Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde im sozialgerichtlichen Verfahren; Bezeichnung eines Verfahrensmangels; Barrierefreie
Zugänglichmachung von Schriftsätzen und Dokumenten bei blinden oder sehbehinderten Personen
Gründe:
I
Der 1952 geborene Kläger leidet ua an Multipler Sklerose mit Beteiligung der Augen und Ohren und Einschränkungen beim Gehen,
Epilepsie und rezidivierenden depressiven Störungen. Festgestellt sind ein Grad der Behinderung von 100 sowie die Merkzeichen
aG, B, H, RF und seit 1.9.2009 Bl (Blindheit). Er begehrt Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach der Pflegestufe
I ab September 2009. Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 25.5.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
4.8.2010 ab, da der Grundpflegebedarf des Klägers nach einem Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung
(MDK) vom 17.5.2010 nur 29 Minuten täglich betrage.
Der Kläger hat in dem dagegen gerichteten Klageverfahren ua darauf hingewiesen, dass ihm die gerichtlichen Unterlagen aufgrund
seiner Blindheit in für ihn nicht lesbarer Schrift übersandt worden seien und um Übersendung von Hörkassetten gebeten. Seine
eigenen Schriftsätze lasse er durch eine Laienhilfe fertigen. Die Klage ist - ebenfalls unter Bezugnahme auf das MDK-Gutachten
vom 17.5.2010 - erfolglos geblieben (Gerichtsbescheid vom 3.8.2012). Auf die Übersendung gerichtlicher Unterlagen in einer
anderen Form, zB mittels Hörkassetten, ist das SG nicht eingegangen. Auch im Berufungsverfahren hat der Kläger wiederholt darauf hingewiesen, wegen seiner Blindheit die gerichtlichen
Unterlagen nicht lesen zu können. Das LSG hat ein Gutachten der Pflegesachverständigen B vom 12.8.2013 eingeholt, aus dem
sich ein Hilfebedarf des Klägers im Bereich der Grundpflege von 41 Minuten täglich ergab; es hat unter Hinweis darauf die
Berufung zurückgewiesen und die Revision nicht zugelassen (Urteil vom 9.10.2013). Dem Anspruch des Klägers auf rechtliches
Gehör sei genüge getan, da der Senat Zweifel an der Blindheit des Klägers habe. Da ihm offensichtlich Hilfe zuteil werde,
sei es nicht erforderlich, ihm Dokumente in einer für Blinde wahrnehmbaren Form zugänglich zu machen.
Gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG vom 9.10.2013 richtet sich die Beschwerde des Klägers vom 11.11.2013
(eingegangen am 12.5.2014), die mit Verfahrensfehlern begründet wird (§
160 Abs
2 Nr
3 SGG). Der Kläger macht außerdem geltend, prozessunfähig zu sein und regt die Bestellung eines besonderen Vertreters nach §
72 Abs
1 SGG an. Hinsichtlich der Frist zur Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde ist dem Kläger mit Beschluss vom 11.3.2014 Wiedereinsetzung
in den vorigen Stand gewährt worden.
II
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision führt nach §
160a Abs
5 SGG zur Aufhebung des angefochtenen Berufungsurteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG. Nach dieser Bestimmung
kann das BSG das angefochtene Urteil aufheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen, wenn im
Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen
kann. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.
1. Die mögliche Prozessunfähigkeit des Klägers stellt kein Verfahrenshindernis für die vorliegende Beschwerde dar. Denn ein
Rechtsmittel, in welchem sich ein Beteiligter auf seine Prozessunfähigkeit beruft, ist zunächst ohne Rücksicht darauf zulässig,
ob die für die Prozessfähigkeit erforderlichen Voraussetzungen festgestellt werden; entsprechend ist auch die zur Einlegung
des Rechtsmittels erteilte Prozessvollmacht wirksam. Die Prozessfähigkeit ist dann grundsätzlich solange zu unterstellen,
bis darüber rechtskräftig entschieden ist (vgl BSGE 5, 176, 177; BGH NJW 1996, 1059 f; BGHZ 143, 122, 123). Sozialgerichtliche Verfahren sind schon grundsätzlich nicht wegen mangelnder Prozessfähigkeit des Klägers unzulässig;
