Armplexusläsion; Minderung der Erwerbsfähigkeit; Vergleichende Festlegung der MdE bei MdE-Rahmen
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Höhe der unfallbedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) auf Dauer.
Der 19XX geborene Kläger war zum Unfallzeitpunkt als Kfz-Mechatroniker beschäftigt. Er verunfallte am 21. September 2009 auf
dem Weg zur Arbeit mit seinem Motorrad. Er fuhr gegen einen PKW, dessen Fahrer ihm die Vorfahrt nahm, und stürzte.
Der Kläger erlitt dabei ein Schädel-Hirn-Trauma I. Grades, einen Abriss des Musculus brachio-radialis am rechten Ellenbogen,
der am 25. September 2009 operiert wurde (Bericht Klinik Eutin vom 9. Oktober 2009) sowie eine traumatische Läsion des oberen
Anteils des Plexus brachiocervikalis rechts mit klinischem Komplettausfall im Myotom C4 bis C6, für die im Mai 2010 eine Transplantation
eines Nervens aus dem Unterschenkel durchgeführt wurde, die zunächst nicht zu einer Veränderung der Lähmungen im rechten Arm
führte.
Mit Bescheid vom 24. September 2010 gewährte die Beklagte dem Kläger ab 28. Juni 2010 eine Rente als vorläufige Entschädigung
nach einer MdE von 50 vH. Die Beklagte berücksichtigte als anerkannte Unfallfolgen am rechten Arm eine hochgradige Bewegungseinschränkung
der rechten Schulter in allen Ebenen; Bewegungseinschränkungen des Ellenbogengelenkes und des Unterarmes; Minderung des Berührungs-
und Schmerzempfindens am körpernahen außenseitigen Ober- und Unterarm bis zum Daumen und Zeigefinger streckseitig; Schulteranpralltrauma
mit Armplexusläsion sowie Abriss des Oberarmspeichenmuskels. Dieser Entscheidung lagen das Gutachten von Dr. K. vom 6. August
2010 auf unfallchirurgischem Fachgebiet und das Gutachten von Dr. G. vom 26. August 2010 auf neurologischem Fachgebiet zugrunde,
die die MdE für die Unfallfolgen bis zum Ablauf des dritten Jahres nach dem Unfall auf 50 vH schätzten.
Ab Februar 2011 kam es zu Reinnervationen, die in der Folge die Beugung des rechten Armes verbesserten (Befundbericht Prof.
P. vom 9. August 2011; Bericht Dr. G. vom 6. Oktober 2011). Bei der Armabduktion und Anteversion bestanden weiterhin ausgeprägte
Schwächen, für die Armstreckung und die Armbeugung über den Musculus brachioradialis bestanden leichte Lähmungen. Darüber
hinaus wurden ausgeprägte Sensibilitätsstörungen an der rechten Schulter und am rechten Arm festgestellt. Nach einer mehrwöchigen
stationären Behandlung im Herbst 2011 verbesserten sich die aktive Abduktion, die Muskelkraft bei Armanteversion sowie die
inter- und intramuskuläre Koordination. Der Kläger musste weniger Ausweichbewegungen vollführen. Die aktive Außenrotation
im Schultergelenk war weiterhin kaum möglich (Bericht Dr. G. vom 15. November 2011).
In seinem von der Beklagten veranlassten zweiten Rentengutachten vom 18. Januar 2012 stellte Dr. K. als noch bestehende Unfallfolgen
auf unfallchirurgischem Fachgebiet eine Muskelverschmächtigung im Bereich des gesamten rechten Armes und der Schulterkappe
mit hochgradiger Funktionseinschränkung der rechten Schulter, Bewegungseinschränkung des rechten Ellenbogens, Kraftminderung
im Bereich des rechten Armes, Narbenbildung fest. Eine wesentliche Besserung sei nicht zu erwarten. Die MdE für die Unfallfolgen
schätzte er auf unfallchirurgischem Fachgebiet und als Gesamt-MdE mit 40 vH ein. Dr. G. schätzte die Unfallfolgen auf neurologischem
Fachgebiet und als Gesamt-MdE mit 40 vH ein (Gutachten vom 19. Januar 2012). Als nachweisbare Unfallfolgen beschrieb er Lähmungen
des Abspreizens des rechten Armes und Vorhebens des rechten Armes in der Schulter, die jeweils nicht gegen die Schwerkraft
gelingen, Lähmungen der Ellenbogenbeugung vor allem über den Musculus Bizeps und der Auswärtsdrehung des Armes, das Gelingen
der Ellbogenbeugung über den Musculus brachioradialis gegen mäßigen Widerstand, die Ellenbogenstreckung auch gegen kräftigen
Widerstand sowie ausgedehnte Sensibilitätsstörungen an den Armen und mehreren Fingern. Bei der Höhe der geschätzten MdE berücksichtigte
er auch Anpassung und Gewöhnung.
