AsylbLG; Freizügigkeitsrecht; Grundsicherung für Arbeitssuchende; Tatbestandswirkung; Unionsbürger; Verlustfeststellung
Gründe
I.
Streitig ist die Gewährung von existenzsichernden Leistungen bei Verlustfeststellung nach dem FreizügG/EU.
Die Antragsteller sind rumänische Staatsangehörige. Die 1987 geborene Antragstellerin zu 1) reiste am 28. Februar 2014, die
Antragsteller zu 2) (geb. 2005) und zu 3) (geb. 2012) reisten am 29. Oktober 2016 in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland
ein. Die Antragstellerin zu 4) wurde in der Bundesrepublik Deutschland am 1. März 2017 geboren. Der Vater der Antragstellerin
zu 4) ist türkischer Staatsangehöriger mit einer Aufenthaltsgenehmigung nach dem Aufenthaltsgesetz (AufenthG). Die Antragstellerin zu 1) ist die Mutter der Antragsteller zu 2) bis 4) und seit dem Auszug des Vaters der Antragstellerin
zu 4) alleinerziehend. Für ihre Wohnung fallen monatliche Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von 705,- € an. Für die
Antragstellerin zu 3) wird derzeit Unterhaltsvorschuss in monatlicher Höhe von 232,- €, für die Antragsteller zu 2) bis 4)
von der Familienkasse Kindergeld in monatlicher Höhe von jeweils 219,- € bzw. 225,- € gewährt.
Die Antragstellerin zu 1.) war auf der Grundlage mehrerer befristeter Arbeitsverträge in der Zeit vom 5. September 2014 bis
4. September 2016 bei der Fa. N, O, tätig davon seit dem 1. Januar 2015 mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von zwölf Stunden.
Zudem war sie in der Zeit vom 25. März 2015 bis 24. März 2017 auf der Grundlage mehrerer befristeter Arbeitsverträge bei der
Fa. D Service GmbH, H, mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 30 Stunden beschäftigt. Seit dem 11. Juni 2021 steht die Antragstellerin
wieder in einem Beschäftigungsverhältnis (zunächst Arbeitsvertrag vom 11. Juni 2021 mit der Firma W Gebäudereinigung H GmbH
& Co.KG mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von zwölf Stunden zu einer Stundenvergütung von 11,11 €, Kündigung mit Schreiben
vom 12. Juli 2021). Mit Arbeitsvertrag vom 13. Juli 2021 hat sie eine Beschäftigung bei der Firma D Service Deutschland GmbH
zum 16. Juli 2021 aufgenommen (wöchentlichen Arbeitszeit von 30 Stunden und einer Stundenvergütung von 11,11 €; voraussichtliche
monatliche Vergütung in Höhe von 1.443,19 € brutto / 1.105,63 € netto). Über die Arbeitsaufnahme der Antragstellerin zu 1)
ab dem 11. Juni 2021 wurde das Gericht erst im Rahmen des Beschwerdeverfahrens informiert.
Die Antragstellerin zu 2.) war in den Schuljahren 2016/2017 und 2017/2018 Schülerin einer DaZ-Klasse am Gymnasium W1. Seit
dem Schuljahr 2018/2019 besucht sie die L-Schule in K. Zum Schuljahr 2021/2022 hat sie die Schule wegen einer Schwangerschaft
mit einem im September 2021 bevorstehenden Entbindungstermin ausgesetzt. Der Antragsteller zu 3.) besucht seit dem Schuljahr
2019/2020 die H-Grundschule.
Mit Bescheid vom 24. Februar 2021 bewilligte der Antragsgegner den Antragstellern Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) für die Zeit vom 1. April 2021 bis 31. März 2022.
Die Beigeladene hat als Ausländerbehörde durch Bescheid vom 27. April 2021 den Verlust des unionsrechtlichen Freizügigkeitsrechts
der anwaltlich vertretenen Antragsteller festgestellt, wogegen die Antragsteller am 12. Mai 2021 Widerspruch eingelegt haben.
