Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Anerkennung einer Berufskrankheit nach der Nr. 1317 der Anlage 1 zur
Berufskrankheiten-Verordnung (
BKV) - Polyneuropathie (PNP) oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische.
Die 1960 geborene Klägerin absolvierte von 1977 bis 1980 die Ausbildung zur Medizinisch-Technischen Laborassistentin (MTLA)
an der Fachhochschule der Medizinischen Akademie M ... Anschließend arbeitete sie von März 1980 bis 14. März 1990 als MTLA
im Institut für Pathobiochemie, zunächst von März 1980 bis 1983 im Labor des Hauptsitzes, anschließend von 1984 bis 1987 -
unterbrochen durch ein Babyjahr 1985 - im Labor der Abteilung Experimentelle Chirurgie des Universitätsklinikums M. 1988 wechselte
sie in den pathophysiologischen Bereich. Seit dem 15. März 1990 war sie als Medizinisch-Technische Assistentin (MTA) in der
Klinik f. Neurochirurgie im Universitätsklinikum M.tätig.
Unter dem 23. Juli 1999 teilte die Fachärztin f. Arbeitsmedizin Dr. D. der Beklagten den Verdacht über das Vorliegen einer
Berufskrankheit der Nr. 1317 bei der Klägerin mit. Sie führte diese auf die jahrelange Exposition gegenüber diversen Chemikalien,
insbesondere Lösungsmitteln, wie Toluol, Xylol und Methanol, zurück. Die Klägerin klage seit Anfang der 90er Jahre über starke
Müdigkeit und Kraftlosigkeit. Rezidivierend träten starke Kopfschmerzen, verbunden mit Schwindelgefühl, Brechreiz, Verschwommensein
vor dem linken Auge, zeitweise auch linksseitige Ohrgeräusche und eine Hypästhesie im Bereich des I. und II. Trigeminusastes
links auf. Intermittierend komme es zum Anschwellen des rechten Arms, insbesondere der rechten Hand mit livider Verfärbung.
Rezidivierende Parästhesien und Taubheitsgefühle im Bereich der rechten Hand bestünden seit 10 bis 15 Jahren. Sie diagnostizierte
eine myelinäre und axonale beinbetonte sensomotorische PNP unklarer Genese, den Verdacht auf eine Migräne accompagnee, rezidivierende
Chorioretinitiden rechts 1979 bis 1991 sowie eine arterielle Hypotonie als Vorerkrankung mit leichter orthostatischer Dysregulation.
Sie fügte eine Berufsanamnese der Klägerin vom 7. Juni 1999 sowie diverse ärztliche Berichte bei: In dem Bericht zum Aufenthalt
der Klägerin vom 11. bis 17. Dezember 1991 in dem Walter-Friedrich-Krankenhaus M. äußerte der Chefarzt Dr. K. den Verdacht
auf eine intermittierende Oculomotoriusschwäche links bei fraglichem zerebralen Gefäßprozess und diagnostizierte eine orthostatische
Dysregulation. Unter dem 25. März 1992 berichtete der Leiter der Abteilung für Klinische Neurophysiologie der Medizinischen
Akademie M. Prof. Dr. M., die Klägerin habe sich am 23. März 1992 bei ihm vorgestellt und über seit einem Jahr bestehenden
Schwindel, Dreh- und Liftgefühl, morgendliches Erbrechen und eine allgemeine Kraftminderung geklagt. Neurologisch auffällig
seien die Verminderung der Hornhautsensibilität links, Doppelbilder beim Blick nach links und oben und die leichte Hypästhesie
des Trigeminus I und II links. Sie habe hypochondrisch und auf die Beschwerden fixiert gewirkt. Diagnostisch käme u. a. ein