vielmehr ist dem Prozessunfähigen nach §
72 Abs
1 SGG für das Verfahren ein besonderer Vertreter zu bestellen (so bereits BSGE 5, 176, 178; Ulmer in Hennig,
SGG, §
72 RdNr 2, Stand Mai 2013; Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 10. Aufl 2012, §
72 RdNr 2b).
Die Prozessfähigkeit des Klägers kann anhand der bisher vorliegenden Feststellungen weder für das vorliegende Beschwerdeverfahren
noch bezüglich des Klage- und Berufungsverfahrens abschließend beurteilt werden. Der in den Akten befindliche Arztbrief der
Ärztin für Neurologie und Psychiatrie T vom 6.2.2013 mit dem Hinweis, dass der Kläger nicht in der Lage sei, sich vor Ämtern
vertreten zu können, insbesondere bei Zunahme der Merkfähigkeits- und Konzentrationsminderung, sowie die von seiner Prozessbevollmächtigten
erstmals vorgebrachten Zweifel an der Prozessfähigkeit des Klägers reichen zur Beurteilung dieser Frage nicht aus.
Das führt aber weder zur Unzulässigkeit der Beschwerde noch dazu, dass dem Kläger im Falle seiner Prozessunfähigkeit für das
Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde ein besonderer Vertreter zu bestellen wäre. Denn im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde
war dem Anliegen, dass der (möglicherweise) Prozessunfähige im Verfahren durch einen Prozessfähigen handeln kann, jedenfalls
dadurch Rechnung getragen, dass der Kläger durch seine Prozessbevollmächtigte vertreten (BSGE 91, 146 = SozR 4-1500 § 72 Nr 1) und der Rechtsstreit wegen eines von ihm gerügten Verfahrensmangels ohnehin an das Berufungsgericht
zurückzuverweisen war.
2. Die Beschwerde rügt in einer den Maßstäben des §
160a Abs
2 S 3
SGG genügenden Weise und zu Recht den Verfahrensmangel (§
160 Abs
2 Nr
3 SGG), der in der Verletzung der Vorschrift des §
191a GVG iVm der Verordnung zur barrierefreien Zugänglichmachung von Dokumenten für blinde und sehbehinderte Personen in gerichtlichen
Verfahren (Zugänglichmachungsverordnung - ZMV) vom 26.2.2007 (BGBl I 215) liegt.
Gemäß §
191a Abs
1 GVG kann eine blinde oder sehbehinderte Person nach Maßgabe der Rechtsverordnung nach §
191a Abs
2 GVG verlangen, dass ihr die für sie bestimmten gerichtlichen Dokumente auch in einer für sie wahrnehmbaren Form zugänglich gemacht
werden, soweit dies zur Wahrnehmung ihrer Rechte im Verfahren erforderlich ist. Die auf der Grundlage des §
191a Abs
2 GVG erlassene ZMV bestimmt, unter welchen Voraussetzungen und in welcher Weise einer blinden oder sehbehinderten Person die für
sie bestimmten gerichtlichen Dokumente und die von den Parteien zu den Akten gereichten Dokumente zugänglich gemacht werden,
sowie ob und wie diese Person bei der Wahrung ihrer Rechte mitzuwirken hat. Der Anspruch auf Zugänglichmachung umfasst nach
§ 2 Abs 1 S 1 ZMV Dokumente, die einer berechtigten Person zuzustellen oder formlos bekanntzugeben sind. In § 3 ZMV ist festgelegt,
in welchen Formen die Dokumente der berechtigten Person zugänglich gemacht werden können. Nach § 4 Abs 1 ZMV besteht der Anspruch
auf Zugänglichmachung, soweit der berechtigten Person dadurch der Zugang zu den ihr zugestellten oder formlos mitgeteilten
Dokumenten erleichtert und sie in die Lage versetzt wird, eigene Rechte im Verfahren wahrzunehmen. Die Zugänglichmachung erfolgt
nach § 4 Abs 2 ZMV auf Verlangen der berechtigten Person. Die verpflichtete Stelle hat die berechtigte Person auf ihren Anspruch
hinzuweisen. Das Verlangen auf Zugänglichmachung kann in jedem Abschnitt des Verfahrens geltend gemacht werden. Es ist aktenkundig
zu machen und im weiteren Verfahren von Amts wegen zu berücksichtigen (§ 4 Abs 3 ZMV). Die berechtigte Person ist verpflichtet,
bei Wahrnehmung ihres Anspruchs auf Zugänglichmachung im Rahmen ihrer individuellen Fähigkeiten und ihrer technischen Möglichkeiten
mitzuwirken. Sie soll die verpflichtete Stelle unverzüglich über ihre Blindheit oder Sehbehinderung in Kenntnis setzen und
mitteilen, in welcher Form ihr die Dokumente zugänglich gemacht werden können (§ 5 ZMV). Nach § 6 S 1 ZMV hat die berechtigte
Person ein Wahlrecht zwischen den in § 3 ZMV genannten Formen der Zugänglichmachung. Die verpflichtete Stelle hat die Zugänglichmachung
in der von der berechtigten Person gewählten Form auszuführen.
