Anspruch auf Blindengeld nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz; Erfordernis einer spezifischen Störung des Sehvermögens; Beurteilung der Wahrnehmungsmodalitäten; Abstellen auf das entsprechende
Geschehen auf der Verhaltensebene; Eignung der Griffith Entwicklungsskalen als objektivierbares Prüfverfahren
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist der Anspruch des Klägers auf Blindengeld nach dem Bayer. Blindengeldgesetz (BayBlindG) streitig.
Der Kläger ist 2005 geboren. Die Mutter des Klägers stellte beim Beklagten am 27.10.2006 Antrag auf Blindengeld. Der Beklagte
holte daraufhin einen Befundbericht der behandelnden Augenärzte ein, in dem ausgeführt wurde, dass es sich an beiden Augen
des Klägers um eine vollständige Erblindung infolge einer fortgeschrittenen Opticus-atrophie und eine generelle Schädigung
höher gelegener Sehzentren, die in Zusammenhang mit einer schweren allgemeinen cerebralen Schädigung stünden, handle. Zudem
wertete der Beklagte den radiologischen Bericht bezüglich einer am 28.07.2005 angefertigten Magnetresonanztomographie (MRT)
aus, der ausgedehnte überwiegend subcorticale Substanzdefekte bihemisphäreriell im Sinne einer multizystischen Enzephalomalazie
beschrieb. Der im Auftrag des Beklagten tätige Neurologe und Psychiater Dr. B. stellte daraufhin fest, dass eine isolierte
oder eindeutig bevorzugte Schädigung einzelner Rindenareale, wie z.B. zentraler Sehstrukturen, nicht festzustellen sei. Auf
cerebrale Blindheit könne aus dem MRT-Befund nicht geschlossen werden.
Daraufhin lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 31.07.2007 den Blindengeldantrag ab. Unter Verweis auf die Rechtsprechung des
BSG zur cerebralen Blindheit und auf die getroffenen o.g. Feststellungen lasse sich Blindheit im Sinne des BayBlindG nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachweisen. Zusammenfassend könne bei schwerster Hirnschädigung des Klägers nicht
davon ausgegangen werden, dass das Sehvermögen wesentlich stärker beeinträchtigt sei als die übrigen Sinnesmodalitäten.
Gegen den Ablehnungsbescheid erhob der Kläger am 29.08.2007 Widerspruch. Begründet wurde dieser damit, dass die Erblindung
des Klägers auf eine Schädigung der Augen selbst zurückzuführen sei. In einer versorgungsärztlichen Stellungnahme wies die
zuständige Ärztin des Beklagten darauf hin, dass die vorgelegten Befundberichte eine Schädigung der Augen nicht bestätigen
würden. Ergänzend wies sie auf ein orthoptisches Beobachtungsprotokoll vom April 2006 hin, wonach der Kläger im abgedunkelten
Raum kurze Fixation und ansatzweise Folgebewegungen aufgenommen habe. Auch diese Beobachtung belege, dass der Kläger nicht
vollständig blind sei. Mit Widerspruchsbescheid vom 04.12.2007 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Das
Vorliegen von Blindheit sei nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen.
Am 04.01.2008 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben. Diese ist damit begründet worden, dass die beim Kläger vorliegende Störung des Sehens bereits auf der Ebene des
Erkennens liege, nicht erst auf der Ebene des Benennens. Die Schwere der Sehstörung sei so gravierend, dass sie einer Beeinträchtigung
der Sehschärfe auf 1/50 oder weniger gleichzuachten sei.
Die am 19.03.2009 stattgefundene (erste) mündliche Verhandlung ist zur weiteren Sachverhaltsaufklärung vertagt worden. In
der Folge hat die Klägerseite zahlreiche medizinische Unterlagen eingereicht. In einem Entwicklungsbericht der Blindeninstitutsstiftung
Würzburg vom März 2009 ist u.a. hervorgehoben worden, dass der Kläger sehr spezielle Bedingungen und Angebote brauche, um
seine basalen visuellen Fähigkeiten überhaupt einsetzen zu können. Im Attest der Kinderärztin Dr. L. (Univ. Klinikum Erlangen)
vom 10.06.2009 ist ausgeführt worden, dass klinisch und aufgrund vorliegender Diagnosen von einer extremen Seheinschränkung
bzw. Blindheit des Klägers auszugehen sei.
Zu den vorgelegten Befundunterlagen hat sich der Beklagte dahingehend geäußert, dass sich der Kläger im vorgegebenen Rahmen
weiter entwickelt habe, wobei die Aussage der Mutter, wonach die gute Entwicklung nicht das Sehvermögen betreffe, nach den
Untersuchungsbefunden nicht bestätigt werden könne. Aus den dargestellten Beobachtungen etc. sei ersichtlich, dass der Kläger
in allen Bereichen Entwicklungsfortschritte gemacht habe - und zwar auch im visuellen Bereich. Die beschriebenen Reaktionen
auf akustische Reize würden nicht belegen, dass das Hören deutlich besser ausgeprägt sei als das Sehen; eine sinngebende Kommunikation
sei offensichtlich auch über die Sprache nicht möglich. Die Hinwendungsreaktion zu akustischen Reizen dürfe, so die zuständige
Ärztin des Beklagten, in etwa der Aufmerksamkeitsreaktion auf optische Reize entsprechen. Faktische Blindheit im Sinne der
BSG-Rechtsprechung sei somit nicht belegt. Nach der zehnten Sitzung der beim Beklagten eingerichteten Kommission zur Beratung
schwieriger Begutachtungsfälle nach dem BayBlindG am 28.06.2006 könne eine spezifische Störung des Sehvermögens nur dann bejaht werden, wenn bei ausreichender Kognition (d.h.
bei ausreichend vorhandener Aufmerksamkeit, Konzentration und Gedächtnisleistung) die Wahrnehmung in einer anderen Sinnesmodalität
als der visuellen nachweislich besser sei mit der Möglichkeit einer reproduzierbaren Kontaktaufnahme.
Sodann hat das SG ein Sachverständigengutachten eingeholt. In seinem (nur vierseitigen) Gutachten vom 15.12.2009 hat der Facharzt für Kinder-
und Jugendmedizin Dr. H., Sozialpädiatrisches Zentrum des Frühdiagnosezentrums B-Stadt, festgestellt, dass der bei der Befunderhebung
vier Jahre und sieben Monate alte Kläger keinerlei Fixieren gezeigt habe; die Augenbewegungen seien unkoordiniert gewesen.
Im Rahmen der Beurteilung hat Dr. H. festgestellt, dass der Kläger elementare visuelle Reaktionen (z.B. Fixieren, Blickfolgebewegungen),
die von gesunden Säuglingen im Alter von sechs bis acht Wochen mühelos bewältigt würden, allenfalls in Ansätzen zeige. Seine
motorischen Reaktionen seien durch die Bewegungsstörung (spastische Tetraparese) stark eingeschränkt. Im Bereich der akustischen
Wahrnehmung und der Wahrnehmung von Hautreizen einschließlich deren Verarbeitung sowie der Stimm- und Lautproduktion zeige
der Kläger Verhaltensweisen, die einem vier bis sechs Monate alten Säugling entsprächen. Insofern gehe er, Dr. H., von einer
spezifischen Sehstörung ("Störung des Erkennens") aus.
Aus versorgungsärztlicher Sicht sei, so die Stellungnahme des Beklagten hierzu, die gegebene Begründung nicht ausreichend,
um faktische Blindheit nachzuweisen. Insbesondere sei nicht geprüft worden, ob eine sinngebende Kommunikation über das Hören
möglich sei. Im Fall des Klägers seien die Fähigkeiten der übrigen Sinneswahrnehmungen ebenfalls erheblich herabgesetzt, so
dass trotz der zweifellos bestehenden Diskrepanzen der Leistungsunterschied nicht so ausgeprägt sei, dass von einer faktischen
Blindheit ausgegangen werden könne. Beachtlich sei ein Leistungsunterschied dann, wenn über andere Sinneswahrnehmungen eine
Kommunikation möglich wäre. Dafür gebe es hier jedoch keinen Beleg.