Die Beklagte gewährte dem Kläger mit Bescheid vom 28. März 2012 ab April 2012 eine Verletztenrente auf Dauer nach einer MdE
von 40 vH. Sie berücksichtigte eine hochgradige Bewegungseinschränkung der rechten Schulter in allen Ebenen, Bewegungseinschränkungen
im Ellenbogengelenk und bei der Unterarmauswärtsdrehung, Muskelminderung am gesamten Arm, Kraftminderung, Minderung des Berührungs-
und Schmerzempfindens unterhalb des Schlüsselbeins, an der Vorder- und Außenseite der Schulter und des Oberarms, an der Streckseite
und radialen Beugeseite des Unterarmes und an den ersten beiden Fingern beuge- und streckseitig sowie am Fußaußenrand rechts
im Versorgungsgebiet des zur Transplantation entnommenen Nerven nach Schulteranpralltrauma mit Armplexusläsion sowie Abriss
des Oberarmspeichenmuskels. Die Entscheidung stützte die Beklagte auf die Gutachten von Dr. K. und Dr. G..
Dagegen legte der Kläger am 17. April 2012 Widerspruch ein, den er im Wesentlichen damit begründete, dass in den ärztlicherseits
festgestellten - und von ihm beschriebenen - Unfallfolgen keine nennenswerte Änderung eingetreten sei und die ihm möglichen
Bewegungen schmerzhaft seien, so dass auch die abgesenkte Bewertung der MdE nicht gerechtfertigt sei.
In ihrer beratungsärztlichen Stellungnahme für die Beklagte gelangte Dr. W. zu der Einschätzung, dass die Unfallfolge mit
einer MdE von 40 vH zutreffend gewürdigt würden. Bei einer annähernd aufgehobenen Beweglichkeit des rechten Schultergelenkes
sei zusätzlich durch die Schwäche der Beugung im Ellenbogengelenk eine Funktionseinschränkung des Ellenbogengelenks nachweisbar.
Unter Berücksichtigung anderer Konstellationen und deren Bewertung in der Literatur sei eine höhere MdE als 30 v. H. wie bei
einer Schultergelenksversteifung nachvollziehbar. Der Ausfall des unteren Bereiches des Plexus werde - allgemein - mit einer
MdE von 50 bis 60 vH, der Ausfall des unteren Plexus mit einer MdE von 40 bis 50 vH bedacht. Bei einer vollständigen Kraftentwicklung
im Bereich der Hand und des Handgelenkes sei eine wichtige Funktion des Armes erhalten und auch die Ellenbogenstreckung sei
kraftvoll möglich. Daher sei allenfalls eine MdE im Bereich des Ausfalls des oberen Plexus zu diskutieren. Zwar sei die Beugung
im Ellenbogengelenk deutlich kraftgemindert, jedoch gelinge ein Greifen bei guter Entwicklung der Finger. Der Verlust aller
Finger werde ebenso wie eine komplette Einsteifung des Ellenbogengelenks mit einer MdE von 50 vH belegt.
Den Widerspruch wies die Beklagte daraufhin und unter Verwendung der Argumentation von Dr. W. mit Widerspruchsbescheid vom
12. Juli 2012 zurück. Sie erläuterte ferner, dass sich die Bewertungsmaßstäbe für die Einschätzung der Unfallfolgen zwar nicht
geändert hätten, jedoch die Rente als vorläufige Entschädigung nach anderen Maßstäben bestimmt werde als die Rente auf unbestimmte
Zeit. Die Rente als vorläufige Entschädigung werde im Regelfall "weicher" bewertet.
