Sozialgerichtliches Verfahren
Prozesskostenhilfe
Beschwerde gegen Ablehnung
Beschwerdeentscheidung
Berücksichtigung einer wesentlichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes
kein Prozesskostenhilfeanspruch für Beschwerdeverfahrenunselbständiges Nebenverfahren
Gründe
I.
Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob die Klägerin und Beschwerdeführerin (im Folgenden Klägerin) für das erstinstanzliche
Verfahren S 18 (11) R 476/20, in dem eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nach dem
Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (Gesetzliche Rentenversicherung -
SGB VI) umstritten ist, Anspruch auf Prozesskostenhilfe hat.
Die 1959 geborene Klägerin absolvierte nach ihrem 10.-Klasse-Schulabschluss von September 1975 bis Juli 1977 eine Ausbildung
zur Chemiefacharbeiterin (Filmherstellung). Anschließend arbeitete sie bis 1983 in der Firma O. Von 1987 bis 1991 war sie
als Melkerin tätig. Danach war sie arbeitslos und absolvierte von März 1995 bis Februar 1996 eine Fortbildung im Bereich Lager
und Transport. Von 1997 bis 1999 nahm sie an einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme teil. Außerdem war sie daneben von 1995 bis
2001 als Zeitungsausträgerin und nach einer weiteren Zeit der Arbeitslosigkeit von Januar 2014 bis Oktober 2016 befristet
als Reinigungskraft jeweils geringfügig und nicht versicherungspflichtig tätig. Seit Januar 2005 bezieht sie Arbeitslosengeld
II.
Seit dem 26. März 2018 besteht bei der Klägerin Grad der Behinderung (GdB) von 50. Die Entscheidung des Landesverwaltungsamtes
mit Bescheid vom 25. Juni 2018 stützt sich auf die Funktionsbeeinträchtigungen Lungenfunktionsstörung, arterielle Durchblutungsstörungen
der Beine, Bypassoperation, Herzleistungsminderung bei einer koronaren Durchblutungsstörung sowie Funktionseinschränkung der
Wirbelsäule.
Am 2. Mai 2019 beantragte die Klägerin die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Zur Begründung gab sie
an, gegenwärtig leide sie insbesondere unter Luftnot. Bei Hausarbeit müsse sie sich nach fünf Minuten ausruhen. Sie habe Herzprobleme
und Rückenschmerzen. Die Beklagte zog Unterlagen aus vorangegangenen Reha- bzw. Rentenverfahren der Klägerin bei, u.a. den
Entlassungsbericht der Klinik M. vom 5. August 2013 über die dortige stationäre Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation
vom 24. Juni bis zum 15. Juli 2013. Dort sind die Diagnosen Atherosklerose der Extremitätenarterien (Becken-Bein-Typ, mit
belastungsinduziertem Ischämieschmerz), alter Myokardinfarkt (ein Jahr und länger zurückliegend), psychische und Verhaltensstörungen
durch schädlichen Gebrauch von Tabak, Angina pectoris sowie chronische obstruktive Lungenkrankheit genannt. Die Beklagte zog
auch aktuellere ärztliche Unterlagen bei, u.a. die sozialmedizinische gutachterliche Stellungnahme nach Aktenlage der Vertragsärztin
der Agentur für Arbeit H., M., vom 21. Januar 2017, wonach die Klägerin unter Berücksichtigung qualitativer Leistungseinschränkungen
vollschichtig leistungsfähig sei. Zuletzt holte die Beklagte einen Befundbericht des Facharztes für Innere Medizin/Kardiologie
H2. vom 14. Juli 2020 ein. Diesbezüglich wird auf Blatt 65 f. des medizinischen Teils der Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.
Darin sind die Diagnosen Kardiomyopathie, Koronararteriensklerose, Linksherzinsuffizienz, Fettstoffwechselstörung, Nikotinabusus
und PAVK genannt. Die Klägerin habe Beschwerden beim Laufen. Eine Angina-pectoris-Symptomatik bestehe nicht. Die Mobilität
sei eingeschränkt. Die Klägerin benutze Gehhilfen. Die Ejektionsfraktion (EF) habe ca. 40 % nach Simpson betragen. Klinisch
hätten sich keine akuten Dekompensationszeichen gefunden. Echokardiografisch habe sich eine höhergradig eingeschränkte systolische
linksventrikuläre Pumpfunktion gezeigt.