Im Auftrag des Gerichts hat der Sachverständige Dr. H. sodann am 22.03.2010 ergänzend Stellung genommen. Er hat dargelegt,
dass eine Diskrepanz zwischen visuellen und nichtvisuellen Leistungen hinsichtlich der Entwicklung von zwei bis vier Monaten
signifikant sei, da die frühkindliche Entwicklung sehr rasch verlaufe. Ob dieser Leistungsunterschied beachtlich sei, müsse
auch aus der Perspektive des Kindes beurteilt werden. Weiter hat er hervorgehoben, dass "Kommunikation" nicht unbedingt das
Sprechen oder Verstehen von Sprache voraussetze, sondern auch in einem nonverbalen oder - bei Kleinkindern - auch in einem
vorsprachlichen Bereich ablaufen könne.
Zu der ergänzenden Stellungnahme hat sich im Auftrag des Beklagten am 17.06.2010 die Diplompsychologin R.-T. geäußert. Diese
hat sowohl das methodische Vorgehen als auch die Bewertung der angenommenen Diskrepanz zwischen visuellen und nichtvisuellen
Leistungen durch Dr. H. kritisiert. So habe der Sachverständige hinsichtlich der nichtvisuellen Wahrnehmung lediglich Daten
der Frühförderungsberichte sowie anamnestische Angaben verwendet, jedoch nicht selbst Erhebungen durchgeführt. Frau R.-T.
hat auf gängige entwicklungsdiagnostische Verfahren wie die Griffith-Entwicklungsskalen (GES) verwiesen. Diese seien nötig,
um zu einem beweiskräftigen Ergebnis zu kommen. Die Einschätzung des Entwicklungsalters geschehe anhand von standardisierten
Entwicklungsskalen, die alle auf ähnlichen Konstruktionsprinzipien basierten. Die Diplompsychologin hat hervorgehoben, dass
sich z.B. die Variationsbreite für die Aufgabe im Bereich Hören und Sprechen "spricht lallend mit freundlichen Personen" auf
einen Zeitraum von drei bis acht Monaten erstrecke, dass also einige wenige Kinder schon mit drei Monaten, manche erst mit
acht Monaten dieses Verhalten zeigen würden. Es gebe also für ein und dasselbe Verhalten eine Entwicklungsspanne von fünf
Monaten, die als normal anzusehen sei. Der von Dr. H. genannte Entwicklungsunterschied von zwei bis vier Monaten erlaube somit
nicht den Rückschluss, dass die visuelle Wahrnehmung deutlich stärker betroffen sei als die Wahrnehmung in anderen Modalitäten.
Auch hierzu hat Dr. H. im Auftrag des SG Stellung genommen. In seiner Äußerung vom 06.07.2010 hat er hervorgehoben, dass das Verfahren an einem Bevölkerungsquerschnitt
erprobt und normiert worden sei. "Schwierig werde es" dann, wenn in einzelnen Funktionsbereichen bei Kindern mit Entwicklungsstörungen
starke Ausfälle vorlägen; bei mehrfach behinderten Kindern seien diese Verfahren nicht anwendbar. Näheres hat der Sachverständige
nicht dargelegt. Man müsse daher mit deskreptiven Methoden auskommen, was aus einer wissenschaftlichen Sicht heraus sicher
nicht befriedigend sei, zumal die Angaben zum Entwicklungsalter in der dieser Methode zugrundeliegenden Literatur nicht ganz
einheitlich seien. Etwas Besseres gebe es seines, Dr. H., Wissens nicht. Wenn die Diplompsychologin kritisiere, dass er in
seinem Gutachten zu wenig eigene Befunde beschrieben habe, müsse auf die Situation schwer und mehrfach behinderter Kinder
bei Begutachtungen verwiesen werden. Die Möglichkeiten für den Gutachter seien hier sehr begrenzt. Im Folgenden hat Dr. H.
noch eine "grundsätzliche Bemerkung zu der Begutachtungsproblematik" getroffen. Gerade bei schwerstbehinderten Kindern komme
man (vor allem im Hinblick auf die rechtliche Situation) in einen Beweisnotstand, da diese unter Umständen kein Blindengeld
erhalten könnten, obwohl wissenschaftlich unumstritten sei, dass gerade diese Kinder häufig Sehstörungen bis hin zur Blindheit
hätten. Dies sei "eine starke Herausforderung des Gerechtigkeitsempfindens". Vor diesem Hintergrund halte er es für sinnvoll,
den Ermessensspielraum zu Gunsten der Kläger zu nutzen, den das Urteil des BSG lasse, indem es nicht genau definiere, was "deutlich stärker betroffen" bedeute.
Auf die mündliche Verhandlung vom 15.12.2010 hat das SG den Beklagten unter Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsakte verurteilt, dem Kläger ab 01.10.2006 Blindengeld zu gewähren.
In den knappen Entscheidungsgründen des Urteils hat das Gericht ausgeführt, dass der Kläger nach gerichtlicher Überzeugung
faktisch blind sei. Es gehe davon aus, dass die visuelle Wahrnehmung deutlich stärker betroffen sei als die Wahrnehmung in
anderen Modalitäten. Dabei ist auf das Gutachten von Dr. H. verwiesen worden. Nach Überzeugung des Gerichts sei der besagte
Entwicklungsunterschied mit Blick auf die rasch verlaufende frühkindliche Entwicklung als wesentlich einzuschätzen.
Gegen das Urteil hat der Beklagte am 07.03.2011 Berufung eingelegt. Die visuelle Wahrnehmung des Klägers, so der Beklagte,
sei nicht deutlich stärker betroffen als die Wahrnehmung in anderen Modalitäten. Beim Kläger liege eine schwere Mehrfachbehinderung
vor, die sich z.B. im Bereich der Mobilität und Kommunikation auswirke. Des Weiteren habe Dr. H. im Rahmen seiner Untersuchung
aufgrund eigener Wahrnehmung gerade keinen Unterschied zwischen den Sinnesmodalitäten Sehen und Hören festgestellt bzw. keine
ausführliche Verhaltensbeobachtung dargelegt, sondern darauf verwiesen, dass man anamnestische Angaben und Fremdbefunde verwerten
müsse. Insoweit weise das Gutachten nach Auffassung des Beklagten einen schweren Mangel auf, da festgestellte Schwankungen
in der Wahrnehmung in nichtvisuellen Modalitäten allein zu Gunsten des Klägers gewertet worden seien, obwohl z.B. im Entwicklungsbericht
der Frühförderung vom März 2009 gerade auch im Bereich der visuellen Wahrnehmung gute Entwicklungsfortschritte beschrieben
worden seien. Die Schlussfolgerung von Dr. H., dass der Entwicklungszustand des Klägers hinsichtlich der Modalität Sehen dem
eines sechs bis acht Wochen alten Säuglings entspreche und hinsichtlich der anderen Modalitäten dem eines vier bis sechs Monate
alten Säuglings, sei zweifelhaft, da zum Zeitpunkt der Untersuchung eine fundierte Verhaltensbeobachtung fehle. Unabhängig
hiervon sehe der Beklagte bei dem inzwischen sechsjährigen Kläger bei einem unterstellten Entwicklungsunterschied von zwei
bis viereinhalb Monaten die Maßgabe des BSG bezüglich des Nachweises einer zur faktischen Blindheit führenden schweren Störung des Sehvermögens nicht als erfüllt an,
da letztlich weiterhin insgesamt der Entwicklungsstand eines Säuglings bestehe. Zur Berufungsbegründung hat der Beklagte auch
darauf hingewiesen, dass sich das SG nicht mit den Ausführungen der o.g. Diplompsychologin auseinander gesetzt habe, vor allem auch nicht mit der von ihr beschriebenen
Variationsbreite in der Entwicklung einzelner Sinneswahrnehmungen. Bedenklich erscheine vor allem aber auch die grundsätzliche
Bemerkung des vom SG beauftragten Sachverständigen zur Begutachtungsproblematik, die vermuten lasse, dass dem Sachverständigen der für das gesamte
Sozialrecht maßgebliche Grundsatz der objektiven Beweislast nicht bekannt sei.
