Anspruch auf Arbeitslosengeld; Verfassungsmäßigkeit und Europarechtskonformität der fiktiven Bemessung nach Qualifikationsgruppen
im Anschluss an Erziehungszeiten
Gründe:
I
Die Klägerin begehrt noch höheres Arbeitslosengeld (Alg) für die Zeit vom 14.11.2005 bis zum 30.6.2006.
Die 1970 geborene Klägerin war nach ihrer Berufsausbildung zur Bürokauffrau seit 1.4.1990 als Bankangestellte in Vollzeit
beschäftigt. Nach der Geburt ihres ersten Kindes am 6.4.2002 bezog sie Mutterschafts- und Erziehungsgeld und nahm zunächst
drei Jahre Elternzeit in Anspruch, die sie dann aufgrund eines tarifvertraglichen Anspruchs noch bis 5.10.2005 verlängerte.
Mit Aufhebungsvereinbarung vom 6.10.2005 einigten sich die Klägerin und ihr Arbeitgeber über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses
mit Ablauf der Elternzeit am 5.10.2005 und begründeten das damit, dass der Klägerin keine Teilzeitbeschäftigung angeboten
werden könne. Zugleich vereinbarten sie die Zahlung einer einmaligen Abfindung.
Die Klägerin meldete sich am 10.10.2005 arbeitslos. Die Beklagte bewilligte ihr Alg ab 14.11.2005 in Höhe von 15,41 Euro täglich
(Bescheid vom 28.10.2005; Widerspruchsbescheid vom 14.11.2005). Dabei legte sie ein fiktives tägliches Bemessungsentgelt von
64,40 Euro, bemessen nach einem Vierhundertfünfzigstel der Bezugsgröße (Qualifikationsgruppe 3) - aufgrund der zeitlichen
Einschränkung der Verfügbarkeit der Klägerin auf 25 Wochenstunden auf 41,82 Euro vermindert - sowie die Lohnsteuerklasse V
und den erhöhten Leistungssatz von 67 vH zugrunde.
Die Zeit bis 13.11.2005, während der ein Anspruch auf Alg wegen Ruhens abgelehnt worden war, ist nicht mehr im Streit. Nach
der Geburt ihres zweiten Kindes am 22.7.2006 hob die Beklagte die Bewilligung von Alg ab 1.7.2006 durch bestandskräftigen
Bescheid vom 24.8.2006 wegen des Ruhens des Alg-Anspruchs aufgrund Anspruchs auf Mutterschaftsgeld ab 1.7.2006 auf.
Klage und Berufung gegen den Bescheid vom 28.10.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.11.2005 sind erfolglos
geblieben (Urteil des Sozialgerichts Koblenz [SG] vom 5.6.2007; Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz [LSG] vom
26.9.2008). Das LSG hat zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Der Klägerin stehe kein höheres Alg für die Zeit vom 14.11.2005
bis 30.6.2006 zu; die Beklagte sei von einem zutreffenden Bemessungsentgelt ausgegangen. Da es bei der Klägerin auch im auf
zwei Jahre erweiterten Bemessungsrahmen, der nicht darüber hinaus um die Dauer der Elternzeit erweitert werden könne, an abgerechneten
Entgeltabrechnungszeiträumen fehle, sei als Bemessungsentgelt nach §
132 Abs
1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (
SGB III) ein fiktives Arbeitsentgelt zugrunde zu legen. Hierbei habe die Beklagte die Klägerin zu Recht der Qualifikationsgruppe
3 zugeordnet und unter Berücksichtigung ihrer Teilzeitverfügbarkeit den Leistungssatz von 15,41 Euro täglich errechnet. Die
Anknüpfung an ein fiktives Arbeitsentgelt nach längerer Unterbrechung der Berufstätigkeit wegen Kindererziehung verstoße auch
nicht gegen höherrangiges Recht.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Klägerin die Bemessung des Alg nach einem fiktiven Arbeitsentgelt anstelle
des zuletzt tatsächlich erzielten Arbeitsentgelts. Sie vertritt die Auffassung, der Bemessungsrahmen müsse um die Dauer der
Elternzeit erweitert werden. Dies sei jedenfalls bei verfassungskonformer Auslegung des Bemessungsrechts geboten. Zur Begründung
bezieht sich die Klägerin im Wesentlichen auf das Urteil des SG Berlin vom 29.5.2006 - S 77 AL 961/06 - (erstinstanzliche Entscheidung in der Parallelsache B 11 AL 19/10 R).