Nach der amtlichen Begründung zum Entwurf der ZMV (BR-Drucks 915/06, S 10) zum Umfang des Anspruchs ist § 4 Abs 1 ZMV im Interesse
der behinderten Personen weit auszulegen und wird der Anspruch auf Zugänglichmachung insbesondere auch nicht durch eine rechtswirksame
Vertretung, sei es durch einen Prozessbevollmächtigten, einen Verteidiger, einen Beistand oder einen Betreuer, ausgeschlossen.
Der Anspruch auf Zugänglichmachung besteht nach § 4 Abs 1 ZMV bereits dann, wenn dadurch der berechtigten Person der Zugang
zu den Dokumenten erleichtert wird und sie damit wenigstens annähernd in die Lage versetzt wird, die ein nicht behinderter
Verfahrensbeteiligter inne hat. Der Zugang zu den Dokumenten aus dem gerichtlichen Verfahren wird dem Kläger erleichtert,
wenn er in einer Form vorgenommen wird, die es ihm wie einem nicht behinderten Verfahrensbeteiligten ermöglicht, sich den
Inhalt der Dokumente jederzeit und sooft er möchte zu vergegenwärtigen. Deshalb kann eine blinde oder sehbehinderte Person
nicht darauf verwiesen werden, sich die Dokumente von einer Hilfsperson vorlesen zu lassen. Im Rahmen der Mitwirkungspflichten
der berechtigten Person wird ausdrücklich nur auf ihre individuellen Fähigkeiten und ihre technischen Möglichkeiten, nicht
aber auf Unterstützung durch Hilfspersonen Bezug genommen. Die Vorschriften der ZMV bieten den berechtigten Personen vielmehr
ein Wahlrecht zwischen den in § 3 ZMV genannten Formen der Zugänglichmachung, und die verpflichtete Stelle hat die Zugänglichmachung
in der von der berechtigten Person gewählten Form auszuführen. Ein Beurteilungs- oder Ermessensspielraum besteht nicht.
Die Inanspruchnahme einer Laienhilfe ist nicht vergleichbar mit der Vertretung durch einen Rechtsanwalt. Für den Fall, dass
eine blinde oder sehbehinderte Person im Verfahren durch einen Rechtsanwalt vertreten wird und außerdem der Streitstoff so
übersichtlich ist, dass er durch den Rechtsanwalt gut vermittelt werden kann, besteht nach der Rechtsprechung des BGH (vgl
Beschluss vom 10.1.2013 - I ZB 70/12 - Juris = NJW 2013, 1011) kein Anspruch auf Zugänglichmachung der Dokumente des gerichtlichen Verfahrens in einer für den blinden oder sehbehinderten
Beteiligten wahrnehmbaren Form. Bei einer Laienhilfe kann nicht ohne Weiteres eingeschätzt werden, ob diese den Streitstoff
der blinden oder sehbehinderten Person in ausreichender Weise vermitteln kann und ob sie hinreichend für Nachfragen zur Verfügung
steht. Bei einem Streitstoff, dem - wie hier - mehrere Pflegegutachten zugrunde liegen, kann jedenfalls nicht davon ausgegangen
werden, dass dieser durch eine Laienhilfe noch hinreichend gut vermittelbar ist. Zudem kann eine durch einen Rechtsanwalt
vertretene Person darauf vertrauen, dass dieser ihre Rechte und Interessen im Verfahren ordnungsgemäß wahrnimmt. Bei einer
Laienhilfe ist ein solches Vertrauen regelmäßig nicht berechtigt.