Zudem hat der Beklagte Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung aus dem Urteil gemäß §
199 Abs.
2 Satz 1
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) gestellt. Mit Beschluss vom 31.03.2011 (Az.: L 15 BL 3/11 ER) hat das LSG die Vollstreckung aus dem angefochtenen Urteil ausgesetzt, soweit Blindengeldleistungen für Zeiträume vor
Dezember 2010 betroffen seien. Auf weiteren Antrag des Beklagten hat das LSG sodann mit Beschluss vom 12.09.2012 (Az.: L 15 BL 7/12 ER) die Vollstreckung aus dem Urteil bis zur Erledigung des Rechtsstreits in der Berufungsinstanz ausgesetzt.
Der Senat hat Beweis erhoben durch ein Sachverständigengutachten von Dr. D., Kinder- und Jugendarzt, Sozialpädiatrisches Zentrum
D-Stadt. In seinem Gutachten vom 29.07.2012, dem die neuropädiatrische Untersuchung vom 14.03.2012 zugrunde gelegen hat, hat
Dr. D. zunächst u.a. die Angaben der Mutter des Klägers festgehalten, dass Letzterer den Kopf in Richtung des Sprechenden
drehe, dass ihm Singen Freude bereite, dass er das Geräusch des Mixers mit Essen in Verbindung bringe, dass der Kläger auch
heute noch kein Gesicht fixiere und dass er in allen Entwicklungsbereichen Fortschritte gemacht habe; beim Sehen "komme jedoch
gar nichts". Die seit über fünf Jahren erhaltene Blindenfrühförderung sei, so die Mutter des Klägers, ohne Effekt geblieben.
Dr. D. hat eine umfangreiche Befunderhebung durchgeführt. Die kognitive Wahrnehmungsfähigkeit im Bereich aller Sinnesmodalitäten
(Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken) sei nach den Untersuchungsergebnissen und nach den anamnestischen Angaben stark
eingeschränkt.
Allgemein hat er dann Folgendes erläutert: Anders als bei der akustischen Wahrnehmung könne die visuelle Wahrnehmung bewusst
willkürlich abgeschaltet werden. Zu beachten sei auch, dass die Stelle des schärfsten Sehens bei Säuglingen im Abstand von
ca. 20 bis 30 cm liege. Für den Kläger bedeute dies, dass er Personen oder Gegenstände in einem größeren Abstand nicht wahrnehmen
könne. Das Gehör hingegen sei in der Lage, Geräusche aus dieser Entfernung sicher wahrzunehmen. Dieses zeige im Vergleich
zum Auge keine so gute Anpassung an plötzliche Ereignisse. Auf ein lautes Geräusch sei Erschrecken eine physiologische Reaktion,
die bereits beim hörenden Neugeborenen mit Hilfe des sog. Mororeflexes nachgewiesen werden könne; es komme zu einer gesteigerten
Aufmerksamkeit und einer motorischen Reaktion im Sinne einer Fluchtreaktion. Auf plötzliche optische Reize hingegen sei die
erste Reaktion ein Zukneifen der Augen oder Verengung der Pupillen; es erfolge hier eine schnelle Adaption durch das visuelle
System. Im Folgenden hat Dr. D. auf die Wertigkeit verschiedener Sinnesmodalitäten im Verlauf der frühkindlichen Entwicklung
aufmerksam gemacht. Bei schwergeschädigten Kindern sei es daher so, dass sie auf der Stufe der ersten Lebenswochen zurückbleiben
würden, in der den auf den Körper unmittelbar einwirkenden Reizen (Berührung, Kinästhestik, Geschmack) mehr Aufmerksamkeit
gelten würde als den in die Ferne gerichteten Sinnen, also den Seh- und Hörreizen.
Um eine objektive Darstellung der Entwicklung von Kindern mit schwerer Mehrfachbehinderung und motorischer sowie mentaler
Entwicklungsverzögerung zu erhalten, sei es in der Neuropädiatrie üblich, einen Entwicklungstest einzusetzen, der die Fähigkeiten
des Kindes erfassen und abbilden könne (GES). Dabei handle es sich nicht um technische Messungen, sondern es würden die anamnestischen
Angaben und die Beobachtung bei der Untersuchung einem Entwicklungsstand zugeordnet.
Beim Kläger seien die Sinnesreaktionen der Telerezeptoren von Hören und Sehen nach der entwicklungsneurologischen Untersuchung
nach Griffith als stark beeinträchtigt zu interpretieren. Gleiches gelte auch für den Bereich der Handmotorik. Auch wenn der
Kläger nach seinem Alter bereits ein Schulkind sei, müsse er im Bereich seiner individuellen Entwicklung als Säugling eingeschätzt
werden.
In Zusammenschau aller Befunde lasse sich beim Kläger keine spezifische Störung des Sehvermögens feststellen. Der Unterschied
zwischen dem Bereich der visuellen Situation und dem Bereich des Hörens könne nicht als in diesem Sinne relevant herabgesetzt
eingestuft werden, da es sich, wie oben beschrieben, um unterschiedliche Wahrnehmungsmodalitäten handle. Die auditive Wahrnehmung
sei immer aktiv, die visuelle Wahrnehmung müsse aktiv eingesetzt werden und löse üblicherweise auch eine motorische Antwort
aus. Diese wiederum sei beim Kläger aber aufgrund der eingeschränkten motorischen Fähigkeiten nicht möglich. Auch dadurch
könne der Eindruck entstehen, dass der Kläger vermeintlich besser höre als sehe.
Aufgrund der o.g. Ergebnisse der Untersuchung zeige sich, dass der Kläger den eigenen Körper durch passive Bewegungen und
Einflüsse durch seine Umwelt propriozeptiv wahrnehmen, sich jedoch nicht im Raum orientieren könne, da seine Haltungs- und
Aufrichtungsstellreflexe sowie seine visuelle Wahrnehmung im Fernbereich nicht adäquat funktionieren würden. Primitive Massenbewegungen
seien also möglich und bei guter passiver Stützfunktion könnten somit auch grobe zielmotorische Bewegungen erreicht werden.
Es sei davon auszugehen, dass der Kläger gleichwertig auf visuelle, akustische und sensible Reize reagiere. Die visuelle Wahrnehmung
sei nicht deutlich stärker herabgesetzt als die Wahrnehmung in den anderen Sinnesmodalitäten.
Mit Schreiben vom 22.10.2012 hat die Mutter des Klägers zu dem Gutachten von Dr. D. Stellung genommen. Sie hat darauf hingewiesen,
dass sich ihr Sohn trotz all den vielen Rückschlägen und Krankheiten entwickelt habe. Im Moment habe sie das Gefühl, dass
dieser alles perfekt auf Knopfdruck können müsse, um als blind anerkannt zu werden. Der Kläger sei zwar schwer krank, er bekomme
jedoch sehr viel mit und zeige es dann auf seine Art. Er liege nicht nur da wie ein null bis drei Monate altes Baby, sondern
wolle am Leben teilnehmen, strahle dabei eine große Lebensqualität aus und setze all das um, was ihn fördere. Als Mutter,
die sieben Jahre Tag und Nacht mit ihrem Kind verbracht habe, könne sie das aus menschlicher Sicht beurteilen. Innerhalb einer
Stunde könne man kein Kind begutachten und alles aus ihm herausholen. Zudem hat die Klägerin ein Attest von Dr. B. (C. Kinderklinik)
vom 15.10.2012 vorgelegt. Darin ist festgehalten worden, dass für eine adäquate Beurteilung des Zustandes des Klägers eine
Untersuchung zum jetzigen Zeitpunkt deutlich günstiger sei, da der Kläger zwischen November 2011 und Januar 2012 für längere
Zeit in stationärer Behandlung gewesen sei.
