2015 waren 71 Verfahren und im März 2016 sogar 112 Verfahren von ihr in der Kammer 12 des SG anhängig). Dies erhöhte deutlich die Komplexität, da sich die jeweiligen Kammervorsitzenden eine Übersicht über die Gesamtverfahren
verschaffen mussten z.B. im Hinblick darauf, ob der geltend gemachte Anspruch bereits Gegenstand eines anderen Verfahrens
ist.
cc)
Beim Verfahrensablauf hat ferner die Prozessleitung des Gerichts Bedeutung (BSG, Urteil vom 3.9.2014, B 10 ÜG 12/13 R, Rn. 41). Maßgeblich für die Beurteilung eines Entschädigungsanspruchs nach §
198 Abs.
1 GVG sind beispielsweise sachlich nicht gerechtfertigte Verzögerungen des Verfahrens, insbesondere aufgrund Untätigkeit des Gerichts
(BVerfG, Beschluss vom 13.8.2012, 1 BvR 1098/11, Rn. 18). Keinen sachlichen Grund stellt eine unzureichende personelle Ausstattung der Justiz oder des Ausgangsgerichts dar
(BSG, Urteil vom 3.9.2014, B 10 ÜG 2/13 R, Rn. 34). Die Instanzgerichte haben aber ein weites Ermessen bei der Entscheidung, wie
sie Verfahren führen wollen (BSG, Urteil vom 3.9.2014, B 10 ÜG 2/13 R, Rn. 36 ff). Das Entschädigungsgericht prüft alleine, ob das Ausgangsgericht bei der
Prozessleitung Bedeutung und Tragweite der Rechte aus Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art.
19 Abs.
4 GG hinreichend beachtet und gegen das Ziel des Rechtsmittelführers einer möglichst richtigen Entscheidung abgewogen hat.
Unter dem Prüfungspunkt des Verhaltens der Beteiligten im zweiten Schritt ist insbesondere von Gewicht, ob und in welcher
Form der jeweilige Kläger die Verzögerung verursacht oder wesentlich mitverursacht hat. Von Bedeutung ist insbesondere, ob
der Kläger oder die Prozessbevollmächtigten auf gerichtliche Anfragen sachdienlich geantwortet haben (BSG, Urteil vom 3.9.2014, B 10 ÜG 12/13 R, Rn. 38). Maßgeblich ist insoweit auch, ob relevante Umstände rechtzeitig in das Verfahren
eingeführt wurden (BSG, Urteil vom 12.2.2015, B 10 ÜG 11/13 R, Rn. 32). Von einem Kläger im Rahmen zulässigen Prozessverhaltens selbst herbeigeführte
Verfahrensverzögerungen fallen in seinen Verantwortungsbereich (BSG, Urteil vom 3.9.2014, B 10 ÜG 12/13 R, Rn. 39). Es kann sich entschädigungsrechtlich nicht zu seinen Gunsten auswirken, wenn
er beispielsweise erfolglose Ablehnungsgesuche anbringt oder nicht zum gewünschten Erfolg führende Rechtsbehelfe eingelegt
hat.
Die Prozessleitung des SG hat zu einer Verzögerung von insgesamt 41 Monaten geführt.
Bis zum 9.2.2015 kann der Senat keine Verzögerung erkennen. In den von der Klägerin als Zeiten der Inaktivität gerügten Monate
Oktober bis Dezember 2012 ist in jedem dieser Monate eine Anfrage bzw. Hinweise den Befangenheitsantrag gegen den Kammervorsitzenden
B. betreffend aktenkundig. In der Folgezeit bis März 2013 wurde vom SG der zweite Befangenheitsantrag gegen den neuen Kammervorsitzenden Kö. bearbeitet. Verzögerungen durch die letztlich erfolglosen
Befangenheitsanträge können dem Gericht nicht angelastet werden (s.o.). Zudem gab das SG am 15.3.2013 einen Hinweis zur Sach- und Rechtslage, woraufhin die Klägerin am 22.4.2013 eine Überprüfung der gestellten
Anträge und ergänzenden Vortrag angekündigte und einen PKH-Antrag stellte. Die angekündigte Stellungnahme blieb jedoch trotz
zweimaliger Betreibensaufforderungen aus. Bis dahin kann der Senat eine dem SG zuzurechnende Verzögerung nicht erkennen, zumal es am 24.10.2013 dem Jobcenter noch einen weiteren Hinweis zur Sach- und
Rechtslage gab. Das SG hat das Verfahren kontinuierlich betrieben. Die Klägerin hätte sich jederzeit äußern können. Sie hätte insbesondere erklären
können, keine weitere Stellungnahme zur Sache abgeben zu wollen. Das hat sie aber gerade nicht getan. Nach der PKH-Bewilligung
am 22.12.2014 erfolgten noch zwei weitere Schreiben des SG an die Beteiligten unter dem 21.1.2015 und 9.2.2015.