Mit Schreiben vom 24. Juni 2021 haben die Antragsteller der Ausländerbehörde der Beigeladenen mittgeteilt, dass eine Beschäftigung
vorliege und den Arbeitsvertrag eingereicht. Mit Bescheid vom 23. Juli 2021 wurde der Widerspruch zurückgewiesen und seitens
der Antragsteller Klage vor dem Verwaltungsgericht erhoben. Außerdem beantragten die Antragsteller bei der Beigeladenen mit
Schreiben vom 21. Mai 2021 Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) bzw. nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz (
AsylbLG). Den Antrag auf Leistungen nach dem SGB XII lehnte die Beigeladene mit Bescheid vom 1. Juni 2021 ab. Über den hiergegen eingelegten Widerspruch ist noch nicht entschieden
worden.
Unter Bezugnahme auf den Bescheid der Beigeladenen vom 27. April 2021 hob der Antragsgegner mit Bescheid vom 6. Mai 2021 seine
vorangegangene Bewilligungsentscheidung für die Zeit ab dem 1. Juni 2021 auf. Ab dem Zeitpunkt der Verlustfeststellung bestehe
kein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II mehr.
Die Antragsteller wandten sich hiergegen mit ihrem Widerspruch vom 13. Mai 2021. Nach der erneuten Arbeitsaufnahme der Antragstellerin
zu 1) zum 11. Juni 2021 informierten die Antragsteller den Antragsgegner hierüber. Mit Bescheid vom 22. Juni 2021 wies der
Antragsgegner den Widerspruch zurück. Hiergegen haben die Antragsteller fristgemäß Klage vor dem Sozialgericht Kiel erhoben.
Die Antragsteller haben am 7. Juni 2021 Eilrechtsschutz beim Sozialgericht Kiel beantragt. Zur Begründung haben sie im Wesentlichen
ausgeführt, dass der Aufhebungsbescheid vom 6. Mai 2021 rechtswidrig sei und sie in ihren Rechten verletze, denn dieser stütze
sich wiederum auf den rechtswidrigen Bescheid der Beigeladenen vom 27. April 2021. Die offensichtliche Rechtswidrigkeit des
Verlustfeststellungsbescheids ergebe sich daraus, dass die Antragstellerin zu 1) unstreitig jedenfalls in der Zeit vom 1.
Januar 2015 bis zum 24. März 2017 Arbeitnehmerin im Sinne des § 2 Abs.2 Nr.1 FreizügG/EU gewesen und die Antragstellerin zu 2) seit dem Schuljahr 2016/2017 bis laufend Schülerin sei. Daraus folge ein Aufenthaltsrecht
der Antragstellerin zu 2) aus Art.10 VO (EU) 492/2011 sowie ein daraus abgeleitetes Aufenthaltsrecht der übrigen Antragsteller,
welches nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein Aufenthaltsrecht im Sinne des § 2 Abs.1 FreizügG/EU darstelle. Insbesondere begründe das Bestehen eines Aufenthaltsrechts aus Art.10 VO (EU) 492/2011 auch einen rechtmäßigen
Aufenthalt im Sinne des § 4a Abs.1 FreizügG/EU und führe deshalb zu einem Entstehen eines Daueraufenthaltsrecht aus § 4a Abs.1 FreizügG/EU für die Antragstellerin zu 1) ab dem 1. Januar 2020. Der Aufhebungsbescheid des Antragsgegners vom 6. Mai 2021 sei darüber
hinaus offensichtlich rechtswidrig, da der Verlustfeststellungsbescheid nicht bestandskräftig geworden und durch den Widerspruch
der Antragsteller vom 12. Mai 2021 in seiner Vollziehbarkeit gehemmt sei.
Der Antragsgegner hat ausgeführt, dass in den rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen der Antragsteller - aufgrund des
von der zuständigen Zuwanderungsabteilung erlassenen Verlustfeststellungsbescheids - nach Erlass des Bewilligungsbescheides
eine wesentliche Änderung im Sinne des § 48 SGB X eingetreten sei, die als Rechtsfolge die Aufhebung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II nach sich ziehe. Die Antragsteller seien nicht mehr freizügigkeitsberechtigt und verfügten somit über kein Aufenthaltsrecht
mehr.