Zustand nach Hirnstammencephalitis, eine Basilarismigräne oder eine zerebrale Mitbeteiligung bei bekannter Toxoplasmose sowie
eine hirnstammgelegene zerebrovaskuläre Insuffizienz in Frage. Nach einem stationären Aufenthalt in diesem Krankenhaus vom
15. bis zum 17. April 1992 diagnostizierte Prof. Dr. M. ein Zervikalsyndrom und eine fragliche Enzephalomyelitis. Nach der
Untersuchung durch die Internistin Dr. R. gab diese unter dem 18. Juni 1992 als Diagnose eine hypertone Regulationsstörung
sowie den Verdacht auf Trainingsmangel an. Unter dem 15. April 1993 diagnostizierte Prof. Dr. M. eine chronisch rezidivierende
PNP mit Hirnnervenbeteiligung. Mit Datum vom 21. April 1999 berichtete der Klinikdi. der Klinik f. Neurologie der Otto-von-Guericke-Universität
M.eburg Prof. Dr. W. über die ambulante Untersuchung der Klägerin am 15. März 1999. Die Klägerin habe angegeben, seit Anfang
der 90er Jahre unter Schwindelgefühlen, Brechreiz und Verschwommensehen und seit ca. 10 bis 15 Jahren unter rezidivierenden
Parästhesien und Taubheitsgefühlen in den Händen und Füßen zu leiden. Mehrfach erstellte Computertomogramme (CT) Anfang der
90er Jahre, ein cerebrales Magnetresonanztomogramm (MRT.) 1992 sowie ein erneutes cerebrales MRT. und Angio-MRT. 1994 seien
ohne pathologischen Befund geblieben. Er diagnostizierte vorwiegend eine myelinäre und geringer auch axonale beinbetonte sensomotorische
PNP unklarer Genese, rezidivierende Chorioretiniden rechts von 1979 bis 1991 nach Toxoplasmose und den Verdacht auf Migräne.
Es liege möglicherweise eine hereditäre Polyneuropathie vor.
Auf Befragen der Beklagten teilte die Klägerin mit, die Beschwerden seien erstmals Anfang der 90er Jahre aufgetreten. Sie
führe dies auf die Tätigkeiten im MTA-Labor zurück.
Die Beklagte holte von diversen Ärzten Befundberichte ohne wesentlich neue Erkenntnisse zur Berufskrankheit der Nr. 1317 ein.
Insbesondere bestätigte eine von Prof. Dr. W. vom Institut für Humangenetik durchgeführte molekulargenetische Untersuchung
nicht den Verdacht auf eine hereditäre motorisch-sensorische Neuropathie. Eine am 12. Februar 1992 von der Röntgenpraxis Bohlweg
gefertigte Kernspintomographie des Schädels ergab keinen pathologischen Befund. Unter dem 13. Juni 1991 äußerte der Leiter
der Abteilung Neurochirurgie der Medizinischen Akademie M. Prof. Dr. S. den Verdacht auf eine Synkope. In dem EEG-Befund vom 19. Juni 1992 gab Prof. Dr. M. ein artefaktüberlagertes EEG mit leichten subkortikalen Funktionsstörungen an und äußerte den Verdacht auf einen occipitotemporalen Herd links.
Auf Anfrage der Beklagten teilte der Arbeitgeber der Klägerin unter dem 16. November 2000 mit, die Erkrankung der Klägerin
sei auf die langjährige Exposition gegenüber diversen Chemikalien, insbesondere Lösungsmitteln wie Toluol, Xylol und Methanol,
zurückzuführen. Während ihrer Tätigkeit vom 1. September 1980 bis 15. März 1990 sei sie organischen Lösungsmitteln, wie beispielsweise
Methanol, Chloroform und Aceton ausgesetzt gewesen. Eine Änderung der technischen, organisatorischen oder persönlichen Schutzmaßnahmen
sei nicht erforderlich, weil die Klägerin bei der derzeitigen Tätigkeit keiner Exposition gegenüber Gefahrstoffen ausgesetzt
sei.