Die Klägerin beantragt ihrem schriftsätzlichen Vorbringen zufolge,
das Urteil des Landessozialgerichts vom 26.9.2008 und das Urteil des Sozialgerichts vom 5.6.2007 abzuändern sowie die Beklagte
zu verurteilen, ihr unter Abänderung des Bescheids vom 28.10.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.11.2005
ab 14.11.2005 höheres Arbeitslosengeld unter Berücksichtigung des zuletzt erzielten Arbeitsentgelts zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
II
Die Revision der Klägerin ist unbegründet (§
170 Abs
1 Satz 1
Sozialgerichtsgesetz [SGG]). Das LSG hat zu Recht das klageabweisende Urteil des SG bestätigt. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf höheres Alg in der Zeit vom 14.11.2005 bis 30.6.2006.
1. Die Voraussetzungen des Anspruchs auf Alg dem Grunde nach (§
117 Abs
1 Nr
1, §
118 SGB III), ohne deren Vorliegen eine Klage auf höhere Leistungen keinen Erfolg haben kann, sind gegeben.
Den bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG (§
163 SGG) ist zu entnehmen, dass sich die Klägerin am 10.10.2005 arbeitslos gemeldet hat (§
118 Abs
1 Nr
2 und Abs
2, §
122 Abs
1 SGB III) und sie ab 10.10.2005 arbeitslos iS der §
118 Abs
1 Nr
1, §§
119 bis
121 SGB III gewesen ist (mit Ruhen des Anspruchs auf Alg bis 13.11.2005 wegen Erhalts einer Entlassungsentschädigung).
Die Klägerin hat auch, wovon das LSG zutreffend ausgegangen ist, die Anwartschaftszeit erfüllt (§
118 Abs
1 Nr
3 SGB III). Maßgebend sind insoweit die §§
123,
124 SGB III in der bis zum 31.12.2003 geltenden Fassung (aF), die nach der durch das Dritte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt
vom 23.12.2003 (BGBl I 2848) eingefügten Übergangsregelung in § 434j Abs 3
SGB III weiter anzuwenden ist, wenn der Anspruch auf Alg bis zum 31.1.2006 entstanden ist. Danach hat die Anwartschaftszeit - soweit
hier von Bedeutung - erfüllt, wer in der Rahmenfrist mindestens zwölf Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden
hat (§
123 Satz 1 Nr
1 SGB III aF). Nach §
124 Abs
1 SGB III aF beträgt die Rahmenfrist drei Jahre und beginnt mit dem Tag vor der Erfüllung aller sonstigen Voraussetzungen für den Anspruch
auf Alg.
Da sich die Klägerin am 10.10.2005 arbeitslos gemeldet hat und sie jedenfalls seit dem 10.10.2005 arbeitslos gewesen ist,
beginnt die reguläre Rahmenfrist von drei Jahren am 9.10.2005 und reicht bis zum 10.10.2002 zurück. Unabhängig davon, ob im
vorliegenden Fall von einer verlängerten Rahmenfrist auszugehen ist (vgl dazu Urteile des Senats vom 19.1.2005 - B 11a/11
AL 35/04 R - SozR 4-4300 § 147 Nr 3, RdNr 19 und vom 29.5.2008 - B 11a AL 23/07 R - BSGE 100, 295 = SozR 4-4300 § 132 Nr 1, RdNr 13 ff), hat die Klägerin innerhalb der regulären Rahmenfrist in der Zeit bis 5.4.2005, dem
Tag vor der Vollendung des dritten Lebensjahrs ihres ersten Kindes, während der Erziehung des Kindes in einem Versicherungsverhältnis
aus sonstigen Gründen gestanden (§
24 Abs
1 SGB III iVm §
26 Abs
2a SGB III, eingeführt mit Wirkung ab 1.1.2003 durch das Job-AQTIV-Gesetz vom 10.12.2001, BGBl I 3443). Die Klägerin hat somit durch
ab 1.1.2003 bis 5.4.2005 vorliegende Zeiten der Kindererziehung die Anwartschaftszeit gemäß §
123 Satz 1 Nr 1
SGB III aF erfüllt (vgl auch Urteil des Senats vom 29.5.2008, aaO, RdNr 16).