Mit Bescheid vom 29. Oktober 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. September 2020 lehnte die Beklagte den
Rentenantrag ab. Zur Begründung führte sie aus, bei der Klägerin liege ein Leistungsvermögen für mindestens sechs Stunden
täglich für leichte Arbeiten zeitweise im Stehen, überwiegend im Gehen und Sitzen unter Berücksichtigung qualitativer Leistungseinschränkungen
vor. Bei dieser noch vorhandenen Leistungsfähigkeit sei der Arbeitsmarkt grundsätzlich nicht verschlossen. Die Klägerin habe
auch keinen Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit. Ihre zuletzt rentenversicherungspflichtig
unbefristet ausgeübte Beschäftigung als Melkerin können sie nicht mehr ausüben. Dieser Hauptberuf sei nach dem Mehrstufenschema
des Bundessozialgerichts (BSG) dem Bereich der Angelernten des unteren Bereichs zuzuordnen. Damit sei die Klägerin auf andere Anlerntätigkeiten sowie auf
Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar. Eine Verweisungstätigkeit sei daher nicht zu benennen.
Dagegen hat die Klägerin am 13. Oktober 2020 Klage beim Sozialgericht Halle erhoben und zur Begründung vorgetragen, sie teile
die Einschätzung ihres Leistungsvermögens durch die Beklagte nicht. Deren Einschätzung halte sie für zu positiv. Außerdem
hat die Klägerin am 27. November 2020 Prozesskostenhilfe beantragt. Diesen Antrag hat das Sozialgericht mit Beschluss vom
30. März 2021 abgelehnt. Nach summarischer Prüfung habe die Klage keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Die Klägerin könne
nach Aktenlage der vorliegenden medizinischen Unterlagen unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens
sechs Stunden täglich erwerbstätig sein. Die Beklagte habe im Vorverfahren eine umfassende medizinische Sachaufklärung betrieben.
Es seien keine Tatsachen erkennbar, die eine andere medizinische Würdigung als die von der Beklagten vorgenommene rechtfertigten,
wobei die von der Klägerin mitgeteilten Diagnosen Berücksichtigung gefunden hätten. Die von der Beklagten getroffene Entscheidung
erscheine daher sachgerecht. Die Klägerin habe auch keinen Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit.
Ihr bisheriger Beruf als Melkerin sei dem Bereich der Anlernberufe des unteren Bereichs zuzuordnen. Sie habe ihn mit einer
Ausbildungszeit bis zu einem Jahr verrichten können. Damit könne sie auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen
werden, ohne dass es einer konkreten Benennung einer Verweisungstätigkeit bedürfe.
Gegen den ihr am 31. März 2021 zugestellten Beschluss hat die Klägerin am 15. April 2021 Beschwerde beim Landessozialgericht
(LSG) Sachsen-Anhalt eingelegt. Zur Begründung hat sie sich im Wesentlichen auf einen aktuellen kardiologischen Arztbericht
von H2. vom 13. April 2021 bezogen. Darin ist ausgeführt, bei einer EF von 30 bis 35 % bestehe die Indikation für einen ICD.
Er habe die Problematik mit der Klägerin besprochen und einen Termin im Krankenhaus S vermittelt.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Beschluss des Sozialgerichts Halle vom 30. März 2021 aufzuheben und ihr Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungsverpflichtung
unter Beiordnung von Rechtsanwalt H1 für das erstinstanzliche Hauptsacheverfahren sowie für das Beschwerdeverfahren zu bewilligen.
Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 27. Mai 2021 ausgeführt, es bestehe weiterer medizinischer Sachaufklärungsbedarf. Diesbezüglich
hat sie auf eine sozialmedizinische Stellungnahme der Prüf-/Gutachterärztin B. vom 20. Mai 2021 verwiesen. Die besonderen
versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit seien weiterhin erfüllt. B. hat
erklärt, in dem kardiologischen Bericht vom 13. April 2021 werde anamnestisch eine reguläre Vorstellung in Vorbereitung auf
eine ICD-Implantation berichtet. Damit werde ersichtlich, dass eine Herzschrittmacherimplantation wohl wegen Veränderungen
im Herzmuskel (Kardiomyopathie unter Verdacht auf alkoholtoxischen Zusammenhang) und Verschlechterung der systolischen Herzpumpfunktion
(zuletzt Juli 2020 mit EF ca. 40 %, jetzt EF 30 bis 35 %) erforderlich geworden sei. Es sei ein Termin zur klinikseitigen
Aufnahme vereinbart worden. Sozialmedizinisch ergebe sich ein Behandlungsfall. Der Verlauf und die Ergebnisse aus der Herzschrittmacherimplantation
seien abzuwarten. Damit entfielen Tätigkeiten innerhalb höherer elektromagnetischer Felder. Sozialmedizinisch seien (quantitative)
Belastungsgrenzen üblicherweise ab einer EF von unter 30 % erreicht. Gewöhnlich würden nach abgeschlossener Rekonvaleszenz
zur Implantation eines Herzschrittmachers anschließend eine Kontrolle zur Herzpumpfunktion und im Intervall auch eine Belastungsuntersuchung
(Ergometrie) durchgeführt. Es ergebe sich Aufklärungsbedarf auf kardiologischer Ebene hinsichtlich der Krankenhaus-Epikrise
und nachfolgenden kardiologisch-ambulanten Kontrollen. Gegebenenfalls erfolge auch eine zusätzliche medikamentöse Anpassung
(Herzinsuffizienztherapie). Zusammenfassend sei es zwischen Juli 2020 und April 2021 zu einer akuten Verschlechterung der
Herzpumpfunktion gekommen, weshalb Sachaufklärungsbedarf zu den anberaumten medizinischen Interventionen (mit Besserungsaussicht)
bestehe.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Beschwerdeakte sowie auf die beigezogene erstinstanzliche Gerichtsakte und auf
die Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen. Diese Akten haben bei der Entscheidungsfindung des Senats vorgelegen.