Die Beigeladene hat ausgeführt, dass den Antragstellern weiterhin Leistungen nach dem SGB II zu gewähren seien. Die Aufhebung des Leistungsbescheids sei fehlerhaft gewesen. Es bestehe weder ein Anspruch auf Leistungen
nach dem SGB XII noch nach dem
AsylbLG.
Mit Beschluss vom 21. Juni 2021 hat das Sozialgericht die Beigeladene im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig verpflichtet,
den Antragstellern dem Grunde nach Leistungen nach dem
AsylbLG für die Zeit vom 7. Juni 2021 bis zum 31. August 2021 nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu gewähren. Im Übrigen
hat es den Eilantrag abgelehnt. Die Voraussetzungen für den Bezug von Leistungen nach dem SGB II seien nicht mehr erfüllt, denn die Antragsteller hätten infolge der Verlustfeststellungen vom 27. April 2021 keinen gewöhnlichen
Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland i.S.v. § 7 Abs.1 S.1 Nr.4 SGB II mehr. Die in der Verlustfeststellung getroffenen Feststellungen hinsichtlich des Nichtbestehens einer Freizügigkeitsberechtigung
der Antragsteller einschließlich der hiermit verbundenen Rechtsfolgen - Fortfall der Freizügigkeitsvermutung und Entstehen
der Ausreisepflicht - seien im sozialrechtlichen Verfahren als gegeben hinzunehmen. Die förmliche Feststellung des Verlusts
des Freizügigkeitsrechts durch die Ausländerbehörde sei bindend. Die Überprüfung der Rechtmäßigkeit dieser Feststellung obliege
ausschließlich den Gerichten der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Insoweit entfalte der Verwaltungsakt schon vor Eintritt seiner
materiellen Bestandskraft Tatbestandswirkung.
Die Beigeladene sei jedoch im Wege der einstweiligen Anordnung zur Gewährung von Leistungen nach §
3 AsylbLG vorläufig zu verpflichten. Die Antragsteller gehörten zum nach §
1 Abs.1 Nr.5
AsylbLG leistungsberechtigten Personenkreis. Aufgrund des Bestehens der Ausreisepflicht und den insofern möglicherweise durch die
noch zu erhebende Klage vor dem Verwaltungsgericht eintretenden Suspensiveffekt nach §
80 Abs.1 S.1
VwGO hätten die Antragsteller einen Anspruch auf Verfahrensduldung für die Dauer des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht.
Die Beigeladene hat den Antragstellern daraufhin mit Bescheid vom 25. Juni 2021 Leistungen nach §
2 AsylbLG ab dem 7. Juni 2021 bewilligt.
Die Antragsteller haben gegen den ihnen am 21. Juni 2021 zugestellten Beschluss am 21. Juli 2021 Beschwerde vor dem Schleswig-Holsteinischen
Landessozialgericht erhoben. Sie sind weiterhin der Auffassung, dass ihnen existenzsichernde Leistungen nach dem SGB II durch den Antragsgegner zustehen. Hilfsweise sei die Beigeladene nach dem SGB XII vorläufig zu verpflichten.
Die Antragsteller beantragen,
den Beschluss des Sozialgerichts Kiel vom 21. Juni 2021 aufzuheben und die aufschiebende Wirkung ihrer Klage vor dem Sozialgericht
Kiel gegen den Aufhebungsbescheid vom 6. Mai 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. Juni 2021 anzuordnen,
hilfsweise, die Beigeladene im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig zu verpflichten, ihnen Leistungen nach § 23 Abs. 3 Satz 4 SGB XII zu gewähren.
Der Antragsgegner beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Den Antragsstellern stünden für die Dauer des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens Leistungen nach dem
AsylbLG zu.
Die Beigeladene stellt keinen Antrag.
Sie ist der Auffassung, dass den Antragstellern keine Leistungen nach dem
AsylbLG zustünden. Die mit Bescheid vom 25. Juni 2021 bewilligten Leistungen seien aufgrund der Verpflichtung des Sozialgerichts
erfolgt. Mittlerweile habe sie die Antragsteller zu einer Leistungsaufhebung zum 1. September 2021 angehört.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge
verwiesen.
II.
