Opferentschädigung
Ärztlicher Heileingriff
Wohl des Patienten
Gesundheitliche Belange
Gründe:
I.
Die 1976 geborene Klägerin begehrt die Anerkennung von Schädigungsfolgen sowie die Gewährung von Versorgungsleistungen nach
dem
Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (
OEG). Nach der Geburt der Klägerin suchten die miteinander verheirateten Eltern der Klägerin auf ärztliches Anraten hin die Universitätsklinik
H auf, um dort weitere Diagnostik und Abklärung des Kerngeschlechts der Klägerin vornehmen zu lassen. Am 14. April 1977, am
11. Oktober 1977 und am 31. März 1982 wurden im Universitätsklinikum H an der Klägerin operative Eingriffe vorgenommen, deren
Ziel es war, bei der Klägerin ausschließlich weibliche Geschlechtsmerkmale herzustellen und vorhandene männliche Geschlechtsmerkmale
umzubilden bzw. zu entfernen.
Im Juni 2010 stellte die in B wohnhafte Klägerin beim Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin einen Antrag auf Anerkennung
einer Schädigung und Gewährung von Versorgungsleistungen nach dem
OEG. Dieser Antrag wurde vom Land Berlin an das Landratsamt Rhein-Neckar-Kreis - Versorgungsamt - weitergeleitet. Einen zeitgleich
gestellten Antrag auf Feststellung einer Schwerbehinderung beschied das Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin unter
dem 27. Januar 2011 dahingehend, dass bei der Klägerin ein Grad der Behinderung von 100 festgestellt wurde, wobei hierbei
von Anpassungsstörungen mit einem GdB von 70 und Typ 46 xy bei gemischter Gonadendysgenesis mit einem Einzel-GdB von 50 ausgegangen
wurde.
Mit Bescheid vom 20. Oktober 2010 lehnte das Landratsamt des Rhein-Neckar-Kreises - Versorgungsamt - den Antrag der Klägerin
auf Anerkennung einer Schädigung und Gewährung von Versorgungsleistungen nach dem
OEG ab und führte zur Begründung aus, die von der Klägerin geltend gemachten Gesundheitsstörungen seien zwar auf die geschlechtsangleichenden
Operationen und Hormonbehandlungen zurückzuführen, doch sei davon auszugehen, dass die die Klägerin seinerzeit behandelnden
Ärzte nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt hätten und sich daher Anhaltspunkte für einen vorsätzlichen Angriff mit feindseliger
Willensrichtung nicht ergäben. Des Weiteren seien die Behandlungen auch mit Zustimmung der erziehungsberechtigten Eltern der
Klägerin erfolgt, weshalb eine Rechtswidrigkeit der ärztlichen Eingriffe nicht gegeben sei. Den hiergegen gerichteten Widerspruch
begründete die Klägerin dahingehend, dass die als ursächlich für ihre gesundheitlichen Probleme angesehenen Operationen ohne
eine gesicherte Diagnose erfolgt seien, eine medizinische Indikation hierfür nicht vorgelegen habe und damit ein Heileingriff
nicht vorgenommen worden sei. Mangels hinreichender Aufklärung und Information sei eine rechtswirksame Einwilligung ihrer
Eltern nicht anzunehmen. Mit Widerspruchsbescheid vom 7. Dezember 2010 wies das Regierungspräsidium Stuttgart - Landesversorgungsamt
- den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück und vertiefte hierbei die Begründung des Ausgangsbescheides.
Mit der am 10. Januar 2011 erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiter verfolgt und hierzu im Wesentlichen vorgebracht,
die an ihr vorgenommenen geschlechtsverändernden Eingriffe in den Jahren 1977 und 1982 seien ohne hinreichend gesicherte Diagnose
erfolgt und hätten daher Straftatbestände erfüllt. Im Übrigen habe nicht nur mangels hinreichender Information eine wirksame
Einwilligung der Eltern gefehlt, denn ihr Vater sei zu keinem Zeitpunkt beraten worden oder habe in die Operationen eingewilligt.