Eine Verzögerung kann vom 9.2.2015 bis zur Erhebung der Verzögerungsrüge am 15.11.2015, die mit einem umfangreichen Sachvortrag
verbunden war, angenommen werden; das sind (ohne Berücksichtigung von Februar 2015 und November 2015, s.o.) 8 Monate. Durch
die Einreichung des Schriftsatzes vom 15.11.2015 hat die Klägerin eine Bearbeitung des Vorgangs durch das SG bewirkt. Schriftsätze, die einen gewissen Umfang haben und sich inhaltlich mit Fragen des Verfahrens befassen, bewirken generell
eine Überlegungs- und Bearbeitungszeit beim Gericht, die mit einem Monat zu Buche schlägt (BSG, Urteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 12/13 R, juris Rn. 57). Neben dem Monat November 2015 kann somit auch der Monat Dezember 2015
nicht als inaktive Zeit gewertet werden.
Anschließend ist eine Zeit der Inaktivität von Januar 2016 bis zum 17.8.2018 (Beiordnung des neuen Prozessbevollmächtigten
sowie Bestimmung eines Termins zur mündlichen Verhandlung am 14.9.2018) zu verzeichnen, also weitere 31 Monate (ohne August
2018, s.o.) auf nunmehr 39 Monate. Dass die Verfügung vom 19.11.2015 erst am 26.4.2016 ausgeführt wurde, wertet der Senat
nicht als Zeit der Aktivität für den Monat April. Zugunsten der Klägerin nimmt der Senat für 2016 und 2017 volle 24 Monate
und nicht nur – wie von der Klägerin geltend gemacht – 21 Monate Verzögerung an. Die Erstellung des Vermerks vom 29.3.2016
(„Überlastungsanzeige“) ist keine Bearbeitung des Verfahrens. Auf die Anfrage der Klägerin vom 25.7.2016, ob ein anderer Rechtsanwalt
beigeordnet werden kann, sowie den Antrag auf Beiordnung des Rechtsanwalts B. vom 6.4.2017 hat das SG erst am 17.8.2018 reagiert.
Für den Zeitraum vom 14.9.2018 bis zum 19.2.2019 kann eine weitere Verzögerung von höchstens 2 Monaten angenommen werden,
wenn man die üblichen Abläufe bis zur Absetzung des Urteils und seiner Versendung berücksichtigt (vgl. Urteil des Senats vom
27.5.2020 - L 2 SF 40/18 EK AS; vgl. auch BSG, Urteil vom 7.9.2017 - B 10 ÜG 1/16 R, juris Rn. 44).
Insgesamt kam es somit zu einer Verzögerung von 41 Monaten.