Am 26.07.2013 hat sodann Prof. Dr. E. auf Antrag des Klägers gemäß §
109 SGG ein neuropädiatrisches Gutachten erstellt. Er hat auf die Angaben der Mutter des Klägers hin u.a. festgestellt, dass der
Kläger ein eindeutiges Schmerz- und Kälteempfinden habe. Er könne essen sowie trinken und er schlucke weitgehend normal, was
mindestens auf eine sehr ausgeprägte sensomotorische Kontrolle der Mund- und Schlundmuskulatur schließen lasse. Der Kläger
könne eindeutig hören. Während der Untersuchung habe die Mutter den Jungen u.a. durch Kitzeln und liebevolle Ansprache zum
Lachen bringen können. Nach Angaben der Mutter möge der Kläger schlechten Geruch nicht. Das Kind sei zum Zeitpunkt seiner,
Prof. Dr. S., Untersuchung extrem mikrozephal. Es sei keinesfalls ein Kind im sog. vegetativen Status, er habe kein apallisches
Syndrom. Das gesamte Ausmaß der afferenten Impulse sei beachtenswert, so dass der Kläger durchaus seine Umgebung so deutlich
und differenziert wahrnehme, dass er aus diesen Sinnesqualitäten durchaus positive und negative Empfindungen, teilweise differenziert,
unterscheide. Ganz anders bestellt sei es um die visuellen Reize. Der Kläger habe eine schwere, an Blindheit grenzende Sehstörung.
Der Sachverständige hat auch den morphologischen Status des Klägers hervorgehoben. Wenn entsprechend dem ophthalmologischen
Befund der Kläger erblindet sei, wenn Sehimpulse nicht mehr geleitet oder Seheindrücke am Ende der primären Sehbahn in der
occipitalen Hirnrinde gar nicht mehr generiert werden könnten, dann sei die Sehfunktion auf eine sehr spezifische und spezielle
Weise im Gegensatz zu den vielen anderen afferenten Sinneseindrücken weitgehend vollständig ausgefallen.
Wenn die Summe der sonstigen afferenten Zuströme mit ihren Sinneseindrücken ebenso vollständig gestört wie die Sehfunktion
wäre, dann müsste der Kläger, so Prof. Dr. E., mit seiner schweren geistigen Entwicklungsstörung, der Unfähigkeit zu sprechen
und der schweren Tetraparese ein voll ausgeprägtes apallisches Syndrom haben.
Die Möglichkeiten einer quantitativen Erfassung der Sehminderung seien beim Kläger bisher nicht ausreichend beachtet worden.
Gut in der Routinediagnostik etablierte neurophysiologische Untersuchungen mittels evozierter Potentiale einerseits und MRT-Untersuchungen
des Gehirns mit speziellen Untersuchungstechniken andererseits seien "mit gewissen Einschränkungen" geeignet, um einer solchen
Quantifizierung näher zu kommen. Auf diese Weise könne man auch bei schwerstbehinderten Menschen eine Hör- und Sehstörung
teilweise auch quantitativ erfassen. An dieser Stelle solle, so Prof. Dr. E., nicht verschwiegen werden, dass der quantitative
Vergleich von Sinneseindrücken aufgrund evozierter Potentiale in den verschiedenen sensorischen Bereichen problematisch bis
unmöglich werden könne. Inwieweit nämlich unterschiedlich schwer beeinträchtigte und formveränderte evozierte Potentiale in
ähnlicher Weise auch unterschiedlich ausgeprägte Sinnesqualitäten bedingen würden, sei je nach Schwere der abnormen neurophysiologischen
Befunde nur eingeschränkt abschätzbar. Auch sei die Ableitung evozierter Potentiale bei einem so schwer behinderten Kind wie
dem Kläger manchmal nur eingeschränkt möglich. Weiter halte er, Prof. Dr. E., den Aufwand solcher umfassender quantitativer
Untersuchungen der sensorischen Afferenzen nicht für gerechtfertigt. Auch der Aufwand einer MRT-Untersuchung sei nur am schlafenden,
d.h. am sedierten oder gar narkotisierten Kind möglich, sei also wegen der damit verbundenen Nebenwirkungen ärztlich ethisch
schwer oder nicht vertretbar. Schließlich hat der Sachverständige auch auf die Durchführung einer Positronen-Emissions-Tomographie
(PET) hingewiesen.
Zusammenfassend hat Prof. Dr. E. festgestellt, dass aufgrund der vorliegenden klinischen Befunde eine weitgehende Störung
der primären Sehbahn vorliege und dass diese Störung eher ausgedehnter sei als die Störung anderer afferenter Bahnen. Der
Kläger habe mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eine schwere, an Blindheit grenzende Sehstörung. Ob in diesem Fall Blindheit
im Sinne des Gesetzes vorliege, erscheine ihm, Prof. Dr. E., erstens nicht ausreichend untersucht und zweitens hochproblematisch
insofern, als ein Vergleich unterschiedlicher Sinnesqualitäten hinsichtlich ihres jeweiliges Schweregrades hochproblematisch
erscheine und häufig speziell bei sehr schwer behinderten Menschen "mit unseren derzeitigen Möglichkeiten jedenfalls im Sinne
einer evidenzbasierten Medizin nicht sicher zu entscheiden" sei. Ganz sicher habe der Kläger eine spezifische und spezielle
Störung seines Sehvermögens. Mit hoher Wahrscheinlichkeit sei die Sehfunktion auch stärker betroffen als die Summe aller anderen
Empfindungsqualitäten, da das Kind nicht völlig von seiner Umgebung abgekoppelt sei.
Die kognitive Wahrnehmungsfähigkeit sei vermutlich im Bereich aller Sinnesmodalitäten sehr eingeschränkt. Es erscheine ihm,
Prof. Dr. E. sicher, dass die visuelle Wahrnehmung deutlich stärker herabgesetzt sei als die Wahrnehmung in anderen Sinnesmodalitäten.
Durch die Anwendung spezieller Techniken sei eine weitergehende quantitative Analyse der Sehstörung wahrscheinlich möglich
und - abhängig von den Befunden - unter bestimmten Umständen auch ein quantitativer Vergleich der verschiedenen Sinnesqualitäten.
In der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 19.12.2013 hat der Beklagte erneut auf die Beratungen der Kommission für schwierige
Begutachtungsfälle nach dem BayBlindG hingewiesen. Prof. Dr. E. habe keine Bewertung nach standardisierten Bedingungen vorgenommen, sondern (beim Hören) ausschließlich
die anamnestischen Angaben der Eltern und die Interaktion der Mutter mit dem Kind dokumentiert. Es sei nicht vermerkt worden,
ob der Kläger auf Ansprache gezielt reagiert oder einfache Aufforderungen befolgen habe können. Die von Prof. Dr. E. genannten
speziellen Untersuchungstechniken wie z.B. die PET seien jedenfalls derzeit nicht geeignet. Weiterführende bildgebende Verfahren
zur Untersuchung des Gehirns seien aus versorgungsärztlicher Sicht daher weder erforderlich noch sinnvoll. Für die Frage der
faktischen Blindheit im Sinne des BSG-Urteils vom 20.07.2005 sei primär der klinische Befund maßgeblich.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 15. Dezember 2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat die Akten des Beklagten und des SG beigezogen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt dieser Akten und der Berufungsakte, die Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist zulässig (Art. 7 Abs. 3 BayBlindG i.V.m. §§
143,
151 SGG) und begründet.
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger blind im Sinne des BayBlindG ist und ihm deshalb ab dem Monat der Antragstellung Blindengeld zusteht. Dies hat das SG zu Unrecht bejaht. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Blindengeld. Der streitgegenständliche Bescheid des Beklagten vom 31.07.2007
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.12.2007 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
Gemäß Art. 1 Abs. 1 BayBlindG in der hier maßgeblichen Fassung des Gesetzes zur Änderung des BayBlindG v. 20.07.2011 (GVBl. Nr. 14/2011, S. 311) erhalten blinde Menschen, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt
in Bayern haben oder soweit die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004
zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl L 166 S. 1, ber. ABl L 200 S. 1, 2007 ABl L 204 S. 30) in der jeweils
geltenden Fassung dies vorsieht, zum Ausgleich der blindheitsbedingten Mehraufwendungen auf Antrag ein monatliches Blindengeld.