Ohne die Zeiten der Versicherungspflicht gemäß §
26 Abs
2a SGB III hätte die Klägerin die Anwartschaftszeit allerdings nicht erfüllt. Soweit vor dem 1.1.2003 liegende Zeiten der Kindererziehung
gemäß §
124 Abs
3 Satz 1 Nr
2 SGB III in der bis 31.12.2002 geltenden Fassung - anwendbar über § 434d Abs 2
SGB III - nicht in die Rahmenfrist einzurechnen sind, erstreckt sich die Rahmenfrist für die Klägerin, deren erstes Kind am 6.4.2002
geboren ist, allenfalls zurück bis April 2002 mit der Folge, dass die davor vorliegenden Beschäftigungszeiten unberücksichtigt
bleiben müssen. Nicht ausreichend für die zur Erfüllung der Anwartschaftszeit erforderlichen zwölf Monate der Versicherungspflicht
sind auch die Zeiten, in denen die Klägerin Mutterschaftsgeld bezogen hat, soweit diese gemäß §
427a SGB III iVm §
107 Satz 1 Nr 5 Buchst b des Arbeitsförderungsgesetzes in der bis 31.12.1997 geltenden Fassung einbezogen werden können (vgl
Senatsurteil vom 29.5.2008 - B 11a AL 23/07 R - BSGE 100, 295 = SozR 4-4300 § 132 Nr 1, RdNr 13, 16).
2. Zur Höhe des Anspruchs hat das LSG zu Recht entschieden, dass der Klägerin Alg ab 14.11.2005 nach einem Bemessungsentgelt
von 41,82 Euro zusteht.
a) Die Bemessung des der Klägerin zustehenden Alg richtet sich nach §
129 SGB III in der seit 1.8.2001 geltenden Fassung durch das Gesetz vom 16.2.2001 (BGBl I 266) sowie nach §§
130 bis
132 SGB III, die durch das Gesetz vom 23.12.2003 (BGBl I 2848) mit Wirkung ab 1.1.2005 neu gefasst worden sind. Eine Übergangsregelung
im Hinblick auf die Leistungsbemessung hat der Gesetzgeber nur getroffen, soweit es um die Neufestsetzung des Bemessungsentgelts
bei vor dem 1.1.2005 entstandenen Ansprüchen auf Alg geht (§ 434j Abs 5
SGB III). Für den am 14.11.2005 entstandenen Anspruch der Klägerin auf Alg spielt diese Übergangsregelung keine Rolle.
Nach §
129 Nr 1
SGB III beträgt das Alg für Arbeitslose, die - wie die Klägerin - mindestens ein Kind iS des § 32 Abs 1, 3 bis 5 des Einkommensteuergesetzes
haben, 67 % (erhöhter Leistungssatz) des pauschalierten Nettoentgelts (Leistungsentgelt), das sich aus dem Bruttoentgelt ergibt,
das der Arbeitslose im Bemessungszeitraum erzielt hat (Bemessungsentgelt). Nach §
130 Abs
1 Satz 1
SGB III in der seit dem 1.1.2005 geltenden Fassung umfasst der Bemessungszeitraum die beim Ausscheiden des Arbeitslosen aus dem jeweiligen
Beschäftigungsverhältnis abgerechneten Entgeltabrechnungszeiträume der versicherungspflichtigen Beschäftigungen im Bemessungsrahmen.