Sie hat in erster Instanz beantragt, den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 20. Oktober 2010 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 7. Dezember 2010 zu verurteilen, ihr für die Zeit ab Antragstellung Versorgungsleistungen nach
dem
Opferentschädigungsgesetz nach einem GdS von 100 zu gewähren, hilfsweise den Beklagten zu verpflichten, festzustellen, dass bei ihr Gesundheitsschädigungen
vorliegen, welche ursächlich durch die schädigenden Ereignisse im Sinne von §
1 OEG hervorgerufen sind. Das Sozialgericht hat die noch vorhandenen Behandlungsunterlagen des Universitätsklinikums H beigezogen
und Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. W über die Beweisfragen, welche Diagnosen
nach den aktenkundigen Unterlagen bei der Klägerin nach den im Zeitraum 1976 bis 1982 geltenden wissenschaftlichen Standards
mit welcher Wahrscheinlichkeit getroffen werden konnten und ob die bei der Klägerin am 14. April 1977, 11. Oktober 1977 sowie
31. März 1982 im Universitätsklinikum H durchgeführten drei Operationen nach den im Zeitraum 1976 bis 1982 geltenden wissenschaftlichen
Standards medizinisch indiziert gewesen seien. In seinem Gutachten vom 15. September 2014 ist der Sachverständige zu der Einschätzung
gelangt, bei der Klägerin hätte im Jahr 1976 nach dem damaligen medizinischen Wissensstand mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit
die sehr seltene Diagnose "männlicher Pseudohermaphroditismus durch dysgenetische Hoden mit Chromosomenaberrationen mit zusätzlicher
insuffizienter Hemmung der Strukturen der Müllerschen Gänge Typ II" gestellt werden können. Eine operative Korrektur sei nach
damaliger wissenschaftlicher Lehrmeinung ohne Zweifel indiziert gewesen, wobei allerdings nur anerkannte Experten-Empfehlungen
und keine wissenschaftlichen Standards für die geschlechtsangleichenden Eingriffe existiert hätten. Bis 1977 hätte die Literaturmeinung
ausschließlich die operative geschlechtsangleichende Frühkorrektur empfohlen und dabei eine so genannte Maskulinisierung nur
dann empfohlen, wenn ein funktionstüchtiger Penis rekonstruiert werden konnte. Ein solcher habe bei der Klägerin jedoch gar
nicht existiert. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das Gutachten Bezug genommen, dem die Klägerin umfangreich entgegengetreten
ist, wobei der Sachverständige mit ergänzenden Stellungnahmen vom 12. November 2014 und vom 28. Januar 2015 bei seiner Einschätzung
verblieben ist. Bei heutiger Betrachtung sei nach Auffassung des Sachverständigen die damalige Behandlung der Klägerin "sicher
nicht glücklich" gewesen, aber es hätte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit für die Verhältnisse der 1970er Jahre
kein Kunstfehler vorgelegen.
Mit Einverständnis der Beteiligten hat das Sozialgericht ohne mündliche Verhandlung über die Klage entschieden und mit Urteil
vom 11. November 2015 die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klägerin habe weder einen Anspruch auf die
Feststellung von Schädigungsfolgen infolge der am 14. April 1977, am 11. Oktober 1977 und am 31. März 1982 durchgeführten
Operationen und sonstigen dort stattgefundenen aktenkundigen ärztlichen Behandlungen, noch habe sie einen Anspruch auf Versorgung
nach den Vorschriften des
OEG in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Im Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme stehe es zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die durchgeführten streitgegenständlichen
Behandlungen nicht als vorsätzliche rechtswidrige tätliche Angriffe im Sinne von §
1 Abs.
1 Satz 1
OEG zu bewerten seien. Weder stellten sich die durchgeführten Operationen als vorsätzliche Körperverletzungen im Sinne von §§
223 und
224 StGB dar, noch liege in ihnen ein vorsätzlicher rechtswidriger tätlicher Angriff im Sinne einer in feindseliger Willensrichtung
unmittelbar auf die körperliche Unversehrtheit der Klägerin im Sinne des §
1 Abs.
1 Satz 1
OEG ausgeführten Handlung. Sämtliche Operationen dienten aus der Sicht eines verständigen Dritten ausschließlich dem Wohl der
Klägerin. Im Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme sei davon auszugehen, dass die operativen Eingriffe in der Absicht
durchgeführt worden seien, zu heilen und nicht etwa, um in feindlicher Willensrichtung auf die körperliche Unversehrtheit
der Klägerin einzuwirken. Es sei nicht ansatzweise ersichtlich, dass die die Klägerin behandelnden Ärzte und Operateure sich
primär von eigenen, etwa finanziellen Motiven hätten leiten lassen und die gesundheitlichen Belange der Klägerin dabei hintenangestellt
hätten. Daher könne dahin gestellt bleiben, ob bei den durchgeführten Operationen so genannte ärztliche Kunstfehler gemacht
worden seien. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das mit der Berufung angegriffene Urteil Bezug genommen.