II.
Gemäß §
73a Abs.
1 Satz 1
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) in Verbindung mit §
114 Abs.
1 Satz 1
Zivilprozessordnung (
ZPO) erhält ein Beteiligter auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn er nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen
die Kosten für die Prozessführung nicht oder nur in Raten aufbringen kann und die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende
Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
Bei der Prüfung der hinreichenden Aussicht auf Erfolg im Rahmen der Prozesskostenhilfe erfolgt lediglich eine summarische
Prüfung vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Rahmens der Art.
3 Abs.
1, 20 Abs.
3 und 19 Abs.
4 Grundgesetz (
GG). Hinreichende Erfolgsaussicht ist gegeben, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt des Antragstellers auf Grund seiner Sachverhaltsschilderung
und der vorliegenden Unterlagen für zutreffend oder zumindest für vertretbar hält und in tatsächlicher Hinsicht von der Möglichkeit
der Beweisführung überzeugt ist (vgl. Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG Kommentar, 13. Aufl. 2020, §
73a RdNr. 7a m.w.N.). Aus Gründen der Rechtsschutzgleichheit zwischen den Beteiligten sind keine überspannten Anforderungen zu
stellen (vgl. Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 7. April 2000 - 1 BvR 81/00 -, NJW 2000, S. 1936). Prozesskostenhilfe kommt jedoch nicht in Betracht, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht gänzlich ausgeschlossen,
die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 17. Februar 1989 - B 13 RJ 83/97 R -, SozR 1500, § 72 Nr. 19).
Vorliegend sind hinreichende Erfolgsaussichten in diesem Sinne nicht zu verneinen. Zuletzt hat H2. in seinem kardiologischen
Arztbrief vom 13. April 2021 über eine EF von 30 bis 35 % berichtet. Damit ist eine wesentliche Verschlechterung der Gesundheitssituation
der Klägerin eingetreten. Diese hat der Senat bei seiner Beschwerdeentscheidung zu berücksichtigen (B. Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
Kommentar zum
SGG, 13. Aufl. 2020, §
176 RdNrn. 2 und 4). Eine Herzschrittmacherimplantation steht im Raum. Die Prüfärztin der Beklagten B. hat darauf hingewiesen,
dass üblicherweise ab einer EF von unter 30 % erreicht (quantitative) Belastungsgrenzen erreicht sind. Eine zeitliche Leistungsminderung
auf unter sechs Stunden täglich leichte körperliche Tätigkeit ist damit nicht mehr ausgeschlossen. Der weitere Behandlungsverlauf
und -erfolg ist abzuwarten. Im Hinblick darauf besteht weiterer Sachaufklärungsbedarf im erstinstanzlichen Verfahren.
Auch die persönlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Prozesskostenhilfe sind erfüllt. Die Klägerin
erhält Witwenrente und ergänzend Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (Grundsicherung für Arbeitsuchende - SGB II). Nennenswertes Vermögen der Klägerin ist dem Vorgang nicht zu entnehmen.
Die Prozesskostenhilfe ist ab dem 13. April 2021 zu gewähren, dem Datum des kardiologischen Arztbriefs von H2., aus dem sich
die wesentliche Verschlechterung der Gesundheitssituation der Klägerin ergibt.
Für das Beschwerdeverfahren besteht kein Anspruch auf Prozesskostenhilfe, weil es sich insoweit nur um ein unselbständiges
Nebenverfahren zum Hauptsacheverfahren handelt und der Gebührenanspruch für das Hauptsacheverfahren die Tätigkeit im Nebenverfahren
mit umfasst (so auch LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 17. Januar 2014 - L 1 KR 536/13 B -, juris, RdNr. 13).
Die Kostenentscheidung beruht auf §
73a Abs.
1 SGG i.V.m. §
127 Abs.
4 ZPO.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§
177 SGG).