Der Kläger hat auf seine Blindheit oder Sehbehinderung unverzüglich im gerichtlichen Verfahren hingewiesen und eine Zugänglichmachung
in geeigneter Weise verlangt. Ihm kann nicht entgegengehalten werden, dass er sein Wahlrecht zwischen den in § 3 ZMV genannten
Formen der Zugänglichmachung nicht ausgeübt oder bei der Ausführung nicht im Rahmen seiner individuellen Fähigkeiten und technischen
Möglichkeiten mitgewirkt habe, da er im gerichtlichen Verfahren nicht hinreichend über seinen Anspruch auf entsprechende Zugänglichmachung
informiert wurde.
Zweifel an der Blindheit des Klägers genügen nicht, ihm seinen Anspruch auf Zugänglichmachung zu verwehren. Denn bei Zweifeln,
ob der Kläger eine blinde oder sehbehinderte und damit eine nach § 1 Abs 1 ZMV berechtigte Person ist, hätte sich das Berufungsgericht
angesichts des zuerkannten Merkzeichens Bl zu weiterer Aufklärung veranlasst sehen müssen.
In der nicht ausreichenden Zugänglichmachung gerichtlicher Dokumente liegt ein Verfahrensmangel, auf dem die angefochtene
Entscheidung beruhen kann; denn es ist nicht ausgeschlossen, dass der Kläger bei ausreichender Zugänglichmachung der gerichtlichen
Dokumente besser in der Lage gewesen wäre, darauf zu reagieren und beispielsweise die Überzeugungskraft der Gutachten über
seine Pflegebedürftigkeit in Frage zu stellen.
3. Für das vorliegende Beschwerdeverfahren bedurfte es einer Zugänglichmachung der Dokumente des gerichtlichen Verfahrens
in einer für den Kläger wahrnehmbaren Form nicht, da er durch eine Rechtsanwältin vertreten wird. Der Senat folgt dem vom
BGH (vgl Beschluss vom 10.1.2013 - I ZB 70/12 - Juris = NJW 2013, 1011) aufgestellten Grundsatz, dass kein Anspruch auf Zugänglichmachung der Dokumente des gerichtlichen Verfahrens in einer für
den blinden oder sehbehinderten Beteiligten wahrnehmbaren Form besteht, soweit gewährleistet ist, dass der anwaltliche Vertreter
der berechtigten Person die in den Dokumenten enthaltenen Informationen so zu vermitteln vermag, dass eine zusätzliche Übermittlung
der Dokumente durch das Gericht in einer für die berechtigte Person wahrnehmbaren Form zur Wahrnehmung ihrer Rechte im Verfahren
nicht erforderlich ist (vgl Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses, BT-Drucks 14/9266, S 41; Beschluss des Bundesrates,
BR-Drucks 915/06, S 2; Kissel/Mayer,
GVG, 7. Aufl 2013, §
191a GVG RdNr 9; M Jacobs in Stein/Jonas,
ZPO, 22. Aufl, §
191a GVG RdNr 6; Zöller/Lückemann,
ZPO, 29. Aufl 2012, §
191a GVG RdNr 2). Der Streitstoff des Beschwerdeverfahrens ist übersichtlich und der Senat hat keine Zweifel, dass dem Kläger die
in den Dokumenten enthaltenen Informationen mit Hilfe der beigeordneten Rechtsanwältin hinreichend vermittelt werden können.
4. Auf das Vorliegen weiterer Verfahrensmängel kommt es wegen der Zurückverweisung nicht mehr an. Da der Rechtsstreit aufgrund
der Zurückverweisung in der Tatsacheninstanz weitergeführt wird, hat das LSG insbesondere die Prozessfähigkeit des Klägers
zu prüfen und über die angeregte Bestellung eines besonderen Vertreters nach §
72 Abs
1 SGG sowie darüber zu entscheiden, ob und inwieweit in der Sache weitere Ermittlungen durchzuführen sind und ob die bisherigen
Ausführungen des Klägers bereits als Antrag auf Prozesskostenhilfe zu verstehen waren.
5. Über die Frage der Kostenerstattung im Beschwerdeverfahren wird das LSG ebenfalls im Zuge des erneut durchzuführenden Berufungsverfahrens
zu entscheiden haben.