Dabei beinhaltet nach der Rechtsprechung des BSG die Formulierung "zum Ausgleich der blindheitsbedingten Mehraufwendungen" keine eigenständige Anspruchsvoraussetzung, sondern
umschreibt lediglich die allgemeine Zielsetzung der gesetzlichen Regelung (Urteil vom 26.10.2004, Az.: B 7 SF 2/03 R).
Blind ist, wem das Augenlicht vollständig fehlt (Art. 1 Abs. 2 Satz 1 BayBlindG). Als blind gelten gemäß Art. 1 Abs. 2 Satz 2 BayBlindG auch Personen,
1.deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt,
2.bei denen durch Nr. 1 nicht erfasste Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung
der Sehschärfe nach Nr. 1 gleichzuachten sind.
Vorübergehende Sehstörungen sind nicht zu berücksichtigen. Als vorübergehend gilt ein Zeitraum bis zu sechs Monaten.
Eine der Herabsetzung der Sehschärfe auf 1/50 (0,02) oder weniger gleichzusetzende Sehstörung im Sinn des Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG liegt, den Richtlinien der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) folgend, bei folgenden Fallgruppen vor (siehe
Teil A Nr. 6 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze - VG, Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung):
aa) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,033 (1/30) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfelds
in keiner Richtung mehr als 30° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
bb) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,05 (1/20) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfeldes
in keiner Richtung mehr als 15° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
cc) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,1 (1/10) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfelds
in keiner Richtung mehr als 7,5° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
dd) bei einer Einengung des Gesichtsfelds, auch bei normaler Sehschärfe, wenn die Grenze der Gesichtsfeldinsel in keiner Richtung
mehr als 5° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
ee) bei großen Skotomen im zentralen Gesichtsfeldbereich, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und im 50°-Gesichtsfeld
unterhalb des horizontalen Meridians mehr als die Hälfte ausgefallen ist,
ff) bei homonymen Hemianopsien, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und das erhaltene Gesichtsfeld in der
Horizontalen nicht mehr als 30° Durchmesser besitzt,
gg) bei bitemporalen oder binasalen Hemianopsien, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und kein Binokularsehen
besteht.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Blindengeld. Zwar ist der Senat überzeugt, dass beim Kläger die vorstehend genannten Voraussetzungen
des Art. 1 Abs. 2 BayBlindG erfüllt sind. Auch steht die Tatsache, dass cerebrale Schäden vorliegen, der Annahme von Blindheit nicht grundsätzlich entgegen.
Doch kann beim Kläger eine spezifische Störung des Sehvermögens im Hinblick auf andere Sinnesmodalitäten nicht festgestellt
werden.
1. Der Kläger ist - unabhängig von der Frage des Funktionierens der übrigen Sinne (s. hierzu Ziff. 3.) - blind. Diese Voraussetzung
muss auch im Falle (umfangreicher) cerebraler Schäden nachgewiesen sein (vgl. das Urteil des Senats vom 27.11.2013, Az.: L
15 BL 4/11).
Wie der Senat u.a. in den Entscheidungen vom 08.10.2013 (Az.: L 15 BL 2/09) und 27.11.2013 (Az.: L 15 BL 4/11) unterstrichen hat, sind nach den Grundsätzen im sozialgerichtlichen Verfahren die einen Anspruch begründenden Tatsachen
grundsätzlich im Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachzuweisen (vgl. BSG, Urteil vom 15.12.1999, Az.: B 9 VS 2/98 R). Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststehen.
Ausreichend, aber auch erforderlich ist indessen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses
des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000, Az.: B 9 VG 3/99 R), d.h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993, Az.: 9/9a RV 1/92). Dabei ist im konkreten Fall u.a. auch zu beachten, "dass sich die Gerichte mit demjenigen Gewissheitsgrad zu begnügen haben,
den die medizinische Wissenschaft im Einzelfall leisten kann" (Kater, Das ärztliche Gutachten im sozialgerichtlichen Verfahren,
2. Aufl., S. 51 mit Verweis auf Bender/Nack/Treuer), weil sich ein Warten auf neue und bessere (naturwissenschaftliche) Erkenntnisse
aus naheliegenden Gründen verbietet.
Aufgrund einer perinatalen Asphyxie - nach Angaben des Bevollmächtigten des Klägers spielen hier medizinische Behandlungsfehler
eine zentrale Rolle - ist beim Kläger eine Hirnschädigung durch Sauerstoffmangel bzw. Minderdurchblutung mit Neugeborenenkrämpfen,
Atemschwäche und Trinkschwäche aufgetreten. Im weiteren Verlauf hat sich ein Anfallsleiden und eine spastische Bewegungsstörung
entwickelt. Beim Kläger besteht eine multizystische Enzephalomalazie, ein Mikrocephalus und eine schwere mentale Retardierung
mit Intelligenzminderung. Die kognitive Wahrnehmungsfähigkeit im Bereich der Sinnesmodalitäten ist stark eingeschränkt. Dies
folgt aus dem Ergebnis der Beweisaufnahme, ergibt sich darüber hinaus bereits aus den zahlreichen vorliegenden Befundunterlagen
und ist zwischen den Beteiligten auch nicht strittig.
Unter Beachtung der vorstehend genannten Beweisanforderungen steht aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens zur Überzeugung
des Senats fest, dass der Kläger blind ist. Dabei stützt sich der Senat auf die Gesamtheit der vorliegenden einschlägigen
medizinisch-technischen Befunde, im Einzelnen auf die orthoptischen Beobachtungen, die nachgewiesene morphologische Situation
sowie die weiteren medizinischen, vor allem ophthalmologischen und neuropädiatrischen Untersuchungsergebnisse. Der Senat macht
sich diese sachverständigen Feststellungen zu eigen. Danach kann im Sinne der oben genannten Rechtsprechung gesagt werden,
dass kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr daran zweifelt, dass der Kläger lediglich basale visuelle
Fähigkeiten besitzt, die bereits unterhalb der Blindheitsschwelle liegen. Um diese basalen Fähigkeiten überhaupt einsetzen
zu können, braucht der Kläger zudem sehr spezielle Bedingungen. Der Einsatz seiner Sehfähigkeit im Alltag unter Tageslichtbedingungen
ist nicht möglich.
2. Nach der Rechtsprechung des BSG (Entscheidungen vom 31.01.1995, Az.: 1 RS 1/93, 26.10.2004, Az.: B 7 SF 2/03 R, und 20.07.2005, Az.: B 9a BL 1/05 R) stehen auch cerebrale Schäden, die - für sich allein oder im Zusammenwirken mit Beeinträchtigungen des Sehorgans - zu
einer Beeinträchtigung des Sehvermögens führen, der Annahme von Blindheit nicht grundsätzlich entgegen. Allerdings ist in
Abgrenzung vor allem zu Störungen aus dem Bereich der seelisch-geistigen Behinderung zu differenzieren, ob das Sehvermögen,
das heißt das Sehen- bzw. Erkennen-Können beeinträchtigt ist, oder ob - bei vorhandener Sehfunktion - (nur) eine zentrale
Verarbeitungsstörung vorliegt, bei der das Gesehene nicht richtig identifiziert bzw. mit früheren visuellen Erinnerungen verglichen
werden kann, die also nicht (schon) das Erkennen, sondern (erst) das Benennen betrifft. Ausfälle allein des Benennen-Könnens
erfüllen mithin die Voraussetzungen von Blindheit nicht.