c)
Im dritten Schritt sind eine wertende Gesamtbetrachtung sowie die Abwägung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmen. Im
Rahmen dieser wertenden Gesamtbetrachtung muss geprüft werden, ob die Verfahrensdauer die äußerste Grenze des Angemessenen
deutlich überschritten und deshalb das Recht auf Rechtsschutz in angemessener Zeit verletzt hat (BSG, Urteil vom 3.9.2014, B 10 ÜG 2/13 R, Rn. 27). Der Staat ist aber nicht verpflichtet, so große Gerichtskapazitäten vorzuhalten,
dass jedes anhängige Verfahren sofort und ausschließlich von einem Richter bearbeitet werden kann. Eine gewisse Wartezeit
ist insoweit dem Rechtsschutzsuchenden zuzumuten (BSG, Urteil vom 21.2.2013, B 10 ÜG 1/12 KL, Rn. 28). Das BSG billigt den Ausgangsgerichten eine Vorbereitungs- und Bedenkzeit von bis zu 12 Kalendermonaten je Instanz zu, die nicht durch
konkrete Verfahrensförderungsschritte begründet und gerechtfertigt sein muss (BSG, Urteil vom 3.9.2014, B 10 ÜG 2/13 R, Rn. 43 ff., 47) und die im Grundsatz noch nicht zu einer unangemessenen Verfahrensdauer
führt (BSG, Urteil vom 3.9.2014, B 10 ÜG 2/13 R, Rn. 43ff). Diese Zeiten können auch in mehrere Abschnitte unterteilt sein (BSG, Urteil vom 3.9.2014, B 10 ÜG 2/13 R, Rn. 46); eingetretene Verzögerungen können somit in Abschnitten zuvor oder danach ausgeglichen
werden (BSG, Urteil vom 03.09.2014, B 10 ÜG 12/13 R, Rn. 51). Wird dieser zeitliche Rahmen überschritten, ist die Gesamtverfahrensdauer
dennoch in der Regel angemessen, wenn sie auf vertretbarer aktiver Verfahrensgestaltung des Gerichts beruht (BSG, Urteil vom 12.2.2015, B 10 ÜG 11/13 R, Rn. 26).
Im Rahmen einer abschließenden Gesamtbetrachtung und -würdigung der tatsächlichen Umstände des Einzelfalls ist der Senat der
Auffassung, dass lediglich 17 Monate zu entschädigen sind. Die Verzögerungen im Ausgangsverfahren werden zumindest teilweise
durch die zügige Bearbeitung des NZB-Verfahrens ausgeglichen (dazu aa). Zudem ist dem SG aufgrund der Vielzahl der von der Klägerin geführten Verfahren und der damit verbundenen Komplexität eine längere Vorbereitungs-
und Bedenkzeit von 18 Kalendermonaten zuzubilligen (dazu bb). Unerheblich ist, dass über den Prozesskostenhilfeantrag der
Klägerin vom 8.8.2012 erst am 22.12.2014 entschieden wurde (dazu cc).
aa)
Die Verzögerung wird teilweise durch die zügige Durchführung des NZB-Verfahrens kompensiert. Verzögerungen, die in den Verantwortungsbereich
des Gerichts fallen, können in davor oder danach liegenden Verfahrensabschnitten ausgeglichen werden (Urteil des Senats vom
27.5.2020 - L 2 SF 40/18 EK AS; BSG Urteil vom 3.9.2014, B 10 ÜG 12/13 R, Rn. 51; BGH Urteil vom 13.3.2014, III ZR 91/13, Rn. 33; LSG Berlin-Brandenburg Gerichtsbescheid vom 6.11.2019, L 38 SF 323/18 EK AS, Rn. 28; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 26.4.2018, L 37 SF 38/17 EK AS, Rn. 71; anderer Auffassung: LSG Schleswig-Holstein Urteil vom 19.3.2021 - 12 SF 75/18 EK, juris Rn. 27). Für ein NZB-Verfahren
ist der 12-Monatszeitraum in der Regel auf sechs Monate zu reduzieren (in diesem Sinne LSG Berlin-Brandenburg Gerichtsbescheid
vom 6.11.2019, L 38 SF 323/18 EK AS, Rn. 27; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 26.4.2018, L 37 SF 38/17 EK AS, Rn. 66). Vorliegend weist das NZB-Verfahren L 4 AS 6/19 NZB keine Zeiten der Inaktivität auf. Somit reduziert sich die Verzögerung von 41 Monaten auf 35 Monate.