Am 27. Februar 2001 führte die Präventionsabteilung der Beklagten mit der Klägerin und ihrem Ehemann ein Ermittlungsgespräch
zur Exposition der Klägerin gegenüber Chemikalien. Unter dem 15. März 2001 teilte sie mit, die Klägerin sei von 1980 bis 1986
- unterbrochen von einer Babypause 1985 - mehr oder weniger täglich gegenüber Chloroform, Methanol, Aceton und Ethanol (jeweils
in größeren Mengen) und gegenüber Mercaptoethanol, Äther, Trichloressigsäure, Formaldehyd, Ameisensäure, Resorcin, Salzsäure,
Schwefelsäure, Xylol und Toluol (in geringerem Umfang) exponiert gewesen. Die Höhe der Konzentration sei nicht feststellbar.
Eine Absaugvorrichtung habe es an den Arbeitsplätzen der Klägerin nicht gegeben, so dass die Aufnahme von Schadstoffen sowohl
inhalativ als auch durch Hautresorption erfolgt sei. 1987 und 1988 sei sie im Institut für Mikrobiologie im immunologischen
Labor mit Experimenten an Tieren tätig gewesen. 1988 seien die ersten gesundheitlichen Probleme aufgetreten. Die Klägerin
habe sich nach eigenen Angaben mit Protozoen der Art Toxoplasma gondii infiziert. Dies habe zu Augenblutungen und Netzhautschädigungen
geführt. Auf Anraten der Ärzte habe sie ab 1988 im pathophysiologischen Bereich der Pathobiochemie gearbeitet. Hier habe sie
Umgang mit Patienten gehabt, wobei sie bestimmte Funktionsuntersuchungen, wie EEG, Muskeluntersuchungen und Brain-Mepping, durchgeführt habe. In dieser Zeit sei sie nur eingeschränkt gegenüber Chemikalien,
beschränkt auf Desinfektionsmittel zur Haut-, Hände- und Instrumentendesinfektion, exponiert gewesen. Dabei habe es sich um
die DDRtypischen Desinfektionsmittel, wie Wofasept (Wirkstoffbasis Phenolderivate), Wofasteril (Wirkstoffbasis Peressigsäure)
sowie verschiedene alkoholische Desinfektionsmittel, gehandelt. Mit dem Wechsel in die Klinik f. Neurochirurgie im März 1990
seien ihre Hauptaufgaben die Messung von Gehirnströmen sowie neurophysiologische Messungen gewesen. Dabei habe sie Umgang
mit Desinfektionsmitteln, vor allem zur Händedesinfektion, zur Hautdesinfektion am Patienten sowie zur Desinfektion der Oberflächenelektroden
des EEG gehabt. Laut Auskunft der Pflegedienstleiterin habe es sich bei den Desinfektionsmitteln vorrangig um AHD 2000 (Wirkstoffbasis
Alkohole) zur Hände- und Hautdesinfektion und Ethanol zum Abwischen der Elektroden gehandelt. Die arbeitstechnischen Voraussetzungen
für das Entstehen einer PNP durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische hätten in den Jahren 1980 bis 1988 vorgelegen.
Der Gewerbearzt des Landesamtes für Arbeitsschutz Dr. S. führte in seiner Stellungnahme vom 2. Juli 2001 aus, die Voraussetzungen
für eine Berufskrankheit Nr. 1317 seien nicht erfüllt. Eine PNP entwickle sich in engem Zusammenhang mit der Lösungsmittelexposition.
Gehe man von einer schädigenden Exposition bis 1988 aus, sei ein solcher zeitlicher Zusammenhang bei der Klägerin nicht feststellbar.
Selbst wenn bis 1988 aufgrund der schädigenden Exposition eine PNP aufgetreten wäre, hätte unter Karenz eine Rückbildung eintreten
müssen. Für den nachfolgenden Zeitraum sei eine Lösungsmittelexposition unwahrscheinlich.