Diese Rechtsprechung ist aus Sicht des Senats - nicht nur wegen der bereits durch das BSG in der Entscheidung vom 20.07.2005 (a.a.O.) hervorgehobenen Schwierigkeit der tatsächlichen Feststellungen ("Im Einzelfall
mag es sich allerdings als schwierig erweisen, eine Störung zu lokalisieren und einer dieser Kategorien zuzuordnen.") - problematisch.
Denn ihr scheint die auf Erkenntnissen der Psychologie basierende (vgl. d. Nachw. i. d. Gründen d. genannten Entscheidung)
Annahme zu Grunde zu liegen, dass der Wahrnehmungsvorgang einen in strikter zeitlicher Abfolge stattfindenden Prozess mit
mehreren voneinander klar abgrenzbaren Stufen darstellt. Dem ist jedoch nicht so. Wie dem Senat aufgrund zahlreicher anhängiger
Berufungsverfahren zur Thematik "cerebrale Blindheit" bekannt ist, entspricht eine solche vereinfachte (psychologische) Sichtweise
nicht der Realität. Die vom Senat in dem bei ihm anhängigen Berufungsverfahren Az. L 15 BL 4/10 beauftragte biologisch-psychologische Sachverständige hat nachvollziehbar dargelegt, dass eine - gedanklich mögliche - Aufteilung
des Wahrnehmungsvorgangs in eine perzeptive, eine semantische und eine lexikalische Phase, was eine genauere Abgrenzung von
Erkennen und Benennen ermöglichen würde, deswegen problematisch ist, weil eine stark parallelisierte, d.h. zeitgleiche Verarbeitung
stattfinden dürfte. Zudem dürften aus Sicht des Senats auch die einzelnen Stufen nicht in jedem Fall mit der notwendigen Trennschärfe
zu unterscheiden sein. Die o.g. Rechtsprechung des BSG hat denn auch keine klare Festlegung getroffen, ab welchem Punkt auf dem Weg des Sehens lediglich das Benennen betroffen
ist.
Der Senat kann seine Bedenken vorliegend jedoch zurückstellen, da aufgrund der beim Kläger bestehenden Gegebenheiten hinsichtlich
der Festlegung, ob das Erkennen betroffen ist, keine Entscheidung zu befürchten ist, die nicht sachgerecht wäre, und da Rechtsunsicherheit
insoweit nicht im Raum steht. Denn beim Kläger liegt schon mit Blick auf die morphologische Situation der einfacher zu beurteilende
Fall vor, dass der visuelle Informationsfluss bereits auf einer frühen Stufe behindert bzw. unterbrochen wird, so dass eine
bloße Benennensstörung aus Sicht des Senats nicht in Frage kommt.
3. Bei Vorliegen umfangreicher cerebraler Schäden ist nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 20.07.2005, a.a.O.) darüber hinaus eine weitere Differenzierung erforderlich, um von Blindheit im Sinne des Art.
1 Abs. 2 BayBlindG ausgehen zu können: Es muss sich im Vergleich zu anderen - möglicherweise ebenfalls eingeschränkten - Gehirnfunktionen eine
spezifische Störung des Sehvermögens feststellen lassen.
Diese vom BSG entwickelte zusätzliche Differenzierung beim Vorliegen umfangreicher cerebraler Schäden entspricht, wie der Senat bereits
früher festgestellt hat (Urteile vom 17.01.2006, Az.: L 15 BL 1/05, und vom 17.07.2012, Az.: L 15 BL 11/08), dem sich aus den Motiven des BayBlindG (Landtagsdrucksache 13/458 vom 16.02.1995, S. 5) ergebenden Willen des Landesgesetzgebers insoweit, als dieser Leistungen
nach dem BayBlindG aufgrund einer ausschließlich als Folge einer generellen cerebralen Behinderung mit allgemeiner Herabsetzung der kognitiven
Fähigkeiten bestehenden Unfähigkeit zur visuellen Wahrnehmung ausschließen wollte. Der Senat sieht im Übrigen bereits mit
Blick auf den Ausnahmecharakter des Blindengelds im System behinderungsbedingter Sozialleistungen keine Anhaltspunkte dafür,
dass das Erfordernis, die visuelle Wahrnehmung müsse für den Nachweis von Blindheit bei generalisierten cerebralen Schäden
deutlich stärker als andere Sinnesmodalitäten betroffen sein, zu einer sachwidrigen Benachteiligung mehrfach schwerst wahrnehmungsbehinderter
Menschen führen könnte (so bereits das Urteil des Senats vom 17.07.2012, a.a.O.; vgl. ferner Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen
v. 20.01.2011, Az.: L 12 SB 54/09).
Dem entsprechend gilt das Erfordernis einer spezifischen Störung des Sehvermögens nicht nur für die Fälle einer faktischen
Blindheit, sondern, wie der Senat ebenfalls bereits entschieden hat (Urteil vom 17.07.2012, a.a.O.) auch für die Anspruchsgrundlage
des Art. 1 Abs. 2 Satz 1 BayBlindG, jedenfalls soweit die Ursachen der Blindheit wie hier in einem engen Zusammenhang mit der cerebralen Schädigung stehen.
Ob bei Schädigungen bzw. Zerstörungen des Sehorgans ohne direkten Bezug zu den cerebralen Beeinträchtigungen des Großhirns
- etwa im Falle eines Anophthalmus - etwas Anderes zu gelten hat, braucht vorliegend nicht entschieden zu werden, liegt aus
Sicht des Senats jedoch nahe (vgl. a.a.O.).
a. Welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit eine spezifische Sehstörung angenommen werden kann, ist in der Rechtsprechung
bisher nicht geklärt. In der genannten Entscheidung des BSG (Urteil vom 20.07.2005, a.a.O.) hat dieses lediglich festgelegt, dass es zum Nachweis einer zur faktischen Blindheit führenden
schweren Störung des Sehvermögens insoweit genüge, dass die visuelle Wahrnehmung deutlich stärker betroffen sei als die Wahrnehmung
in anderen Modalitäten. Weiter ist der Entscheidung zu entnehmen, dass für die Annahme einer spezifischen Sehstörung eine
gleichmäßige und "allgemeine" Herabsetzung der Wahrnehmungs- und Verarbeitungsfähigkeiten des Betroffenen nicht ausreicht
und dass die auf anderen Feldern der Sinneswahrnehmung verbliebenen Fähigkeiten nicht ihrerseits soweit herabgesetzt sein
dürfen, dass der Leistungsunterschied zur fehlenden visuellen Modalität unbeachtlich wäre.
Damit ist in keiner Weise geklärt, welche grundsätzlichen Kriterien für die Beurteilung der Wahrnehmungsmodalitäten (s. im
Folgenden aa.), welches Verfahren zur Feststellung hierfür (s. bb.) und welche Diskrepanzen zur Annahme einer spezifischen
Sehstörung (s. cc.) erforderlich sind.
Der Senat trifft daher die folgenden Festlegungen:
aa. Bei der Beurteilung der Wahrnehmungsmodalitäten ist auf das entsprechende Geschehen beim Betroffenen auf der Verhaltensebene
abzustellen. Es kommt nicht auf durch technische Untersuchungen erkennbare Signale von Hirnaktivität wie etwa auf durch Reizapplikation
ausgelöste Reaktionen an. Aufgrund der überzeugenden Darlegungen der vom Senat in dem bei ihm anhängigen o.g. Berufungsverfahren
(Az.: L 15 BL 4/10) beauftragten neuropsychologischen/ neurologischen Sachverständigen steht es zur Gewissheit des Senats fest, dass zwar z.B.
das Vorhandensein eines neuronalen Korrelats unbedingte Voraussetzung für mentale Prozesse und Funktionen, wie sie auch die
visuelle Wahrnehmung darstellt, ist, dass jedoch aus dem Vorhandensein einer neuronalen Aktivität - wie sie z.B. mit einem
funktionellen MRT oder auch mit EEG-Verfahren gemessen werden kann - nicht auf das Vorhandensein der mentalen Funktion (wie der Wahrnehmungsfähigkeit) auf Verhaltens-
und Erlebnisebene geschlossen werden kann. Der Beitrag technischer (z.B. bildgebender) Verfahren zum Nachweis von mentalen
Zuständen (wie der Wahrnehmung) ist, wie die Sachverständigen dort überzeugend dargestellt haben - ferner ergibt sich dies
auch aus den Darlegungen des vorliegend gemäß §
109 SGG beauftragten Sachverständigen zur Messung evozierter Potentiale ("nur eingeschränkt abschätzbar") -, jedenfalls als deutlich
begrenzt anzusehen, wobei die Gründe hierfür im methodischen, im fachlichen und im erkenntnistheoretischen Bereich liegen.