bb)
Zudem billigt der Senat dem SG vorliegend eine Vorbereitungs- und Bedenkzeit von insgesamt 18 Monaten zu. Der vom BSG vorgegebene Orientierungswert von 12 Monaten Vorbereitungs- und Bedenkzeit je Instanz gilt nur, wenn sich nicht aus dem Vortrag
des Klägers oder aus den Akten besondere Umstände ergeben, die vor allem mit Blick auf die Kriterien von §
198 Absatz ein Satz 2
GVG im Einzelfall zu einer anderen Bewertung führen (BSG Urteil vom 3.9.2040 - B 10 ÜG gleichen 12/13 R, juris Rn. 56). Aufgrund der Vielzahl der Verfahren, die die Klägerin führte
(am 21.1.2015 waren es 71 Verfahren, am 29.3.2016 sogar 112 Verfahren) und der damit einhergehenden Probleme, sowohl die benötigten
Verwaltungsvorgänge zu den einzelnen Verfahren beizuziehen, als auch die einzelnen Verfahren in sinnvollen Zusammenhänge zu
verhandeln und zu entscheiden, ist der Orientierungswert von 12 Monaten Vorbereitungs- und Bedenkzeit auf 18 Monate zu erhöhen.
Für eine Herabsetzung des 12-Monats-Zeitraums, wie von der Klägerin wegen der Grundrechtsrelevanz der in Frage stehenden Sozialleistungen
geltend gemacht, sieht der Senat dagegen keinen Raum. Die Dauer des Verfahrens ist nicht unerheblich von der Klägerin mitbeeinflusst
worden, weil sie – obwohl sie weitere Stellungnahmen zur Sache eingereicht und deshalb auch für notwendig gehalten hat – dies
erst mit erheblicher Verzögerung getan hat; zu Beginn des Verfahrens ist auf gerichtliche Anfragen wiederholt nicht bzw. nur
mit Fristverlängerungsantrag reagiert worden. In einem solchen Fall kann dann aber auch keine besondere Verfahrensbeschleunigung
vom Gericht verlangt werden.
cc)
Zu einem anderen Ergebnis führt auch nicht der Umstand, dass über den Prozesskostenhilfeantrag der Klägerin vom 8.8.2012 erst
am 22.12.2014 entschieden wurde. Nach der Rechtsprechung des BSG führt ein gleichzeitig neben dem Hauptsacheverfahren geführtes PKH-Verfahren als dessen Annex nicht zu einem eigenständigen
Entschädigungsanspruch. Ob Verzögerungen im Verfahren um die Bewilligung von PKH während der Dauer eines gleichzeitig rechtshängig
gewordenen Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen sind, ist vielmehr nach §
198 Abs.
1 Satz 2
GVG im Rahmen der Einzelfallumstände zu bewerten, wenn ein Gericht wegen eines PKH-Verfahrens die Hauptsache nicht so zügig bearbeitet,
wie dies ggf. erforderlich wäre. §
198 GVG geht von einem an der Hauptsache orientierten Verfahrensbegriff aus, sodass nicht jeder einzelne Antrag oder jedes Gesuch
im Zusammenhang mit dem verfolgten Rechtsschutzbegehren ein entschädigungspflichtiges Verfahren darstellt (BSG Urteil vom 7.9.2017, Az. B 10 ÜG 3/16 R, Rn. 29; BSG Beschluss vom 2.8.2018, Az.: B 10 ÜG 7/18 B, Rn. 8). Für eine verzögerte Bearbeitung des PKH-Verfahrens kommt demnach eine
eigenständige Entschädigung nicht in Betracht. Es kann auch nicht angenommen werden, dass das Hauptsacheverfahren durch das
PKH-Verfahren in einer Weise verzögert worden ist, die eine Entschädigung rechtfertigen könnte. Wie oben ausgeführt ist im
Hauptsacheverfahren bis Februar 2015 zwar eine Verzögerung in dem Sinne eingetreten, dass über einen längeren Zeitraum kein
neuer Sachvortrag erfolgt ist. Dies war aber dadurch verursacht, dass die Klägerin auf gerichtliche Anfragen nicht bzw. mit
Fristverlängerungsantrag reagiert hat. Wenn der Prozessbevollmächtigte sein weiteres Tätigwerden von der Bewilligung von PKH
hätte abhängig machen wollen, hätte er dies mitteilen und auf eine Entscheidung über den PKH-Antrag dringen können. Dies hat
er aber nicht getan. Der weitere Zeitraum ab März 2015 ist bei der Ermittlung eines entschädigungsrelevanten Zeitraums ohnehin
berücksichtigt (s.o.).
4.