Mit Bescheid vom 24. September 2001 lehnte es die Beklagte unter Hinweis auf die Ausführungen des Gewerbearztes ab, bei der
Klägerin eine Berufskrankheit der Nr. 1317 anzuerkennen. Hiergegen erhob die Klägerin am 11. Oktober 2001 Widerspruch und
führte im Wesentlichen aus, neben den bereits benannten Lösungsmitteln und Säuren sei sie dauerhaft mit den Desinfektionsmitteln
AHD 2000, Octenisept, Frekaderm farblos Betaisadona, Descosal, Sterilium und Sterilium virugard in Berührung gekommen. Seit
1988 habe kein Kontakt zu Lösungsmitteln und Säuren bestanden. Allerdings habe sie während ihrer späteren Tätigkeit täglich
bis zu 25 mal ihre Hände desinfiziert.
Die Beklagte erhielt von Dr. D. die Ergebnisse der arbeitsmedizinischen Untersuchungen vom 29. November 1983 und 16. Mai 1995.
Während die Untersuchung 1983 ohne Ergebnis geblieben war, war 1995 eine Neuropathie der Klägerin in den Unterlagen vermerkt.
Der Facharzt f. Allgemeinmedizin Dr. S. überließ der Beklagten das Krankenblatt aus dem Jahr 1991.
Mit Widerspruchsbescheid vom 18. Dezember 2002 wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch der Klägerin zurück.
Den Widerspruchsbescheid übersandte die Beklagte den Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 20. Dezember 2002 per Post.
Mit der am 22. Januar 2003 vor dem Sozialgericht Magdeburg erhobenen Klage hat die Klägerin die Anerkennung der Berufskrankheit
Nr. 1317 weiter verfolgt und ein Schreiben der Fachärztin f. Neurologie/Psychiatrie Dr. H. vom 30. Juli 2003 vorgelegt.
Mit Urteil vom 19. September 2006 hat das Sozialgericht Magdeburg die Klage abgewiesen und im Wesentlichen ausgeführt, die
PNP sei bei der Klägerin nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit auf ihren berufsbedingten Kontakt zu organischen
Lösungsmitteln oder deren Gemische zurückzuführen. Der Beginn der Erkrankung Anfang der 90er Jahre spreche bei einer Aufgabe
der schädigenden Tätigkeit bereits im Jahr 1988 gegen einen zeitlichen Zusammenhang. Ferner habe die Expositionsdauer weniger
als zehn Jahre gedauert. Zudem sei die Klägerin nicht in einem Beruf beschäftigt, der als Kernzielgruppe der Berufskrankheit
der Nr. 1317 (Boden- und Parkettleger, Tankreiniger, Säurebaumonteure) beschrieben werde.
Gegen das am 27. September 2006 zugegangene Urteil hat die Klägerin am 19. Oktober 2006 Berufung eingelegt und ihren bisherigen
Vortrag vertieft. Sie sei während ihrer Tätigkeiten mit zahlreichen Lösungsmitteln in Kontakt gekommen, die geeignet gewesen
seien, eine Polyneuropathie hervorzurufen. Die Erkrankung stehe auch in zeitlichem Zusammenhang mit der beruflichen Lösungsmittelexposition.
So habe sie bereits 1988 gravierende gesundheitliche Probleme gehabt, wobei es sich um Anzeichen einer Polyneuropathie gehandelt
habe. Bei der Ursachensuche gehe es vorrangig um den Zeitraum ihrer Labortätigkeit vor 1990. Die seit der Einstellung der
Labortätigkeit nicht mehr in dieser Heftigkeit aufgetretenen Symptome und die langsamer fortschreitende Progredienz sprächen
für eine sehr hohe Belastung mit Lösungsmitteln während ihrer Labortätigkeit. Auch in Desinfektionsmitteln seien Lösungsmittel
enthalten. So enthalte z. B. Sterillium virugard 99 % Ethanol. Die Beklagte habe es im Übrigen versäumt, Ansprüche nach den
Nrn. 16, 19, 21 und 25 der 1. DB zur Verordnung über die Verhütung, Meldung und Begutachtung von Berufskrankheiten vom 21.