Gegen die Entscheidung der Beklagten hat der Kläger am 13. August 2012 vor dem Sozialgericht Lübeck Klage erhoben. Er hat
sein bisheriges Vorbringen mit der Beschreibung der motorischen Ausfälle insbesondere im Bereich der Schulter und der Einschränkungen
im Ellenbogengelenk und der Empfindungsstörungen bekräftigt.
Das Sozialgericht Lübeck hat Beweis erhoben durch ein Gutachten des Arztes für Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. E.. Dieser
hat in seinem Gutachten vom 30. Mai 2014 ausgeführt, die noch verbliebene Störung im Schultergelenk sei hochgradig und vergleichbar
mit einer Schultergelenkversteifung und im Ellenbogengelenk seien die Beugung und die Drehung im Unterarm gestört. Beide Störungen
zusammen bedingten eine MdE von 40 vH. Ausgehend von den neurologischen Bewertungsmaßstäben liege eine nicht ganz vollständige
Lähmung des oberen Armplexus vor mit noch erhaltenen Funktionen minimal im Bereich des Deltamuskels, für die Schulterinnendreher
und ausreichend für die Ellenbogenbeugung ohne eine besondere Störung der Ellenbogenstreckung und Mitbeteiligung der Unterarmdrehung.
Mit Urteil vom 28. Juli 2015 hat das Sozialgericht Lübeck die Klage abgewiesen. Die MdE, die für eine Rente als vorläufige
Entschädigung festgestellt werde, habe nach §
62 Abs
2 S 2 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (
SGB VII) keine Verbindlichkeit für die MdE einer anschließenden Dauerrente. Das Sozialgericht wertete die aktenkundigen Befundberichte,
das Gutachten von Dr. E., die Bewertungen von Dr. K. und Dr. B./Dr. G. sowie die beratungsärztliche Stellungnahme von Dr.
W. aus. Nach dem Schulteranpralltrauma mit Armplexusläsion sowie Abriss des Oberarmspeichenmuskels seien die hochgradige Bewegungseinschränkung
der Schulter in allen Ebenen, Bewegungseinschränkung im Ellenbogengelenk und bei der Unterarmauswärtsdrehung, Muskelminderung
am gesamten Arm, Kraftminderung, Minderung des Berührungs- und Schmerzempfindens unterhalb des Schlüsselbeines, an der Vorder-
und Außenseite der Schulter und des Oberarmes, an der Streckseite und radialen Beugeseite des Unterarmes und an den ersten
beiden Fingern beuge- und streckseitig sowie am Fußaußenrand rechts im Versorgungsgebiet des zur Transplantation entnommenen
Nerven mit einer MdE von 40 vH zu bewerten.
Gegen das ihm am 11. Dezember 2014 zugestellte Urteil richtet sich die am 8. Januar 2015 eingegangene Berufung des Klägers,
mit der er Einwände gegen das Gutachten von Dr. E. und dessen Bewertung erhebt sowie - erneut - seine anhaltenden Einschränkungen
schildert.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 28. Juli 2015 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 28. März 2012 in der
Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12. Juli 2012 abzuändern sowie die Beklagte zu verurteilen, ihm wegen der gesundheitlichen
Folgen seines Unfalls vom 21. September 2009 ab dem 1. April 2012 eine Verletztenrente auf Dauer nach einer MdE von 50 vH
zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die Entscheidung des Sozialgerichts Lübeck für zutreffend. Dem Gutachten von Dr. H. vermöge sie nicht zu folgen.
Sie beruft sich auf eine weitere vorgelegte beratungsärztliche Stellungnahme von Dr. W., nach der die Funktionseinschränkungen
des Klägers in den Gutachten und ärztlichen Befund- und Behandlungsberichten im Wesentlichen ohne nennenswerte Abweichungen
beschrieben würden. Allerdings halte sie an ihrem Ansatz für die Bewertung der MdE und einer MdE von 40 vH fest.