Nach näherer Maßgabe von §
130 Abs
2 SGB III bleiben bei der Ermittlung des Bemessungszeitraums bestimmte Zeiten außer Betracht.
Der Bemessungsrahmen umfasst ein Jahr; er endet mit dem letzten Tag des letzten Versicherungspflichtverhältnisses vor der
Entstehung des Anspruchs (§
130 Abs
1 Satz 2
SGB III). Der Bemessungsrahmen wird auf zwei Jahre erweitert, wenn (ua) der Bemessungszeitraum weniger als 150 Tage mit Anspruch
auf Arbeitsentgelt enthält (§
130 Abs
3 Nr
1 SGB III). Kann ein Bemessungszeitraum von mindestens 150 Tagen mit Anspruch auf Arbeitsentgelt innerhalb des auf zwei Jahre erweiterten
Bemessungsrahmens (ebenfalls) nicht festgestellt werden, ist als Bemessungsentgelt ein fiktives Arbeitsentgelt zugrunde zu
legen (§
132 Abs
1 SGB III in der seit 1.1.2005 geltenden Fassung).
b) In Anwendung der genannten Bestimmungen ist das LSG zu Recht von einem zugrunde zu legenden zweijährigen Bemessungsrahmen
ausgegangen. Das Ende des Bemessungsrahmens bildet der letzte Tag des letzten Versicherungspflichtverhältnisses vor der Entstehung
des Anspruchs (§
130 Abs
1 Satz 2 Halbs 2
SGB III). Für die Klägerin maßgebend ist deshalb der 5.10.2005, weil ihre versicherungspflichtigen Beschäftigung (§
25 Abs
1 Satz 1
SGB III) an diesem Tag durch Aufhebungsvereinbarung endete. Hieraus ergibt sich ein regulärer Bemessungsrahmen vom 6.10.2004 bis
5.10.2005 bzw ein gemäß §
130 Abs
3 Satz 1 Nr
1 SGB III erweiterter Bemessungsrahmen vom 6.10.2003 bis 5.10.2005. Auch unter Zugrundelegung des erweiterten Bemessungsrahmens liegen
die Entgeltabrechnungszeiträume der versicherungspflichtigen Beschäftigung der Klägerin vor der Geburt ihres ersten Kindes
am 6.4.2002 außerhalb des Bemessungsrahmens. Wie sich aus §
130 Abs
3, §
132 Abs
1 SGB III ergibt, sieht das Gesetz eine Erweiterung des Bemessungsrahmens über zwei Jahre hinaus nicht vor.
Eine Veränderung des Bemessungsrahmens kann nicht deswegen angenommen werden, weil nach §
130 Abs
2 Satz 1 Nr
3 SGB III bei der Ermittlung "des Bemessungszeitraums" Zeiten der Betreuung und Erziehung eines Kindes außer Betracht bleiben, wenn
wegen der Betreuung und Erziehung des Kindes das Arbeitsentgelt oder die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit gemindert
war. Diese Regelung soll - wie der Senat bereits entschieden hat (ua Urteil vom 29.5.2008 - B 11a AL 23/07 R - BSGE 100, 295 = SozR 4-4300 § 132 Nr 1, RdNr 23 ff) - nur davor schützen, dass in die Ermittlung des Bemessungsentgelts Entgeltabrechnungszeiträume
versicherungspflichtiger Beschäftigungen einfließen, die nach §
131 Abs
1 iVm §
130 Abs
1 SGB III eigentlich zu berücksichtigen wären, in denen aber das erzielte Arbeitsentgelt wegen der Kindererziehung atypisch niedrig
und daher nicht repräsentativ war (vgl BSG Urteil vom 16.12.2009 - B 7 AL 39/08 R - Juris RdNr 16; Behrend in Eicher/Schlegel,
SGB III, §
130 RdNr
60 f und 67 ff). Dagegen trifft §
130 Abs
2 Nr
3 SGB III keine Sonderregelung zu den Voraussetzungen, von denen es nach §
130 Abs
1 und Abs
3 iVm §
132 Abs
1 SGB III abhängt, inwieweit das vor dem Beginn der Kindererziehung erzielte Arbeitsentgelt als Bemessungsentgelt herangezogen werden
kann (vgl Urteil vom 29.5.2008, aaO, RdNr 23).