April 1981 zu prüfen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 19. September 2006 und den Bescheid der Beklagten vom 24. September 2001 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Dezember 2002 aufzuheben und mit Wirkung vom 15. April 1993 festzustellen, dass
die Polyneuropathie eine Berufskrankheit der Nr. 1317 der Anlage 1 zur
Berufskrankheiten-Verordnung ist.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie trägt vor, mit der Aufnahme der Tätigkeit als MTA ab 1988 sei eine Lösungsmittelexposition beim Umgang mit Desinfektionsmitteln
auf alkoholischer Basis unter Benutzung von Handschuhen unwahrscheinlich. Im Übrigen lägen keine zeitnahen Befunde der Erkrankung
zur Exposition vor.
Das Landessozialgericht hat einen Befundbericht von Dr. S. vom 18. Oktober 2009 eingeholt, der die Klägerin erstmals am 9.
Dezember 1991 wegen Schwindelanfällen und zunehmender Wahrnehmung von Doppelbildern untersucht hatte. Er diagnostizierte eine
idiopathische Neuropathie und einen Infekt der oberen Luftwege.
Unter dem 22. März 2010 und 8. Oktober 2010 teilte die Universitätsklinik M. mit, die Klägerin sei in der Zeit vom 15. März
1990 bis 15. April 1993 als MTA in der Klinik f. Neurochirurgie und Funktionsdiagnostik tätig gewesen. Dort würden keine Lösungsmittel,
sondern Desinfektionsmittel verwendet. Welche Desinfektionsmittel zwischen 1990 und 1993 verwendet worden seien, sei nicht
festzustellen, weil es keine Aufzeichnungen hierüber gebe.
Dem Senat hat bei der Verhandlung und Entscheidungsfindung die Verwaltungsakte der Beklagten 1999 051 910 als Ausdruck der
digitalen Akte vorgelegen.
Entscheidungsgründe:
Die Klägerin hat mit der am 22. Januar 2003 erhobenen Klage die Monatsfrist des §
87 Abs.
1 Satz 1
SGG eingehalten. Denn die Beklagte hat den Widerspruchsbescheid am 20. Dezember 2002 abgesandt, so dass dieser nach § 37 Abs. 2 des Zehntes Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) der Klägerin am 23. Dezember 2002 als bekannt gegeben gilt.
Die Klage ist jedoch unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 24. September 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 18. Dezember 2002 beschwert die Klägerin nicht im Sinne von §§
157,
54 Abs.
2 Satz 1
SGG, weil sie keinen Anspruch auf die Anerkennung der Polyneuropathie als Berufskrankheit der Nr. 1317 der Anlage 1 zur
BKV hat.
Der geltend gemachte Anspruch richtet sich noch nach den Vorschriften der
Reichsversicherungsordnung (
RVO). Folgt man dem Vorbringen der Klägerin, so war sie bereits seit 1988 an einer Polyneuropathie erkrankt. Nach §
215 Abs.
1 Satz 1 des
Siebten Buches Sozialgesetzbuch (
SGB VII) ist für die Übernahme der vor dem 1. Januar 1992 eingetretenen Krankheit als Berufskrankheit weiterhin § 1150 Abs. 2 und 3
RVO in der am Tag vor Inkrafttreten des
SGB VII geltenden Fassung anzuwenden. § 1150 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1
RVO sieht vor, dass Krankheiten, die vor dem 1. Januar 1992 im Beitrittsgebiet eingetreten und dem ab dem 1. Januar 1991 für
das Beitrittsgebiet zuständigen Träger der Unfallversicherung erst nach dem 31. Dezember 1993 bekannt geworden sind, sowohl
nach dem Recht der DDR als auch nach den Vorschriften der
RVO als Berufskrankheit zu prüfen sind (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts [BSG], Urteil vom 4. Dezember 2001 -
B 2 U 35/00 R - SozR 3-8440 Nr. 50 Nr. 1; Urteil vom 18. August 2004 - B 8 KN 1/03 U R - SozR 4-5670 Anlage 1 Nr. 2402 Nr. 1; vgl. auch
Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Herstellung der Rechtseinheit in der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung,
Bundestags-Drucksache 12/405, S. 116 Buchstabe b). Dies wäre bei einer Erkrankung der Klägerin im Jahr 1988 der Fall, weil
die Erkrankung an einer Polyneuropathie der Beklagten als zuständiger Berufsgenossenschaft erstmals durch die Anzeige von
Dr. D. am 27. Juli 1999 bekannt geworden ist.