Das Gericht hat ein Gutachten von Dr. H. eingeholt. In seinem Gutachten vom 9. Februar 2021 nebst ergänzender Stellungnahme
vom 29. April 2021 hat er für die oberen Extremitäten eine erhebliche Muskelverschmächtigung im Bereich des rechten Schulterblattes
am Ober-/Untergrätenmuskel und im Bereich der Schulterkappenmuskulatur sowie im Bereich der Beugemuskulatur des Oberarmes
(Musculus bizeps) beschrieben. Des Weiteren bestehe eine Störung des Berührungsempfindens am rechten Arm vom Schlüsselbein
zur Vorder- und Außenseite des Oberarmes über die Ellenbeuge auf den speichenseitigen Unterarm bis zu den Fingern 1 bis 3
ziehend. Aufgrund der Nervenverletzung bestehe eine hochgradige Bewegungseinschränkung des rechten Armes im Schultergelenk
für die Vorwärts- und Seitwärtshebung des Armes sowie für die Außendrehung des Armes. Im Ellenbogen bestehe eine geringe Streckhemmung
des rechten Ellenbogens und eine um die Hälfte eingeschränkte Außendrehung des Unterarmes bei gebeugtem Ellenbogengelenk.
Die Kraftentwicklung des Musculus bizeps für die Außendrehung des Unterarmes im Ellenbogengelenk sei gering ausgeprägt, die
Beugung im Ellenbogengelenk bei außenrotiertem Unterarm sei anfänglich mit dem Kraftgrad III bis IV, gegen Ende der Bewegung
mit abnehmender Kraft und vermehrtem Muskelzittern möglich (Kraftgrad III bis IV nach Jana). Unter Auswertung der MdE-Tabellen
im Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage schätzt er die im Schulter- und Ellenbogengelenk
verbliebenen Funktionseinschränkungen über den 17. Januar 2012 hinaus mit einer MdE von 50 vH ein. Für die Einzelheiten wird
auf sein Gutachten Bezug genommen.
Dem Gericht haben die Verwaltungsvorgänge der Beklagten vorgelegen. Für die weiteren Einzelheiten wird auf die aktenkundigen
Unterlagen und Schriftsätze Bezug genommen. Sie waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.
Entscheidungsgründe
Die Berufung des Klägers ist form- und fristgerecht (§
151 Abs
1 Sozialgerichtsgesetz -
SGG) eingelegt worden sowie im Übrigen zulässig, insbesondere statthaft (§
143, §
144 Abs
1 SGG). Sie ist auch begründet.
1. Der Kläger hat wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 21. September 2009 einen Anspruch auf die Gewährung einer Verletztenrente
nach einer MdE von 50 vH. Der Bescheid der Beklagten vom 28. März 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Juli
2012 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Unter Berücksichtigung der Grundsätze für einen Anspruch
auf Verletztenrente (dazu a)) bedingen die Unfallfolgen des Klägers (dazu b)) einen Anspruch auf eine Rente nach einer MdE von 50 vH (dazu c)).