c) Da innerhalb des auf zwei Jahre erweiterten Bemessungsrahmens nicht mindestens 150 Kalendertage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt
festgestellt werden können, ist das LSG zu Recht davon ausgegangen, dass als Bemessungsentgelt ein fiktives Arbeitsentgelt
zugrunde zu legen ist (§
132 Abs
1 SGB III). Das von der Beklagten im Bescheid vom 28.10.2005 angesetzte Bemessungsentgelt von 41,82 Euro täglich ist zutreffend berechnet.
Die Klägerin war aufgrund ihrer beruflichen Ausbildung der Qualifikationsgruppe 3 zuzuordnen; der Betrag von 41,82 ergibt
sich aus der Bezugsgröße für 2005 von 28 980 Euro (vgl § 2 Abs 1 der Verordnung vom 29.11.2004, BGBl I 3098) geteilt durch
450 (§
132 Abs
2 Satz 2 Nr
3 SGB III); aufgrund der Teilzeitverfügbarkeit der Klägerin für 25 Stunden pro Woche vermindert sich der hieraus rechnerisch zu ermittelnde
Betrag von 64,40 Euro auf 41,82 Euro (64,40 Euro : 38,5 Stunden x 25 Stunden). Auch die weiteren Berechnungen der Beklagten
zur Höhe des täglichen Leistungssatzes von 15,41 Euro entsprechen den Bestimmungen des §
133 SGB III in der ab 1.1.2005 geltenden Fassung, wonach zur Ermittlung des Leistungsentgelts iS des §
129 SGB III eine Sozialversicherungspauschale in Höhe von 21 vH des Bemessungsentgelts, die Lohnsteuer nach der Lohnsteuerklasse, die
zu Beginn des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist, auf der Lohnsteuerkarte des Arbeitslosen eingetragen war, und der
Solidaritätszuschlag vom Bemessungsentgelt abzuziehen sind. Insoweit erhebt auch die Revision keine Einwände.
3. Es verstößt nicht gegen Verfassungsrecht, dass das Arbeitsentgelt, das die Klägerin länger als drei Jahre vor dem Eintritt
des Versicherungsfalls erzielt hat, nicht als Bemessungsentgelt zugrunde gelegt werden kann. Der Senat hält nach erneuter
Prüfung an seiner bisherigen Rechtsprechung fest (ua Urteil vom 29.5.2008 - B 11a AL 23/07 R - BSGE 100, 295 = SozR 4-4300 § 132 Nr 1; vgl auch Urteil des 7. Senats vom 21.7.2008 - B 7 AL 23/08 R - SozR 4-4300 § 132 Nr 3). Er weist ergänzend darauf hin, dass das BVerfG die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des
Senats vom 29.5.2008 (aaO) nicht zur Entscheidung angenommen (Beschluss vom 11.3.2010 - 1 BvR 2909/08) und darüber hinaus zur streitgegenständlichen Problematik Vorlagen des SG Dresden und des SG Aachen als unzulässig angesehen
hat (Beschlüsse vom 10.3.2010 - 1 BvL 11/07 - und vom 14.3.2011 - 1 BvL 13/07).