Die zulässige Beschwerde ist begründet. Das Sozialgericht hat - aus seiner Sicht konsequent - dem Hauptantrag auf Anordnung
der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs bzw. nunmehr der Klage gegen den Aufhebungsbescheid vom 6. Mai 2021 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheids vom 22. Juni 2021 zu Unrecht nicht stattgegeben. Die Antragsteller haben nach Erlass der Verlustfeststellung
gemäß § 5 Abs. 4 FreizügG/EU durch die erst später bekannt gewordene Arbeitsaufnahme der Antragstellerin zu 1) zum 11. Juni 2021 die Voraussetzungen eines
Freizügigkeitstatbestands neu verwirklicht. Hierdurch wird die Tatbestandswirkung der Verlustfeststellung begrenzt (vgl. auch
LSG Hessen, Beschluss vom 9. Oktober 2019 - L 4 SO 160/19 B ER - juris). Die Antragstellerhaben den Antragsgegner und die
Beigeladene als Ausländerbehörde auf die geänderte Sachlage erfolglos hingewiesen, was insbesondere durch den Erlass der zurückweisenden
Widerspruchsbescheide vom 22. Juni 2021 bzw. 23. Juli 2021 deutlich wird.
Nach §
86b Abs.
1 Satz 1 Nr.
2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen der Widerspruch und die Anfechtungsklage keine aufschiebende
Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Grundsätzlich haben Widerspruch und Anfechtungsklage
gemäß §
86a Abs.
1 Satz 1
SGG aufschiebende Wirkung. Dies gilt unter anderem dann nicht, sofern durch Bundesgesetz anderes geregelt ist (§
86a Abs.
2 Nr.
4 SGG). Eine bundesgesetzliche Regelung im Sinne der vorstehenden Vorschrift stellt § 39 Nr. 1 SGB II dar. Gemäß §
86a Abs.
2 Nr.
4 SGG i.V.m. § 39 Nr. 1 SGB II haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende aufhebt,
keine aufschiebende Wirkung.
Ob die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anzuordnen ist oder nicht, entscheidet das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen.
Maßgeblich hierfür ist eine Interessenabwägung, wobei das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes
und das private Aussetzungsinteresse des Bescheidadressaten gegeneinander abzuwägen sind. Dabei sind vorrangig im Rahmen einer
summarischen Prüfung die Erfolgsaussichten des Hauptsacherechtsbehelfs zu berücksichtigen. Danach kann die aufschiebende Wirkung
angeordnet werden, wenn der Hauptsacherechtsbehelf offensichtlich begründet ist. Auch wenn wegen § 39 Nr. 1 SGB II im Regelfall der Adressat des Verwaltungsaktes das Vollzugsrisiko zu tragen hat, besteht in einem derartigem Fall grundsätzlich
kein öffentliches Interesse am Sofortvollzug eines aller Voraussicht nach aufzuhebenden Verwaltungsakts. Dies ist auch bei
ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes der Fall. Wenn der Hauptsacherechtsbehelf jedoch
offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, ist der Antrag abzulehnen. Bei offenem Verfahrensausgang sind das Sofortvollzugsinteresse
und das Suspensivinteresse gegeneinander abzuwägen.
Hiervon ausgehend ist dem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage zu entsprechen. Der in der Hauptsache
angefochtene Aufhebungsbescheid vom 6. Mai 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. Juni 2021 erweist sich als
rechtswidrig. Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei der in der Hauptsache erhobenen reinen
Anfechtungsklage (§
54 Abs.
1 Satz 1
SGG) der Erlass des Widerspruchsbescheids. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Antragstellerin zu 1) die Voraussetzungen eines Freizügigkeitstatbestandes
infolge ihrer Arbeitsaufnahme zum 11. Juni 2021 neu verwirklicht. Hierdurch wird die Tatbestandswirkung der Verlustfeststellung
begrenzt mit der Folge, dass die streitigen Bescheide teilweise rechtswidrig wurden bzw. sind und den Antragstellern die ursprünglich
mit Bescheid vom 24. Februar 2021 bewilligten Leistungen nach dem SGB II unter Berücksichtigung des Erwerbseinkommens der Antragstellerin zu 1) zum 11. Juni 2021 wieder zu gewähren sind.