a) Anspruchsgrundlage für die begehrte Rentengewährung ist §
56 Abs
1 Satz 1
SGB VII. Danach haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls - hier eines Arbeitsunfalls - über die
26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 vH gemindert ist, Anspruch auf Rente. Die Folgen eines Versicherungsfalls
sind nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 vH mindern (§
56 Abs
1 Satz 3
SGB VII). Gemäß §
62 Abs
2 Satz 2
SGB VII kann bei der erstmaligen Feststellung der Rente nach der vorläufigen Entschädigung der Vomhundertsatz der MdE abweichend
von der vorläufigen Entschädigung festgestellt werden, auch wenn sich die Verhältnisse nicht geändert haben. Nach Satz 1 des
§
62 Abs
2 SGB VII wird die Rente jedoch spätestens mit Ablauf von drei Jahren nach dem Versicherungsfall kraft Gesetzes als Rente auf unbestimmte
Zeit geleistet. §
62 Abs
2 SGB VII ermächtigt damit dazu, trotz vorliegender Entscheidung über die Bewilligung einer Verletztenrente als vorläufige Entschädigung
eine Dauerrente ohne Bindung an die bisher zugrunde gelegte MdE nach einer niedrigeren MdE zu bewilligen, ohne dass dafür
eine wesentliche Änderung gegenüber den Verhältnissen eingetreten sein müsste, die bei Bewilligung der vorläufigen Entschädigung
vorgelegen hatten. Es befugt und verpflichtet den Träger, die "abschließende" Tatsachenfeststellung ungeachtet der bisherigen
MdE-Feststellungen und insbesondere ohne das Erfordernis einer Änderung der tatsächlichen Verhältnisse zu treffen, ohne dass
ihr Ermessen zusteht (BSG, Urteil vom 16. März 2010 - B 2 U 2/09 R -Rn 26). Diese Spezialvorschrift verdrängt in ihrem Anwendungsbereich die generelle Regelung des § 48 SGB X, die als Voraussetzung ua eine wesentliche Änderung der Verhältnisse für die Aufhebung eines Verwaltungsaktes fordert. Die
Anwendung des §
62 Abs
2 Satz 2
SGB VII setzt voraus, dass eine Verletztenrente als vorläufige Entschädigung bewilligt wurde, der Versicherungsträger nunmehr erstmals
darüber entscheidet, ob dem Versicherten eine Rente auf unbestimmte Zeit zusteht oder nicht, und der Änderungsvorbehalt wegen
Ablaufes des Dreijahreszeitraumes noch nicht entfallen war (BSG, Urteil vom 19. Dezember 2013 - B 2 U 1/13 R - Rn 11). Das ist hier der Fall. Die Beklagte konnte die MdE des Klägers nach dem Unfall am 21. September 2009 ab April 2012 zudem
abschließend feststellen, denn in den Gesundheitsfolgen des Klägers war eine Stabilisierung erreicht, die die Prognose gerechtfertigt
hat, die festgestellte MdE werde über den Zeitraum von drei Jahren nach dem Versicherungsfall hinaus in dem gegebenen Umfang
fortbestehen.
Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden
verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§
56 Abs
2 Satz 1
SGB VII). Die Bemessung der MdE hängt damit zum einen von den verbliebenen Beeinträchtigungen des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens
und zum anderen von dem Umfang der dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten ab. Entscheidend ist nicht der Gesundheitsschaden
als solcher, sondern vielmehr der Funktionsverlust unter medizinischen, juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten
(BSG, Urteil vom 20. Dezember 2016 - B 2 U 11/15 R - Rn 14 mwN; Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. 2017, S. 123). Die Entschädigung in der gesetzlichen Unfallversicherung wird von dem Grundsatz der abstrakten Schadensberechnung beherrscht,
der die konkrete Einkommenssituation der Betroffenen nicht berücksichtigt (BSG, Urteil vom 27. Juni 2000 - B 2 U 14/99 R - Rn 29). Die Bemessung des Grades der MdE erfolgt als Tatsachenfeststellung des Gerichts, das diese gemäß §
128 Abs
1 Satz 1
SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft (BSG, Urteil vom 18. Januar 2011 - B 2 U 5/10 R - Rn 16). Die zur Bemessung der MdE in Rechtsprechung und Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind dabei zu beachten. Sie
sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche und gerechte Bewertung
der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen ständigem Wandel (BSG, Urteil vom 22. Juni 2004, B 2 U 14/03 R).
Das Werk Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, in der jeweils neuesten Auflage ist ein unfallmedizinisches
Standardwerk (vgl BSG, Urteil vom 20. Dezember 2016 - B 2 U 11/15 R - Rn 23). Die - auch dort - wiedergegebenen MdE-Tabellen bezeichnen typisierend das Ausmaß der durch eine körperliche, geistige oder
seelische Funktionsbeeinträchtigung hervorgerufenen Leistungseinschränkungen in Bezug auf das gesamte Erwerbsleben und ordnen
körperliche oder geistige Funktionseinschränkungen einem Tabellenwert zu. Die in den Tabellen und Empfehlungen enthaltenen
Richtwerte geben damit auch allgemeine Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher Beeinträchtigungen auf
die Erwerbsfähigkeit aufgrund des Umfangs der den Verletzten versperrten Arbeitsmöglichkeiten wieder und gewährleisten, dass
die Verletzten bei der medizinischen Begutachtung nach einheitlichen Kriterien beurteilt werden (BSG, Urteil vom 20. Dezember 2016 - B 2 U 11/15 R - Rn 19).