§
198 Abs.
1 GVG sieht einen Entschädigungsanspruch für (materielle und immaterielle) Vermögensnachteile vor. Nachteil im Sinne des Abs. 1
sind dabei unter anderem sämtliche immateriellen Folgen eines überlangen Verfahrens; dazu gehört nach den Vorstellungen des
Gesetzgebers insbesondere die seelische Unbill durch die lange Verfahrensdauer (BSG Urteil vom 3.0.2014 - B 10 ÜG 2/13 R, juris Rn. 51). Ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, wird nach §
198 Abs.
2 Satz 1
GVG vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat. Die Vermutung eines auf der Verfahrensdauer beruhenden
immateriellen Nachteils ist nur dann widerlegt, wenn nach einer Gesamtbewertung der Folgen, die die Verfahrensdauer für den
Kläger mit sich gebracht hat, die unangemessene Verfahrensdauer nicht zu einem Nachteil beim Kläger geführt hat. Dies kann
der Fall sein, wenn eine Gesamtbewertung den Schluss rechtfertigt, dass die unangemessene Verfahrensdauer entweder als solche
nicht nachteilig (oder sogar vorteilhaft) gewesen ist oder es an einem Kausalzusammenhang zwischen Verfahrensdauer und Nachteil
fehlt (BSG Urteil vom 17.12.2020 - B 10 ÜG 1/19 R, juris Rn. 54 mit weiteren Nachweisen).
Vorliegend sieht der Senat keinen Anlass, die „starke“ Vermutung (vergleiche BSG Urteil vom 12.12.2019 - B 10 ÜG 3/19 R, juris Rn. 40) eines immateriellen Nachteils aufgrund der eingetretenen Verzögerung
als widerlegt anzusehen.
5.
Nach §
198 Abs.
2 Satz 2
GVG kann eine Entschädigung nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalles Wiedergutmachung auf andere
Weise ausreichend ist. Diese ist gemäß §
198 Abs.
4 Satz 1
GVG insbesondere möglich durch die Feststellung, dass die Verfahrensdauer unangemessen war. Ob eine solche Feststellung ausreichend
ist im Sinne von §
198 Abs.
2 Satz 2
GVG, beurteilt sich auf der Grundlage einer umfassenden Abwägung sämtlicher Umstände des Einzelfalls. Eine derartige Kompensation
eines Nichtvermögensschadens kommt aber nur ausnahmsweise in Betracht, wenn das Verfahren beispielsweise für den Entschädigungskläger
keine besondere Bedeutung hatte oder dieser durch sein Verhalten erheblich zur Verlängerung des Verfahrens beigetragen hat
(vergleiche BSG Urteil vom 3.9.2014- B 10 ÜG 2/14 R, juris Rn. 52).
Die bloße Feststellung, dass die Verfahrensdauer unangemessen war, ist im vorliegenden Fall nicht ausreichend. Das Ausgangsverfahren
wies eine nicht unbeträchtliche Verzögerung auf. Vorliegend kann auch nicht angenommen werden, dass das Ausgangsverfahren
für die Klägerin keine besondere Bedeutung hatte. Dass die Klage im Ausgangsverfahren ganz überwiegend keinen Erfolg hatte,
schmälert nicht die Bedeutung des Verfahrensausgangs für die Klägerin. Der Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener Zeit
soll unter anderem gerade eine lange Unsicherheit des Entschädigungsklägers über seine Ansprüche und die damit verbundenen
seelischen Folgen vermeiden (vergleiche BSG Urteil vom 3.9.2014- B 10 ÜG 2/14 R, juris Rn. 52).
6.
Nach §
198 Abs.
2 Satz 3
GVG beträgt die Entschädigung 1200 € für jedes Jahr der Verzögerung. Ist dieser Betrag nach den Umständen des Einzelfalles unbillig,
kann das Gericht einen höheren oder niedrigeren Betrag festsetzen (§
198 Abs.
2 Satz 4
GVG).