Vor allem aber besteht eine Inkompatibilität der Untersuchungsebenen, da die Wahrnehmung nicht durch kortikale Aktivitätsänderung,
sondern durch die zur gehörigen Phänomene auf Verhaltensebene definiert ist.
Relevant bei der Beurteilung einer Wahrnehmungsmodalität sind die bewussten Funktionen des jeweiligen Sinnes. Die unbewussten
Funktionen, die überwiegend auf der Ebene des Hirnstammes oder Rückenmarks verschaltet sind und ein funktionierendes Großhirn
dabei nicht benötigen, lassen - wie dem Senat aufgrund zahlreicher anhängiger Berufungsverfahren zur Thematik "cerebrale Blindheit"
bekannt ist - hinsichtlich der einzelnen Sinne keine Angaben zum Ausmaß möglicher Beeinträchtigungen zu. Daher lassen sich
zum Beispiel mit sog. Startle-Reaktionen (im Sinne einer raschen, schützenden Reflexantwort der Muskulatur auf überraschende
Reize) keine Anhaltspunkte für das Funktionieren eines Sinns finden; insbesondere kann eine "visuelle" Schreckreflexreaktion
auch bei blinden Personen ausgelöst werden (vgl. hierzu die Entscheidungen des Senats vom 01.08.2006, Az.: L 15 BL 13/05, und vom 17.07.2012, Az.: L 15 BL 11/08). Startle-Reaktionen dürfen nicht als reizspezifische Antworten bzw. willkürliche motorische Reaktionen fehlgedeutet werden.
Wie ebenfalls aufgrund der Darlegungen der vom Senat in dem o.g. Berufungsverfahren (Az.: L 15 BL 4/10) beauftragten neuropsychologischen/neurologischen Sachverständigen zur Überzeugung des Senats feststeht, umfasst Wahrnehmung
nämlich alle Aktivitäten der Informationsaufnahme und Informationsverarbeitung, einschließlich der daran beteiligten kognitiven,
motorischen und emotionalen Komponenten. Wahrnehmen und somit auch das Sehen findet nicht unabhängig von den anderen kognitiven
Funktionssystemen (Aufmerksamkeit, Merkfähigkeit etc.) statt, sondern "im Konzert" mit diesen.
Diese (natur)wissenschaftlich-methodischen Erwägungen stehen schließlich in Einklang mit der rechtlichen Wertung, dass nämlich
mit Blick auf die Zielsetzung des BayBlindG, blindheitsbedingte Mehraufwendungen auszugleichen, nur die Verhaltens- und Erlebnisebene beim betroffenen blinden Menschen
relevant sein kann.
bb. Auch wenn bei der Beurteilung der Wahrnehmungsmodalitäten das entsprechende Geschehen beim Betroffenen auf der Verhaltensebene
maßgeblich ist, so bedarf es dennoch mehr als einer bloßen Verhaltensbeobachtung, wie sie z.B. von (nahen) Angehörigen im
täglichen Umgang mit den Betroffenen wahrgenommen wird. Erforderlich ist bereits aus Rechtssicherheitsgründen ein objektiviertes
Prüfverfahren.
Mit dem Sachverständigen Dr. D. und der vom Beklagten vorliegend beauftragten Diplompsychologin geht der Senat davon aus,
dass es nicht genügt, wie dies der Gutachter des erstinstanzlichen Verfahrens getan hat, lediglich vorliegende Behandlungs-
sowie anamnestische Daten zu verwenden und daraus - ohne ein entwicklungsdiagnostisches Verfahren anzuwenden - eigene Schlüsse
zu ziehen. Vielmehr ist erforderlich, dass ein Sachverständiger im Rahmen der Untersuchung (auch) selbst Daten erhebt und
diese bei der Gutachtenserstellung verwertet. Unabdingbar sind also die fachgerechte Durchführung wissenschaftlich anerkannter
neuropsychologischer Untersuchungsverfahren; neben Anamnese, Exploration und Verhaltensbeobachtung sind hier Untersuchungen
zu den relevanten psychischen Teilfunktionen gefordert. Darüber hinaus muss, wie dies durch die Diplompsychologin zu Recht
gefordert und durch Dr. D. umgesetzt worden ist, ein Gutachten präzise Angaben zu Testdurchführung und Interpretation enthalten,
so dass diese auch für einen fachkundigen Leser überprüfbar sind. Mit Blick auf den vorliegenden Gegenstand versteht es sich
weiter von selbst, dass alle relevanten Sinnesmodalitäten untersucht und im Gutachten im Einzelnen abgehandelt werden müssen.
Aufgrund der sachverständigen Äußerungen des Gutachters Dr. D. ist der Senat davon überzeugt, dass die GES im o.g. Sinn geeignet
sind, um die Sinneswahrnehmungen vergleichend bewerten zu können; auch die sachkundige Stellungnahme der Kommission zur Beratung
schwieriger Begutachtungsfälle hat ausdrücklich festgehalten, dass sich die GES in Fällen wie dem vorliegenden hierzu eignen.
Es steht zur Gewissheit des Senats fest, dass die GES als allgemein anerkannte Grundlage für die Prüfung der einzelnen Sinneswahrnehmungen
bzw. als Standard bei neuropädiatrischen Untersuchungen gelten und somit eine einheitliche und sachgerechte Beurteilungsgrundlage
darstellen. Denn die Bandbreite der funktionellen Entwicklung ist auch bei schwerst- und mehrfach behinderten Kindern vorhanden
und eine Orientierung an der bei gesunden Kindern regelhaft zu beobachtenden Entwicklung ist sachgerecht. Da vorliegend kein
besonders gelagerter Sachverhalt und im Hinblick auf die möglichen Sinneswahrnehmungen kein Grenzfall vorliegen, ist für den
Senat auch kein Ansatzpunkt dafür gegeben, weitere Beurteilungskriterien heranzuziehen.
Hingegen können die von Dr. H. geäußerten Bedenken nicht überzeugen, dass das Verfahren an einem gesunden Bevölkerungsquerschnitt
erprobt und normiert worden sei und es "dann schwierig" werde, wenn in einzelnen Funktionsbereichen starke Ausfälle vorlägen,
vor allem, dass bei mehrfach behinderten Kindern diese Verfahren nicht anwendbar seien. Denn Dr. H. hat seine Bedenken nicht
differenziert darlegen und im Übrigen auch keinerlei Alternativen aufzeigen können.
cc. Mit Dr. D. geht der Senat davon aus, dass jedenfalls ein unter Anwendung der GES festgestellter Entwicklungsunterschied
von zwei bis vier Monaten nicht signifikant ist, um eine spezifische Störung einzelner Sinnesmodalitäten annehmen zu können.
Auch insoweit ist dem Sachverständigen Dr. H. nicht zu folgen. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus der sachverständigen
Darstellung der o.g. Kommission - für den Senat sind im Übrigen keinerlei Anhaltspunkte für eine Parteilichkeit der Kommission
o.ä. ersichtlich - dass die Entwicklung der einzelnen Sinneswahrnehmungen eben nicht gleichmäßig und auch nicht parallel verläuft.