b) Bei dem Kläger besteht nach dem Unfall vom 21. September 2009 eine inkomplette Lähmung des Plexus brachialis im oberen
Bereich. Diese inkomplette Lähmung bedingt eine erhebliche Muskelverschmächtigung im Bereich des rechten Schulterblattes am
Ober-/Untergrätenmuskel und im Bereich der Schulterkappenmuskulatur sowie im Bereich der Beugemuskulatur des Oberarmes (Musculus
bizeps). Aufgrund der Nervenverletzung besteht eine hochgradige Bewegungseinschränkung des rechten Armes im Schultergelenk
für die Vorwärts- und Seitwärtshebung des Armes sowie für die Außendrehung des Armes. Im Ellenbogen besteht eine geringe Streckhemmung
des rechten Ellenbogen und eine um die Hälfte eingeschränkte Außendrehung des Unterarmes bei gebeugtem Ellenbogengelenk. Die
Kraftentwicklung des Musculus bizeps für die Außendrehung des Unterarmes im Ellenbogengelenk ist gering ausgeprägt, die Beugung
im Ellenbogengelenk bei außenrotiertem Unterarm ist anfänglich mit dem Kraftgrad III bis IV, gegen Ende der Bewegung mit abnehmender
Kraft und vermehrtem Muskelzittern möglich (Kraftgrad III bis IV nach Jana). Des Weiteren besteht eine Störung des Berührungsempfindens
am rechten Arm vom Schlüsselbein zur Vorder- und Außenseite des Oberarmes über die Ellenbeuge auf den speichenseitigen Unterarm
bis zu den Fingern 1 bis 3 ziehend. Für das neurologische Schadensbild liegen die Diagnose und die Beschreibung der neurologisch
bedingten Funktionseinschränkungen von Dr. G. (Urkundsbeweis im Sinne von §
415 ZPO) vor, an dessen Feststellungen auf neurologischem Fachgebiet keine Zweifel bestehen und die vom Gericht zugrunde gelegt werden.
Aufklärungsbedarf auf neurologischem Fachgebiet bestand nicht. Die durch den neurologischen Schaden bedingten Bewegungs- und
Funktionseinschränkungen stützt das Gericht auf die Darstellung der jeweils ab 2012 festgestellten Funktionseinschränkungen
von Dr. H. vom 9. Februar 2021 und von Dr. E. vom 30. Mai 2014 (Gutachten im Sinne von §§
402 ZPO) sowie die Gutachten von Dr. K. und Dr. G. (Urkundsbeweis im Sinne von §
415 ZPO). Die Funktionseinschränkungen bestehen - wie von Dr. K. und Dr. G. erstmals im Januar 2012 und 2014 von Dr. E. und 2021
von Dr. H. festgestellt - seit Anfang 2012 letztlich unverändert. Sie werden durch Umfangsminderungen im Ober- und Unterarm
rechts gegenüber links begleitet, die für sich genommen nicht MdE-relevant sind, jedoch die gutachterlich festgestellten Funktionseinschränkungen
dokumentieren.
c) Diese bei dem Kläger verbliebenen Funktionseinschränkungen im rechten Arm sind mit einer MdE von 50 vH zu bewerten.
Eine inkomplette Lähmung des Plexus brachialis im oberen Bereich kann nach den MdE-Erfahrungswerten im Schönberger/Mehrtens/Valentin,
Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage Seite 252 (im Folgenden S/M/V AuB, Seite ...) mit einem Rahmen zwischen 40 und
50 bewertet werden. Die Erfahrungswerte beziehen sich auf den vollständigen Ausfall, Teillähmungen sind geringer zu bewerten.
Eine Teillähmung liegt hier vor, nachdem der Musculus biceps wieder neuronal angesteuert und bewegt werden kann. Diese Teillähmung
führt im Fall des Klägers nicht - mehr - dazu, dass der rechte Unterarm schlaff herunterhängt und nur die rechte Hand in ihrer
Beweglichkeit und mit der Möglichkeit, Kraft zu entfalten, einsetzbar ist. Sein Zustand ist besser als bei einer kompletten
Lähmung im oberen Bereich des Plexus brachialis.