Rechtsgrundlage für die Aufhebung der mit Bewilligungsbescheid vom 24. Februar 2021 bewilligten Leistungen ist § 48 Abs.1 Satz 1 SGB X. Hiernach ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsakts mit Dauerwirkung
vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Diese Voraussetzungen
sind vorliegend nicht mehr erfüllt.
Zwar geht das Sozialgericht zutreffend davon aus, dass der Bescheid der Ausländerbehörde vom 27. April 2021 eine Bewilligung
von Leistungen nach dem SGB II grundsätzlich sperrt (Beschluss des Senats vom 8. Juli 2021 - L 6 AS 92/21 B ER - juris). Auf die Vollziehbarkeit des Bescheids kommt es nicht an.
Jedoch ist die Antragstellerin zu 1) seit 11. Juni 2021 aufgrund ihrer Arbeitnehmereigenschaft aufgrund von primärem EU-Recht
und nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU wieder freizügigkeitsberechtigt (zu den Voraussetzungen des Arbeitnehmerbegriffs im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU: Beschluss des Senats vom 11. November 2015 - L 6 AS 197/15 B ER - juris Rn 20 m.w.N). Nach den Angaben der Antragsteller und ausweislich der vorliegenden Unterlagen war die Antragstellerin
zu 1) in der Zeit vom 11. Juni 2021 bis 15. Juli 2021 als Reinigungskraft mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 12 Stunden
und einem Stundenlohn von 11,11 €/brutto bei der W Gebäudereinigung H GmbH & Co KG beschäftigt. Seit dem 16. Juli 2021 steht
sie in einem unbefristeten sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis als Reinigungskraft bei der D Service Deutschland
GmbH mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 30 Stunden und ebenfalls einem Stundenlohn von 11,11 €/brutto.
Mit der Arbeitnehmereigenschaft der Antragstellerin zu 1) hat auch der Antragsteller zu 3) als Schüler der Grundschule ein
Aufenthaltsrecht aus Art.10 VO (EU) 492/2011. Als minderjährige Kinder der Antragstellerin zu 1) besteht für die Antragstellerinnen
zu 2) und 4) ebenfalls ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht.
Dem Entstehen der Freizügigkeitsberechtigung seit dem 11. Juni 2021 steht die Wirkung der Verlustfeststellung der Ausländerbehörde
vom 27. April 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23. Juli 2021 nicht entgegen.
Ob sich die Verlustfeststellung mit dem nach ihrem Erlass kraft Gesetzes verwirklichten neuen Freizügigkeitstatbestand im
Sinne des § 112 Abs. 2 Landesverwaltungsgesetz (LVwG) auf andere Weise als durch Zeitablauf jedenfalls mit Wirkung ex nunc erledigt hat (so LSG Hessen, Beschluss vom 9. Oktober
2019 - juris Rn. 46 f.) oder bei Neuerwerb der Freizügigkeitsberechtigung in einem andauernden Gerichtsverfahren die Verlustfeststellung
entweder mit Wirkung ex nunc aufzuheben ist oder als zeitlich teilbarer Verwaltungsakt nachträglich auf bestimmte zurückliegende
Zeiträume beschränkt werden kann und mithin grundsätzlich das Handeln der Ausländerbehörde erfordern (so unter Hinweis auf
die Rspr. des BVerwG LSG NRW, Beschluss vom 16. März 2020 - L 19 AS 2035/19 B ER - juris Rn. 38 ff) kann offenbleiben.
Wie der erkennende Senat bereits mit Beschluss vom 8. Juli 2021 L 6 AS 92/21 B ER (juris) angedeutet hat, können Umstände, die eine materielle europarechtliche Freizügigkeitsberechtigung verwirklichen
und die zeitlich nach Erlass der Verlustfeststellung eintreten, trotz der Rechtswirkungen einer Verlustfeststellung zu berücksichtigen
sein. Allerdings ist es zunächst Aufgabe der Verwaltung diese Umstände zu überprüfen, bevor gerichtlicher Rechtsschutz in
Anspruch genommen wird. Vorliegend haben die Antragsteller den Antragsgegner und auch die Beigeladene als Ausländerbehörde
über die erneute Arbeitsaufnahme der Antragstellerin zu 1) zum 11. Juni 2021 und auch zum 16. Juli 2021 zeitnah informiert.