Das BSG hat bereits entschieden, dass §
198 Abs.
2 Satz 4
GVG keine Legitimation für eine grundsätzliche Kappung der Entschädigung auf den Betrag des Streitwerts in Fällen, in denen die
Entschädigungspauschale den Streitwert um ein Vielfaches übersteigt, bietet (BSG Urteil vom 12.2.2015 - B 10 ÜG 11/13 R, juris Rn. 37 ff.). Eine Begrenzung dieser Art ist im Gesetz nicht angelegt. Auch
die abstrakte Gefahr eines keineswegs zu vernachlässigenden Missbrauchs rechtfertigt danach keinen Rechtssatz, der den Entschädigungsbetrag
bei geringen Streitwerten im Grundsatz auf das mit dem Ausgangsverfahren verfolgte finanzielle Interesse begrenzt. Satz 4
eröffnet nur für Ausnahmefälle die Möglichkeit, von der jährlichen 1200-Euro-Pauschale nach oben oder nach unten abzuweichen.
Mehr als ausnahmsweise Korrekturen in atypischen Sonderfällen lassen sich dem Gesetz nicht entnehmen. Das BSG schließt zwar eine solche Atypik für Geldansprüche mit geringen Streitwert nicht ausnahmslos aus (BSG Urteil vom 12.2.2015 - B 10 ÜG 11/13 R, juris Rn. 39). In Grundsicherungsangelegenheiten ist der geringe Streitwert indessen
keine Besonderheit und als genereller Maßstab der Absenkung ebenso wenig tauglich wie die Verfahrensart als solche etwa als
Maßstab der Anhebung der Entschädigungspauschale (vergleiche zur Kindschaftssache BGH Urteil vom 13.3.2014 - III ZR 91/13, juris Rn. 50, 51). Berücksichtigungsfähig sind etwa eine außergewöhnlich geringe Bedeutung des Verfahrens für den Betroffenen
oder aber auch eine nur kurzzeitige Verzögerung (BSG Urteil vom 12.2.2015 - B 10 ÜG 11/13 R, juris Rn. 39).
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Entschädigung in Höhe von 170 € für die entschädigungspflichtige Verzögerung von 17 Monaten.
Ein höherer Entschädigungsbetrag als 10 € pro Monat der Verzögerung, also insgesamt 170 €, ist im Hinblick auf einen den geringen
Streitwert von lediglich 14,30 € unbillig. Eine Entschädigungssumme von 1700 € stünde dazu in keinem Verhältnis. Die vom Senat
festgesetzte Entschädigung von 170 € übersteigt den ursprünglichen Streitwert im Ausgangsverfahren immer noch um ein Vielfaches
(ähnlich LSG Mecklenburg-Vorpommern Urteil vom 12.2.2020 - L 12 SF 39/17 EK AS, juris Rn. 44; die dagegen erhobene Nichtzulassungsbeschwerde war nicht erfolgreich [BSG, Beschluss vom 14.4.2020 -
B 10 ÜG 3/20 B]).
Der Zinsanspruch ergibt sich aus der entsprechenden Anwendung der §§
288 Abs.
1,
291 Satz 1
BGB (vergleiche BSG Urteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 2/14 R, juris Rn. 54).
7.
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf eine zusätzliche Feststellung, dass die Verfahrensdauer unangemessen war.
Nach §
198 Abs.
4 GVG ist eine solche Feststellung nur in drei Fällen zulässig, die hier allesamt nicht vorliegen: Bei Wiedergutmachung in anderer
Weise als durch Geldzahlungen, in besonders schwerwiegenden Fällen oder bei Fehlen einer oder mehrerer Voraussetzungen des
§
198 Abs.
3 GVG. Für den hier vorliegenden Normalfall der entschädigungspflichtigen Überlänge hat der Gesetzgeber die Möglichkeit eines Feststellungsantrags
nicht vorgesehen. Die Regelung des §
198 Abs.
4 GVG ist nicht in der Weise analog anwendbar, dass auch in nicht schwerwiegenden Fällen neben der Verurteilung zu Entschädigung
zugleich die überlange Dauer des Gerichtsverfahrens im Tenor des Entschädigungsurteils festgestellt werden kann (vergleiche
BSG Urteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 2/13 R, juris Rn. 57 mit weiteren Nachweisen).
8.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
197a Abs.
1 SGG iVm. §
155 Abs.
1 Satz 3
VwGO.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§
160 Abs.
2 SGG).