Veröffentlichte gerichtliche Entscheidungen zur Bewertung einer Armplexusläsion gibt es nicht. Die Überlegungen der Beklagten,
dass der Zustand des Klägers nicht als eine komplette Lähmung des Armplexus im oberen Bereich dargestellt werden kann, sind
im Ansatz nachvollziehbar. Nachvollziehbar ist auch, dass Ausgangspunkt ihrer Bewertung die Tabelle auf Seite 252 im S/M/V
AuB ist. Unterstellt, dass eine MdE von 50 vH den Funktionsausfall in der Schulter abwärts bis zur Hand abbildet, erlauben
geringere Einschränkungen eine Bemessung der MdE unter 50 vH und nach der Tabelle im S/M/V AuB, Seite 252 von mindestens 40
vH. Im S/M/V AuB, Seite 252 wird nicht beschrieben, für welche verbliebenen Funktionsbeeinträchtigungen und wiedererlangten
Funktionsmöglichkeiten der obere (MdE 50 vH) oder untere Rahmen (MdE 40 vH) die Einschränkungen angemessen abbildet. Eine
ausgehend von diesem Rahmen anzunehmende MdE von 40 vH für die Lähmung des Armplexus mit Auswirkungen nur auf die Beweglichkeit
im Schulterbereich und nicht im Ellenbogen wäre in seiner Bewertung dann höher als eine Einschränkung der Beweglichkeit in
der Schulter nach einer Schultergelenkversteifung mit 30 Grad Abduktion ohne Einschränkung des Schultergürtels (S/M/V AuB
Seite 560). Sie wäre vergleichbar mit einer Versteifung im Schultergelenk und Schultergürtel in Funktionsstellung, die mit
einer MdE von 40 vH bewertet wird (S/M/V AuB Seite 560).
Es ist für das Gericht nachvollziehbar, dass Dr. H. die Situation des Klägers mit diesem Umfang der Einschränkung in der Schulter
vergleicht, da dessen Schultergürtelmuskulatur in der Schulter nahezu nicht einsetzbar ist.
Ausgehend von dieser vergleichenden Betrachtung der nicht diagnoseorientierten, sondern funktionsorientierten MdE-Erfahrungswerte
wird der untere Rahmen einer MdE von 40 für die obere Armplexusläsion bereits durch hochgradige Bewegungseinschränkungen in
der Schulter "ausgefüllt". Nicht beschrieben wird im S/M/V AuB Seite 252, wie umfangreich die Funktion im Ellenbogengelenk
und in der Hand noch bzw wieder sein muss oder sein darf, um eine MdE von 40 oder 50 vH anzunehmen. Lediglich durch die Berücksichtigung
des Umstandes, dass ein vollständiger Ausfall des Plexus brachialis (Totalausfall) mit einer MdE von 75 vH bewertet wird und
in dem Fall auch die Hand am schlaff herunterhängenden Arm nicht mehr neuronal angesteuert und zum statischen Festhalten von
- leichten - Gegenständen verwendet werden kann, wird deutlich, dass die Einsetzbarkeit der Hand für die MdE-Bewertung der
Plexusläsion im oberen Bereich nicht entscheidend sein kann. Denn dann bedurfte es nicht einer MdE von 75 vH um diesen zusätzlichen
Funktionsausfall der Hand ebenfalls zu bewerten. Wenn aufgrund dieses Gefüges der MdE-Bewertung die Einsetzbarkeit der Hand
für die Bewertung einer Armplexusläsion im oberen Bereich nicht von Bedeutung sein kann, kann die Beweglichkeit der Hand nicht
MdE-relevant sein.