Trotz Kenntnis darüber blieben die Widersprüche gegen die Leistungsaufhebung und gegen die Verlustfeststellung erfolglos.
Es ist glaubhaft gemacht, dass die Antragstellerin zu 1) ein primärrechtliches Freizügigkeitsrecht verwirklicht. Hierbei ist
- entgegen der Auffassung des Sozialgerichts - die Frage, ob ein Aufenthaltsrecht besteht, systematisch zutreffend im Rahmen
der Leistungsausschlüsse nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II und nicht bereits bei den allgemeinen Leistungsvoraussetzungen gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II (hier § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 "gewöhnlicher Aufenthalt"; a.A. LSG NRW, Beschluss vom 16. März 2020 - L 19 AS 2035/19 B ER - juris Rn. 35) zu prüfen. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 lit. a SGB II zeigt dies deutlich. Einer Modifikation der Definition des gewöhnlichen Aufenthaltes bedarf es deswegen nicht (vgl. Leopold
in jurisPK-SGB II, Stand 5. Januar 2021, § 7 Rn. 85). Auf die Rspr. des BSG, der sich der Senat anschließt, wird verwiesen (BSG, Urteil vom 30. Januar 2013 - B 4 AS 54/12 R - juris Rn. 18 ff.). Insoweit hat der Senat am gewöhnlichen Aufenthalt der Antragsteller im Geltungsbereich des Gesetzes
(§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II) keine Zweifel. Die Ausreisepflicht kann erst vollzogen werden, wenn der Bescheid der Ausländerbehörde bestandskräftig geworden
ist. Der Sofortvollzug wurde nicht angeordnet. Es besteht daher vorliegend nach Klageerhebung beim Verwaltungsgericht derzeit
keine Ausreisepflicht der Antragsteller. Es liegen auch keine Anhaltspunkte vor, dass die Antragsteller in absehbarer Zeit
die Bundesrepublik Deutschland wieder verlassen wollen.
Allerdings bedarf es bei der zentralen Frage, ob ein Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vorliegt, einer eigenständigen materiellen Prüfung, bei der jedenfalls Umstände, die eine materielle Freizügigkeitsberechtigung
verwirklichen und die zeitlich nach Erlass der Verlustfeststellung eintreten berücksichtigt werden müssen. Die Tatbestandswirkung
einer Verlustfeststellung (siehe hierzu Beschluss des Senats vom 8. Juli 2021 - L 6 AS 92/21 B ER - juris) ist insoweit begrenzt. Auch nach der Rspr. des BSG sind die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit befugt, im Rahmen eines eigenständigen Prüfungsrechts den materiellen Aufenthaltsstatus
von Unionsbürger zu prüfen (siehe BSG, Urteil vom 30. Januar 2013 - B 4 AS 54/12 R - juris Rn. 23 ff.). Diesem Verständnis folgend führt auch das LSG Hessen zu § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bis Nr. 3 SGB XII (Beschluss vom 9. Oktober 2019 - L 4 SO 160/19 B ER - juris Rn. 48 ff.) aus:
"Zu 2.: Ungeachtet dessen verpflichten die Leistungsausschlüsse des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis Nr. 3 SGB XII die Sozialbehörden wie die Sozialgerichte im Bereich der Freizügigkeit der Unionsbürger zu einer materiellen Betrachtungsweise.