Gemäß § 551 Abs. 1 Satz 2
RVO sind Berufskrankheiten Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates bezeichnet
und die ein Versicherter infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 539, 540 und 543 bis 545
RVO begründenden Tätigkeit erleidet. Als Berufskrankheiten kommen solche Krankheiten in Betracht, die nach den Erkenntnissen
der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre Arbeit
in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind (§ 551 Abs. 1 Satz 3
RVO). In der Anlage 1 der
Berufskrankheitenverordnung (
BKV) in der bis zum 30. November 1997 geltenden Fassung ist eine Berufskrankheit der Nr. 1317 - Polyneuropathie oder Enzephalopathie
durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische - nicht aufgeführt. Erst in der Anlage zu der ab dem 1. Dezember 1997 geltenden
Fassung der
BKV (
BKV 1997) ist die Polyneuropathie unter der Nr. 1317 als Berufskrankheit erfasst. Eine Rückwirkung der Nr.
1317 erfolgt nur unter den Voraussetzungen des §
6 Abs.
1 BKV 1997, wonach eine Krankheit der Nr.
1317 als Berufskrankheit anzuerkennen ist, wenn der Versicherte am 1. Dezember 1997 an der Krankheit gelitten und diese nach dem
31. Dezember 1992 eingetreten ist.
Diese Voraussetzungen sind nach dem Vorbringen der Klägerin unter Berücksichtigung der erhobenen ärztlichen Befunde nicht
erfüllt. Zwar hat Prof. Dr. M. unter dem 15. April 1993 - und damit nach dem 31. Dezember 1992 - bei der Klägerin eine Polyneuropathie
diagnostiziert. Auch hat die Klägerin noch am 15. März 1999 bei der Untersuchung durch Prof. Dr. W. an einer Polyneuropathie
gelitten. Allerdings gilt nach § 551 Abs. 3 Satz 2
RVO als Zeitpunkt des Arbeitsunfalls der Beginn der Krankheit im Sinne der Krankenversicherung. Da nach § 551 Abs. 3 Satz 1
RVO die für Arbeitsunfälle maßgebenden Vorschriften entsprechend für die Berufskrankheiten gelten, ist der Versicherungsfall
einer Berufskrankheit mit dem Beginn der Krankheit im Sinne der Krankenversicherung eingetreten. Dabei ist nach ständiger
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts Krankheit ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung
bedarf und/oder eine Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat (BSG, Urteil vom 20. Oktober 1972 - 3 RK 93/71 - BSGE 35, 10; BSG, Urteil vom 12. November 1985 - 3 RK 45/83 - BSGE 59/119). Eine Krankheit beginnt, wenn der Betroffene behandlungsbedürftig oder arbeitsunfähig ist. Die der Diagnose
von Prof. Dr. M. zugrundeliegende Erkrankung muss bereits vor dem 15. April 1993 bestanden haben, denn Prof. Dr. M. hat diese
als chronisch rezidivierend bezeichnet. Nach dem Vorbringen der Klägerin litt sie auch von 1988 bis 1999 an denselben gesundheitlichen
Beschwerden.