Daher bewertet das Gericht die nach der Transplantation wiedererlangte Funktionsfähigkeit im Ellenbogengelenk zunächst isoliert
daraufhin, ob die Beweglichkeit im Ellenbogengelenk und die dort mögliche Kraftentfaltung für sich genommen ein Ausmaß erreichen,
das eine berücksichtigungsfähige MdE von wenigstens 10 vH erreichen würde oder nicht. Wenn eine solche nicht erreicht wird,
erscheint der verbliebene Funktionsverlust im Ellenbogengelenk nicht ansatzweise entschädigungspflichtig mit dem Umkehrschluss,
dass das Ausmaß der vorhandenen Funktionen im Ellenbogengelenk so gut ist, dass die inkomplette Lähmung sich auf den Schulterbereich
beschränkt und nur diese für die MdE-Bewertung (dann nach der oben angestellten vergleichenden Betrachtung 40 vH) Bedeutung
erlangt.
Im rechten Ellenbogengelenk des Klägers bestehen nach den Feststellungen der Sachverständigen Dr. E. und Dr. H. (die als Gutachten
im Sinne von §
118 SGG, §
402 ZPO verwertet werden) und den Feststellungen von Dr. K. und Dr. G. (die im Wege des Urkundsbeweises verwertet werden §
415 ZPO) Einschränkungen in der Beugung, Drehung und Kraftentfaltung, die das Gericht - in Übereinstimmung mit Dr. H. - als umfangreicher
bewertet als die Bewegungseinschränkung 0-30-120 (Beugung und Streckung) bei freier Unterarmdrehung, die mit einer MdE von
10 bewertet wird (S/M/V AuB, Seite 568). Die Einschränkung des Klägers im Ellenbogengelenk ist insofern erheblich, als sie
isoliert betrachtet eine MdE von jedenfalls 10 vH rechtfertigen würde.
Der Unterschied zwischen den Bewertungen von Dr. W. und Dr. H. besteht somit darin, dass Dr. W. im Wesentlichen darauf abstellt,
dass die Hand noch einsetzbar ist und auch mittels der Bizepsmuskulatur geführt werden kann und nicht - zB - amputiert wurde.
Dieser Vergleich ist jedoch nicht überzeugend, da die Einsetzbarkeit der Hand - wie oben ausgeführt - für die Bewertung einer
Armplexusläsion im oberen Bereich nach der Logik der Tabelle im S/M/V AuB Seite 252 kein entscheidendes Kriterium sein kann.
Dr. H. widerspricht dem von ihr angenommenen Umfang der möglichen Umpositionierung der Hand mittels einer Bewegung des Unterarms
nach eigener Untersuchung des Klägers und betrachtet die bestehenden Einschränkungen in den Gelenken, die betroffen sind.
Seine Beschreibung der Funktionseinschränkungen und die darauf fußende Bewertung sind überzeugend, weil er den Kläger selbst
untersucht hat.
In der Gesamtschau bestehen bei dem Kläger somit Einschränkungen in der Schulter und im Ellenbogengelenk zusammen, die sich
nicht gegenseitig überlappen, sondern sich in ihrer Funktionseinschränkung des rechten Armes additiv ergänzen. Unter Berücksichtigung
der Ausführungen auf Seite 131 S/M/V AuB zur Gesamt-MdE ist nach der freien Überzeugung des Gerichts (§
128 SGG) eine integrierende Betrachtung innerhalb des Bewertungsrahmens für die obere Armplexusläsion im S/M/V AuB Seite 252 anzustellen,
die eine additive integrierende Bewertung der Funktionsausfälle im Schultergelenk und im Bereich des Ellenbogens heranziehen.
Diese ergibt eine MdE von 50 vH entsprechend des oberen Rahmens der MdE-Tabelle S/M/V AuB Seite 252 für eine Armplexusläsion
im oberen Bereich.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und orientiert sich am Ausgang des Verfahrens.
3. Gründe für die Zulassung der Revision (§
160 Abs
2 SGG) liegen nicht vor. Das Revisionsgericht ist an den vom Tatsachengericht zu Grunde gelegten MdE-Tabellenwert gebunden, wenn
nicht festgestellt werden kann, dass dieser Tabellenwert offensichtlich falsch ist bzw offenkundig dem aktuellen Stand des
medizinischen Wissens oder des Erfahrungswissens anderer einschlägiger Wissenschaftsgebiete widerspricht (BSG, Urteil vom 20. Dezember 2016 - B 2 U 11/15 R - Rn 20).