Der Senat sieht weiterhin keine Verpflichtung des Gesetzgebers aus Art
6 Abs
1 GG, bei Eltern bzw Müttern, die sich nach längeren freiwilligen Unterbrechungen ihres Berufslebens dem Arbeitsmarkt wieder zur
Verfügung stellen, den Lohnersatz durch das Alg nicht nach dem aktuell voraussichtlich erzielbaren Lohn zu bemessen, sondern
anhand des vor der Kindererziehung erzielten Arbeitsentgelts. Denn aus Art
6 Abs
1 GG folgt nicht, dass der Staat jegliche die Familie betreffende Belastung ausgleichen oder die Familie ohne Rücksicht auf sonstige
öffentliche Belange fördern muss (vgl auch Beschluss des BVerfG vom 10.3.2010 - 1 BvL 11/07 - RdNr
45 mwN). Aus Art
6 Abs
4 GG kann die Klägerin nach der Überzeugung des Senats ebenfalls nicht die Verfassungswidrigkeit des geltenden Alg-Bemessungsrechts
ableiten, weil aus Art
6 Abs
4 GG für Sachverhalte, die nicht allein Mütter betreffen, keine besonderen Rechte hergeleitet werden können (vgl auch Beschluss
des BVerfG vom 11.3.2010 - 1 BvR 2909/08 - Juris RdNr 6, mit Hinweisen auf BVerfGE 87, 1, 42 und BVerfGE 94, 241, 259 = SozR 3-2200 § 1255a Nr 5; vgl ferner Beschluss vom 6.6.2011 - 1 BvR 2712/09 - Juris RdNr 9, zur Berechnung der Höhe des Elterngelds). Der Gesetzgeber ist aufgrund von Art
6 Abs
4 GG auch nicht gehalten, jede mit der Mutterschaft zusammenhängende wirtschaftliche Belastung auszugleichen (vgl hierzu ua Beschluss
des BVerfG vom 14.3.2011 - 1 BvL 13/07 - Juris RdNr 64 mwN). Der Senat hält auch weiter daran fest, dass sich die Auffassung der Klägerin nicht auf Art
3 Abs
1 GG stützen lässt, weil es nicht als sachwidrig angesehen werden kann, bei allen Versicherten, die keinen ausreichend zeitnahen
Bemessungszeitraum von wenigstens 150 Tagen mit Anspruch auf Arbeitsentgelt vorzuweisen haben, die Indizwirkung des zuletzt
erzielten Lohns als nicht mehr gewährleistet anzusehen und deshalb den voraussichtlich aktuell erzielbaren Lohn als Bemessungsgrundlage
heranzuziehen.
Im vorliegenden Fall ist insbesondere zu beachten, dass - wie bereits unter 1. dargestellt - die Klägerin ohne die mit Wirkung
ab 1.1.2003 eingeführte Versicherungspflicht für Erziehende gemäß §
26 Abs
2a SGB III bereits dem Grunde nach mangels Erfüllung der Anwartschaftszeit keinen Anspruch auf Alg gehabt hätte und dass für den Personenkreis
der Erziehenden der Versicherungsschutz nicht mit eigenen finanziellen Aufwendungen verbunden ist (vgl §
347 Nr 9
SGB III in der bis 31.12.2007 geltenden Fassung; BT-Drucks 16/7263 S 5 ff). Es ist daher nicht ersichtlich, inwiefern es verfassungsrechtlich
geboten sein könnte, den von der Klägerin vor der Kindererziehung erzielten Lohn zur Bemessungsgrundlage zu machen. Denn unabhängig
davon, dass das Alg nicht in voller Äquivalenz zu geleisteten Beiträgen festgesetzt werden und dem Arbeitslosen nicht die
volle Aufrechterhaltung eines früheren Lebensstandards ermöglichen muss (vgl BVerfGE 90, 226 = SozR 3-4100 § 111 Nr 6, Juris RdNr 55 mwN), können Anwartschaften auf Sozialleistungen Eigentumsschutz nur genießen, wenn
sie (auch) auf nicht unerheblichen Eigenleistungen beruhen (vgl ua BVerfGE 53, 257, 290 f = SozR 7610 § 1587 Nr 1; BVerfG, Beschluss vom 7.11.2007 - 1 BvR 1840/07, NZS 2008, 530; vgl auch Urteil des Senats vom 21.3.2007 - B 11a AL 43/06 R, Juris RdNr 15). Es kann deshalb nicht als verfassungsrechtlich
bedenklich angesehen werden, wenn der Gesetzgeber für die Personen, die durch die Einführung der Versicherungspflicht gemäß
§
26 Abs
2a SGB III die Anwartschaftszeit für den Anspruch auf Alg auch ohne Erwerbstätigkeit und ohne eigene Beiträge erfüllen, eine fiktive
Bemessung wie für sonstige Versicherte vorsieht (vgl hierzu Urteil des Senats vom 29.5.2008 - B 11a AL 23/07 R - BSGE 100,
295 = SozR 4-4300 § 132 Nr 1, RdNr 46).