Gegen das ihr am 18. Januar 2016 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 17. Februar 2016 Berufung eingelegt mit dem Antrag,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 11. November 2015 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom
20. Oktober 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Dezember 2010 zu verurteilen, für die Zeit ab Antragstellung
Versorgung nach dem
Opferentschädigungsgesetz (
OEG) nach einem GdS von 100 zu gewähren, hilfsweise den Beklagten zu verpflichten, festzustellen, dass bei der Klägerin Gesundheitsschädigungen
vorliegen, welche ursächlich durch die schädigenden Ereignisse im Sinne von §
1 OEG hervorgerufen worden sind.
Zur Begründung hat sie die Richtigkeit der bei ihr durch den Sachverständigen in erster Instanz bezeichneten und vom Sozialgericht
übernommene Diagnose in Zweifel gezogen und des Weiteren umfangreich dazu vorgetragen, dass ihres Erachtens die bei ihr durchgeführten
ärztlichen Eingriffe zum einen kunstfehlerhaft erfolgt seien und zum anderen nicht auf einer ausreichenden Aufklärung und
damit ausreichenden Einwilligung der erziehungsberechtigten Eltern beruht hätten.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Begründung nimmt er im Wesentlichen auf die Begründung der erstinstanzlichen Entscheidung Bezug.
II.
Der Senat konnte über die Berufung im Wege des Beschlusses gemäß §
153 Abs.
4 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) entscheiden, weil er einstimmig die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht für erforderlich und die Berufung nicht
für begründet hält und die Beteiligten zu einer derartigen Verfahrensweise angehört worden sind.
Die zulässige Berufung der Klägerin ist nicht begründet, denn das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Weder hat
die Klägerin den mit ihrem Hauptantrag geltend gemachten Anspruch auf Zuerkennung von Versorgungsleistungen nach §
1 Abs.
1 Satz 1
OEG in Verbindung mit dem BVG, noch ist die von ihr hilfsweise begehrte sogenannte Elementenfeststellung zulässiger Gegenstand einer Klage.
Der Senat nimmt gemäß §
153 Abs.
2 SGG auf die umfangreiche und in jeder Hinsicht überzeugende Begründung der erstinstanzlichen Entscheidung Bezug, der er folgt
und sieht von einer Darstellung der weiteren Entscheidungsgründe ab. Insbesondere hat die Klägerin auch mit ihrem Berufungsvorbringen
die Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung weder in maßgeblicher Weise in Zweifel ziehen können, noch dem Senat Anlass
zu weiterer medizinischer Aufklärung aufgezeigt. Die Berufungsbegründung sucht umfangreich darzulegen, dass die bei der Klägerin
in den Jahren 1977 und 1982 durchgeführten operativen Eingriffe nicht den Regeln ärztlicher Kunst entsprochen hätten und darüber
hinaus nicht von einer wirksamen Einwilligung ihrer erziehungsberechtigten Eltern gedeckt gewesen seien, wobei sich die Unwirksamkeit
der Einwilligung zum einen aus dem Fehlen der ausdrücklichen Einwilligung ihres Vaters, zum anderen aber auch aus der aus
ihrer Sicht mangelhaften Aufklärung ihrer Eltern vor Einholung der Einwilligung ergäbe. Beides kann hier indes dahinstehen,
denn selbst wenn ein vorsätzlicher Aufklärungs- und damit auch Einwilligungsmangel vorläge, der zu einer Beurteilung der ärztlichen
Eingriffe als Körperverletzungshandlung im Sinne von §
223 und §
224 des
Strafgesetzbuches führte, läge darin noch kein vorsätzlicher rechtswidriger tätlicher Angriff im Sinne von §
1 Abs.
1 Satz 1
OEG. Ein solcher setzt - wie das Sozialgericht zutreffend ausgeführt hat - über die Strafbarkeit als Vorsatztat hinaus voraus,
dass weitere Voraussetzungen gegeben sind, aufgrund derer die Grenze zu einer Gewalttat überschritten ist. Im Falle ärztlicher
Eingriffe ist dies nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. nur Urteil vom 29.04.2010, B 9 VG 1/09 R, Juris, Rn. 42) dann der Fall, wenn der ärztliche Eingriff aus der Sicht eines verständigen Dritten in keiner Weise dem Wohl
des Patienten dient, wobei dies insbesondere der Fall ist, wenn sich der Arzt bei seiner Vorgehensweise im Wesentlichen von
eigenen finanziellen Interessen leiten lässt und die gesundheitlichen Belange des Patienten hintenangestellt hat. Dafür, dass
die bei der Klägerin vorgenommenen Behandlungen im Universitätsklinikum H in den Jahren 1977 und 1982 ärztlicherseits aus
einer Motivation heraus vorgenommen worden sind, die nicht das Wohl der Klägerin im Mittelpunkt gehabt haben, hat die Klägerin
auch im Rahmen des Berufungsvorbringens nichts vorgetragen und ist auch im Übrigen nichts ersichtlich. Hierbei ist vor allem
ergänzend darauf hinzuweisen, dass bei einem Abstellen auf die Motivation des Arztes naturgemäß der Zeitpunkt des ärztlichen
Eingriffes in Betracht zu nehmen ist. Mithin haben sämtliche Erkenntnisse neuerer Zeit, aus denen sich eine abweichende Beurteilung
bei heutiger Sicht ergeben würde, naturgemäß außer Betracht zu bleiben.