Die Regelungen in § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis Nr. 3 SGB XII stellen nicht auf eine Freizügigkeitsberechtigung als solche ab, sondern vorrangig auf deren materiellen Grund; daher ist
eine Prüfung aller in Betracht kommenden Aufenthaltsrechtstatbestände notwendig. Bereits das Vorhandensein der Voraussetzungen
einer Freizügigkeitsberechtigung aus einem anderen Grund als dem Zweck der Arbeitsuche hindert die Feststellung, "kein Aufenthaltsrecht"
zu haben, und die notwendige positive Feststellung eines Aufenthaltsrechts "allein aus dem Zweck der Arbeitsuche" i.S.d. §
23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII (vgl. BSG, Urteil vom 30. Januar 2013 - B 4 AS 54/12 R, SGb 2013, 603, Rn. 23; BSG, Urteil vom 13. Juli 2017- B 4 AS 17/16 R, SozR 4-4200 § 7 Nr. 54, Rn. 18). Insbesondere mit der Schaffung des neuen Leistungsausschlusses für Personen, "die kein
Aufenthaltsrecht" haben, wollte der Gesetzgeber klarstellen, "dass nicht erwerbstätige Personen ohne materielles Freizügigkeits-
oder Aufenthaltsrecht "erst recht" von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sind" (BR-Drs. 587/16 S. 7 f.). Die Neufassung steht damit der zuvor verbreitet vertretenen Rechtsauffassung
entgegen, die gegen einen "erst recht"-Schluss eingewandt hatte, dass bis zur Verlustfeststellung durch die Ausländerbehörde
nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU von der Freizügigkeitsvermutung auszugehen sei. Mithin sollte klargestellt werden, dass Sozialleistungsträger und die Sozialgerichte
zur eigenständigen Prüfung der materiellen Rechtslage ermächtigt sind; sie sollten gerade nicht vom Erlass der Verlustfeststellung
abhängig sein. Die gesetzlich angeordnete materielle Betrachtungsweise setzt sich in umgekehrter Richtung auch gegen eine
rechtswidrig gewordene Verlustfeststellung durch, nämlich dort, wo das Gesetz nicht auf die Verlustfeststellung selbst - wie
etwa in § 23 Abs. 3 Satz 7 SGB XII - sondern allein auf das materielle Recht abstellt.
Diese Rechtsauffassung setzt sich nicht in Widerspruch zur Rechtsprechung zur Tatbestandswirkung von Aufenthaltserlaubnissen
(z.B. BSG, Urteil vom 2. Dezember 2014 - B 14 AS 8/13 R -, juris Rn. 12). Denn soweit nach materiellem Sozialrecht ein bestimmter Aufenthaltstitel erforderlich ist, beruht dieses
Erfordernis eines Titels auf dem Zusammenwirken von Sozial- und Aufenthaltsrecht: Soweit es dazu auf den "Besitz" eines bestimmten
Aufenthaltstitels ankommt (z.B. §
1 Abs.
1 Nr.
3 AsylbLG) oder darauf, dass ein entsprechender Aufenthaltstitel "erteilt worden ist" (vgl. §
1 Abs.
2 AsylbLG), ist für zusätzliche Entscheidungen der Leistungsträger zum Aufenthaltsgesetz (AufenthG) schon sprachlich kein Raum. Zudem entsteht nach § 4 Abs. 1 AufenthG - anders als nach § 2 FreizügG/EU - das Recht auf Einreise und Aufenthalt grundsätzlich erst mit der Erteilung des Titels. Mit dieser Wortwahl bedient sich
der Gesetzgeber der im Sozialrecht verbreiteten Regelungsmethode, dem Besitz der jeweiligen Erlaubnis oder Entscheidung Tatbestandswirkung
für den betreffenden Sozialleistungsanspruch derart beizumessen, dass er für Behörden und auch Gerichte ohne Rücksicht auf
ihre materielle Richtigkeit bindende Wirkung entfaltet (BSG, Urteil vom 2. Dezember 2014 - B 14 AS 8/13 R -, juris Rn. 12). Einer solchen Regelungstechnik hat sich der Gesetzgeber aber bei den § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bis Nr. 3 SGB XII - die auch vorrangig auf Unionsbürger und damit die Rechtslage nach dem FreizügG/EU abzielen - gerade nicht bedient.
Da nach hier vertretener Auslegung der § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis Nr. 3 SGB XII die Tatbestandswirkung der Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU für sozialhilferechtliche Rechtsfolgen bereits gesetzlich begrenzt ist, kann der Senat offenlassen, ob die vom 9. Senat des
Landessozialgerichts im Beschluss vom 10. Juli 2018 - L 9 AS 142/18 B ER - aus der allgemeinen Dogmatik zur Tatbestandswirkung hergeleiteten Erwägungen ebenfalls durchgreifen.".