Zudem ist, wie Dr. D. nachvollziehbar herausgearbeitet hat, zu beachten, dass es sich bei den Sinnen um unterschiedliche Wahrnehmungsmodalitäten
handelt (vor allem zwischen Sehen einer- und Hören andererseits, s.o.). Hier ist auch aus diesem Grund - u.a. um die Auswirkungen
möglicher Fehlinterpretationen zu minimieren (s.o.) - ein größerer Entwicklungsabstand zu fordern.
b.) Im Falle des Klägers steht eine spezifische Sehstörung nicht mit der erforderlichen Gewissheit fest und kann auch nicht
nachgewiesen werden. Dies ergibt sich aus dem plausiblen und detaillierten Gutachten von Dr. D., das alle o.g. (a.) Kriterien
berücksichtigt und erfüllt. Vielmehr hat die Testung nach den GES zu dem Ergebnis geführt, dass die visuelle Wahrnehmung nicht
deutlich stärker herabgesetzt als die Wahrnehmung in den anderen Sinnesmodalitäten ist; das Entwicklungsalter bezüglich der
Sinnesmodalitäten ist mit Dr. D. (ca. ein bis vier Monate) als gleichwertig einzustufen. Alle Items der GES haben sich im
Maximum zwischen einem und vier Monaten bewegt. Sie sind somit nicht signifikant unterschiedlich. Weiter ist im Hinblick auf
das Alter des Klägers Dr. D. auch darin zu folgen, dass in einer Gesamtsicht die individuelle Entwicklung zu betrachten ist:
Auch wenn der Kläger bereits ein Schulkind ist, muss er im Bereich seiner individuellen Entwicklung insgesamt als Säugling
eingeschätzt werden; hierbei ergibt sich auch keine Abweichung im Hinblick auf einzelne besser vorhandene Sinneswahrnehmungen
auf einzelnen Gebieten. Die - insbesondere von Prof. Dr. E. festgestellten - Unterschiede sind im Hinblick auf den Gesamtzustand
des Klägers marginal.
Dass beim Kläger keine spezifische Sehstörung vorliegt, ergibt sich nach Auffassung des Senats weiter auch daraus, dass die
kognitive Wahrnehmungsfähigkeit, wovon auch der gemäß §
109 SGG beauftragte Sachverständige ausgeht, im Bereich aller Sinnesmodalitäten sehr eingeschränkt ist.
Ein anderes Ergebnis folgt auch nicht aus den Gutachten von Dr. H. und Prof. Dr. E ...
Insbesondere die zweite ergänzende Stellungnahme des vom Sozialgericht beauftragten Sachverständigen gibt Anlass für erhebliche
Bedenken an der Objektivität des Gutachters. Zudem genügt seine Begutachtung nicht den oben genannten Anforderungen (a.);
vor allem fehlt es an einem standardisierten Verfahren.
Auch das Gutachten von Prof. Dr. E. kann nicht nachweisen, dass der Kläger eine spezifische Sehstörung hätte. Dies ergibt
sich bereits aus den vagen Formulierungen von Prof. Dr. E., der sich letztlich nicht sicher ist. Vor allem sind auch insoweit
die oben genannten Kriterien (a.) nicht erfüllt. Letzteres gilt auch im Hinblick auf die Argumentation von Prof. Dr. E. mit
dem morphologischen Befund des Klägers.
Im Übrigen ist der Senat davon überzeugt, dass die Untersuchung von Dr. D. den tatsächlichen Dauerzustand des Klägers wiedergegeben
hat. Es besteht kein Hinweis darauf, dass aufgrund des Gesundheitszustands Mitte März 2012 die Untersuchungsergebnisse nicht
verwertbar bzw. "verfälscht" gewesen sein sollten. Insoweit findet sich kein Hinweis im Gutachten von Dr. D. und auch das
von der Klägerseite vorgelegte Attest des Dr. B. stellt nur Behauptungen auf, liefert jedoch keine nähere Begründung. Vor
allem ist nicht davon auszugehen, dass die gesundheitliche Situation des Klägers hinsichtlich der Sinneswahrnehmungen nicht
repräsentativ gewesen wäre; so spricht die Mutter des Klägers selbst von vielen "Höhen und Tiefen" bzgl. der gesundheitlichen
Situationen und Entwicklungsstadien ihres Sohnes.
Der Senat verkennt nicht, dass sich aus den Schilderungen der Mutter des Klägers Anhaltspunkte dafür ergeben, dass andere
Sinne des Klägers besser funktionieren als die visuelle Wahrnehmung. Dies ändert jedoch nichts am Ergebnis des Verfahrens.
Denn nach der vom Senat vertretenen Rechtsauffassung, die entscheidend auf Objektivität, wissenschaftliche Fundierung und
Rechtssicherheit abstellt, kommt anamnestischen Angaben naher Angehöriger lediglich ergänzende Bedeutung insoweit zu, als
diese Angaben vom Gutachter (näher) zu würdigen sind. Zudem steht, wie oben dargelegt, vorliegend fest, dass die kognitive
Wahrnehmung des Klägers in allen Modalitäten erheblich eingeschränkt ist. Schließlich dürfte dem bei der Beurteilung der gesundheitlichen
Verhältnisse des Klägers für die Mutter bestehenden Vorteil, dass niemand ihren Sohn so gut kennt wie sie, die Problematik
möglicher Fehlinterpretationen von einzelnen Reaktionen des Klägers gegenüber stehen; dem Senat ist bekannt, dass in vergleichbaren
Fällen Angehörige z.B. Startle-Reaktionen ("Schreckreaktionen") oftmals fälschlich als Beleg für bewusstes Handeln aufgrund
von Sinnesreizen deuten.
Für weitere Ermittlungen bestehen kein Anlass und erst recht keine verfahrensrechtliche Pflicht. Dies sieht auch die Klägerseite
so.
Hinsichtlich der von Prof. Dr. E. ins Spiel gebrachten visuell und akustisch evozierten Potentiale und der MRT ergibt sich
dies bereits aus dessen eigenen Feststellungen. Im Hinblick auf die PET ist aufgrund der sachkundigen Stellungnahme des Beklagten
davon auszugehen, dass insoweit - jedenfalls derzeit - keine Eignung für Gutachten vorliegt: Danach werden Untersuchungsverfahren
wie PET weder routinemäßig eingesetzt noch sind sie für Gutachten ausreichend evaluiert, so dass eine valide Aussage auf dieser
Grundlage schon aus diesem Grund nicht möglich ist. Vor allem aber kommen aus Sicht des Senats mit Blick auf die oben angeführten
grundsätzlichen Erwägungen (Ziff. 3.a. aa.) solche Ermittlungen in Fällen wie dem vorliegenden nicht in Betracht.
Die Berufung hat somit Erfolg. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zahlung von Blindengeld durch den Beklagten.
Das Urteil des SG ist aufzuheben und die Klage gegen die angefochtenen Verwaltungsakte des Beklagten ist abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Der Senat lässt die Revision nach §
160 Abs.
2 Nr.
1 SGG zu, weil er vor allem folgende Fragen für grundsätzlich klärungsbedürftig hält:
1. Wie ist die - dem Erfordernis einer spezifischen Sehstörung zugrunde liegende - Abgrenzung beim Sehvorgang zwischen dem
Erkennen und dem Benennen im Hinblick auf die oben geschilderten Problematiken rechtssicher vorzunehmen?
2.Welche grundsätzlichen Kriterien gelten für die Beurteilung der einzelnen Wahrnehmungsmodalitäten im Rahmen der Feststellung
einer spezifischen Sehstörung?
3.Unter welchen Voraussetzungen liegt eine spezifische Sehstörung bei mehrfach behinderten Kindern vor? Insbesondere:
a. Ist insoweit ein objektiviertes, anerkanntes Prüfverfahren erforderlich oder genügen Anamneseerhebungen (und damit übereinstimmende
Beobachtungen bei den Begutachtungsuntersuchungen)?
b. Stellen die GES ein geeignetes Instrument dar, falls ein anerkanntes Prüfverfahren erforderlich ist?
c. Welcher bei Anwendung der GES festgestellte Entwicklungsunterschied ist für die Annahme einer spezifischen Sehstörung maßgeblich,
falls die GES ein geeignetes Instrument darstellen?