Auch weisen die seit 1991 erhobenen ärztlichen Befunde darauf hin, dass die Polyneuropathie bereits vor dem 1. Januar 1993
bestanden hat. Typisch für eine neurotoxische Polyneuropathie sind symmetrischdistale, arm- und beinbetonte, sensible, motorische
oder sensomotorische Ausfälle mit Strumpf- bzw. handschuhförmiger Verteilung. Die Polyneuropathie durch Trichlorethan ist
gekennzeichnet durch Sensibilitäts- und Reflexverlust des Nervus trigeminus im Gesicht. Ein Befall des Nervus oculomotorius
kommt ebenfalls vor (siehe Merkblatt zur Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel und deren Gemische,
Bek. des BMGS, BArbBl. 2005, H. 3 S. 49, abgedruckt in Mehrtens/B., Die
Berufskrankheitenverordnung, Stand Mai 2010, M 1317, S. 2 f.). Derartige Symptome waren bereits 1991 und 1992 bei der Klägerin aufgetreten. So hatte
Dr. K. im Januar 1992 über Sensibilitätsstörungen (leichte Hypästhesie) und eine Oculomotoriusschwäche berichtet. Prof. Dr.
M. hatte im März 1992 als neurologische Auffälligkeiten die Verminderung der Hornhautsensibilität und eine leichte Hypästhesie
des Trigeminus I und II links vermerkt. Im Befundbericht vom 15. Mai 1992 hat Prof. Dr. M. berichtet, die Klägerin klage über
Parästhesien der linken Gesichtshälfte und der rechten Hand. Auch Prof. Dr. W. hat in seinem Bericht vom 21. April 1999 vermerkt,
die Klägerin habe angegeben, seit 10 bis 15 Jahren an rezidivierenden Parästhesien und Taubheitsgefühlen in den Händen und
Füßen, teilweise in den Oberschenkeln, zu leiden.
Zudem haben die konsultierten Ärzte aufgrund der in den Jahren 1991 und 1992 erhobenen Befunde keine eindeutigen Diagnosen
erstellt, weil die zahlreichen Untersuchungen (internistisch, Kernspintomographie, Blutbild) im Wesentlichen ohne pathologischen
Befund geblieben sind. Die Ärzte haben überwiegend Vermutungen zu der bestehenden Erkrankung geäußert: Prof. Dr. M. hatte
am 25. März 1992 einen Zustand nach Hirnstammencephalitis, eine Basilarismigräne oder eine zerebrale Mitbeteiligung bei Toxoplasmose
sowie eine hirnstammgelegene zerebrovaskuläre Insuffizienz vermutet und am 15. Mai 1992 eine Enzephalomyelitis als fraglich
bezeichnet. Prof. Dr. S. hatte unter dem 13. Juni 1991 den Verdacht auf eine Synkope, Dr. K. unter dem 7. Januar 1992 den
Verdacht auf intermittierende Oculomotoriusschwäche links bei fraglichem zerebralen Gefäßprozess sowie orthostatische Dysregulation
geäußert. Dr. R. meinte unter dem 18. Juni 1992, es liege eine hypertone Regulationsstörung mit dem Verdacht auf Trainingsmangel
vor.
Für eine bereits seit 1991 bestehende Polyneuropathie spricht ferner der Befundbericht von Dr. S. vom 18. Oktober 2009, der
die Klägerin seit 1991 betreut und neben einem Infekt der oberen Luftwege eine idiopathische Neuropathie diagnostiziert hat.
Weitere Diagnosen hat er für den Zeitraum seiner Behandlungen nicht angeben.
Da die Klägerin hiernach spätestens im Jahr 1991 an einer Polyneuropathie erkrankt war, wäre der Versicherungsfall der in
Streit stehenden Berufskrankheit vor dem 1. Januar 1993 eingetreten. Da die 1997 in der Anlage zur
BKV eingeführte Nr.
1317 nach §
6 Abs.
1 nur für Versicherungsfälle gilt, die nach dem 1. Januar 1993 eingetreten sind, hat die Klägerin keinen Anspruch auf die Anerkennung
der Polyneuropathie als Berufskrankheit.
Da die Voraussetzungen der Anerkennung der Polyneuropathie als Berufskrankheit nach den Vorschriften der
RVO nicht vorliegen, kommt es nicht entscheidend darauf an, ob die Erkrankung an einer Polyneuropathie vor dem 1. Januar 1992
nach dem Recht der ehemaligen DDR als Berufskrankheit anerkannt worden wäre.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG.
Die Voraussetzungen nach §
160 Abs.
2 SGG, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.