Dem schließt sich der Senat an und überträgt diese Rechtsprechung auf den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II.
Damit geht der Senat im Falle einer Verlustfeststellung grundsätzlich von einer Tatbestandswirkung und mithin einem Leistungsausschluss
aus. Auch allgemeine Leistungen nach § 23 Abs. SGB XII sowie Leistungen nach dem
AsylbLG sind ausgeschlossen (siehe Beschluss des Senats vom 8. Juli 2021 - L 6 AS 92/21 B ER - juris). Den Betroffenen stehen danach lediglich Leistungen nach § 23 Abs. 6 SGB XII zu, die grundsätzlich zeitlich beschränkt sind und grundsätzlich Ausnahmecharakter haben. Wird nach Verlust der Freizügigkeit
ein neuer Tatbestand verwirklicht, der ein Freizügigkeitsrecht begründen kann, so bedarf es einer Befassung der zuständigen
Ausländerbehörde mit der Gelegenheit zur Prüfung, ob eine rechtswidrige oder rechtswidrig gewordene Verlustfeststellung aufzuheben
ist. Sofern diese untätig bleibt oder die neuen Umstände nicht berücksichtigt, können die Sozialgerichte im Rahmen des von
§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ohne Bindung an die Verlustfeststellung eigenständig das Aufenthaltsrecht bejahen und den zuständigen Leistungsträger - hier
also den Antragsgegner und nicht die Beigeladene - vorläufig zu Leistungen verpflichten. Ein solches Verständnis ist auch
durch den effektiven Rechtsschutz bei existenzsichernden Leistungen geboten. Für EU-Bürgerinnen und Bürger gibt es keine Möglichkeit,
die grundsicherungsrechtlich relevanten Folgen einer Verlustfeststellung bei den Verwaltungsgerichten im Eilverfahren überprüfen
zu lassen, denn die spezifisch ausländerrechtlichen Folgen der Abschiebung werden durch die aufschiebende Wirkung berücksichtigt.
Die Ausländerbehörde könnte dann ohne die Möglichkeit eines Rechtsschutzes ggf. über Monate oder Jahre entgegen der materiellen
Rechtslage die Verwirklichung der unionsrechtlichen Freizügigkeit im Sozialrecht und damit letztlich die Gewährung existenzsichernder
Leistungen verhindern. Bei fehlender sofortiger Vollziehbarkeit der Verlustfeststellung - was der Regelfall sein dürfte und
auch vorliegend der Fall ist - stünde den Betroffenen, worauf der Prozessbevollmächtige der Antragsteller in seiner Beschwerdebegründung
auch verwiesen hat, dann lediglich der Weg über ein oftmals mehrere Jahre dauerndes ordentliches Gerichtsverfahren vor den
Verwaltungsgerichten offen. Die Verlustfeststellung würde dann ähnlich einer Wiedereinreisesperre wirken, die unionsrechtlich
im Falle des § 5 Abs. 4 FreizügG/EU unverhältnismäßig wäre (vgl. LSG Hessen, a.a.O., Rn. 46 m.w.N.).
Mithin war die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Aufhebungsbescheid des Antragsgegners vom 6. Mai 2021 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheids vom 22. Juni 2021 anzuordnen. Dessen ungeachtet bleibt es dem Antragsgegner unbenommen hinsichtlich
der Höhe der Leistungen wegen des Einkommenszuflusses einen Änderungsbescheid für die Zukunft zu erlassen. Soweit Nachzahlungen
für den zurückliegenden Zeitraum in Betracht kommen, ist der Bezug von Leistungen nach dem
AsylbLG zu berücksichtigen.
Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung von §
193 SGG und berücksichtigt, dass die Tatsachen für das erneute Entstehen eines Freizügigkeitsrechts im gerichtlichen Verfahren erst
nach Zustellung des erstinstanzlichen Beschlusses von den Antragstellern glaubhaft gemacht worden sind.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren war aufgrund des vorrangigen Kostenerstattungsanspruchs
gegen den Antragsgegner abzulehnen.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§
177 SGG).