4. Auf der Grundlage der vorstehenden Erwägungen ist der Senat weiterhin davon überzeugt, dass die streitgegenständlichen
Bemessungsvorschriften und ihre Anwendung im vorliegenden Fall nicht gegen Europäisches Gemeinschaftsrecht verstoßen. Es besteht
deshalb kein Anlass, eine diesbezügliche Frage dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) nach Art 267 des Vertrags über die Arbeitsweise
der Europäischen Union (AEUV) vorzulegen.
Der Senat hält daran fest, dass das im vorliegenden Fall einschlägige deutsche Recht insbesondere nicht gegen die Richtlinie
79/7/EWG des Rats vom 19.12.1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen
im Bereich der sozialen Sicherheit (ABl L 6 S 24) und auch nicht gegen sonstige europäische Richtlinien zur Verwirklichung
der Gleichbehandlung (vgl Husmann NZA-Beilage 2008, 94 ff) verstößt. Dies gilt auch dann, wenn unterstellt wird, dass die Regelungen zur fiktiven Bemessung des Alg, die wegen ihrer
Geltung für alle Versicherten jedenfalls keine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts beinhalten, in der Praxis
vorwiegend bei Frauen zur Anwendung kommen. Denn nach der Rechtsprechung des EuGH ist der Anschein einer Diskriminierung widerlegt,
wenn die in Rede stehenden Regelungen durch Faktoren sachlich gerechtfertigt sind, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund
des Geschlechts zu tun haben, und wenn die gewählten Mittel einem legitimen Ziel der Sozialpolitik des betreffenden Mitgliedstaats
dienen und zur Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich sind (vgl ua EuGHE I 1995, 4741 = SozR 3-6083 Art 4 Nr 12 mwN; EuGHE I 1995, 4625 = SozR 3-6083 Art 4 Nr 11; EuGHE I 1996, 179 = SozR 3-6083 Art 4 Nr 13; EuGH NJW 2008, 499, 501 mwN). Von einer solchen sachlichen Rechtfertigung bzw der Geeignetheit und Erforderlichkeit der gewählten Mittel im
Sinne der Rechtsprechung des EuGH ist auszugehen. Dies gilt umso mehr, als die Klägerin unter den gegebenen Umständen einen
Anspruch auf Alg dem Grunde nach nur durch die sie begünstigende Einführung einer Versicherungspflicht für Erziehende erworben
hat; dann kann es nicht als sachwidrig angesehen werden, sie bei der Bemessung unter Heranziehung eines fiktiven Arbeitsentgelts
genau so zu behandeln wie andere Versicherte ohne hinreichend zeitnah erzieltes Arbeitsentgelt.
5. Der Senat hält schließlich ebenfalls an seiner Rechtsprechung fest, wonach auch die nähere Ausgestaltung der fiktiven Bemessung
durch §
132 Abs
2 SGB III nicht gegen höherrangiges Recht verstößt. Insoweit wird auf die Ausführungen im Urteil vom 29.5.2008 (B 11a AL 23/07 R -
BSGE 100, 295 = SozR 4-4300 § 132 Nr 1, RdNr 49 ff), Bezug genommen. Die von der Revision als unbillig empfundene Abkehr von der individuellen
Ermittlung des tariflich erzielbaren Arbeitsentgelts begegnet weder als solche durchgreifenden Bedenken noch führt sie im
Fall der Klägerin - auch unter Berücksichtigung der Differenz zwischen dem zuletzt bezogenen Arbeitsentgelt und dem fiktiven
Bemessungsentgelt - zu einem sachlich unvertretbaren Ergebnis.
6. Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.