Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Feststellung von Schädigungsfolgen sowie um die Gewährung von Beschädigtenrente nach den Vorschriften
des
Opferentschädigungsgesetzes (
OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Die am I. 1946 geborene Klägerin, die ausgebildete Schneidermeisterin ist, ist seit vielen Jahren psychiatrisch erkrankt.
Sie ist bereits zu Beginn der Neunzehnhundertneunzigerjahre psychiatrisch behandelt worden. Von Februar bis Mai 1998 hatte
sie sich aufgrund eines Unterbringungsbeschlusses nach dem Niedersächsischen PsychKG im niedersächsischen Landeskrankenhaus
J. aufgehalten. Dieses teilt in seinem Entlassungsbericht vom 20. Juli 1998 mit, es sei die Diagnose einer bipolaren affektiven
Psychose mit paranoidem Beiwerk gestellt worden.
Im September 1998 und 1999 hat der Neurologe und Psychiater Dr. K. die Klägerin für die Landesversicherungsanstalt L. gutachtlich
untersucht. Er ist zu dem Ergebnis gelangt, bei der Klägerin liege eine manisch depressive Psychose bzw. eine bipolare affektive
Psychose vor. In seinem Gutachten von 1999 hat er ausgeführt, die Prognose habe sich insoweit verschlechtert. Das Städtische
Klinikum L., psychiatrische Abteilung hatte im April 2000 berichtet, es sei im März 2000 zu einer akuten Exazerbation einer
chronischen Psychose mit paranoider Symptomatik gekommen.
Im Februar 2003 beantragte die Klägerin bei dem beklagten Land, bei ihr Schädigungsfolgen nach dem
OEG festzustellen und ihr Versorgungsleistungen zu gewähren. Zur Begründung wies sie in mehreren Anschreiben darauf hin, sie
sei von ihrem Vater und ihrer Mutter sowohl sexuell als auch psychisch missbraucht worden. Ihr Vater habe sie bereits im ersten
Lebensjahr sexuell missbraucht. Ab dem dritten Lebensjahr habe er ihr "nasse Küsse" gegeben und ihr in die Hose gegriffen.
Der Vater sei 1950 nach Schweden ausgewandert. Dort habe sie ihn mehrfach besucht. Anlässlich dieser Besuche sei es ebenfalls
zu Übergriffen ihres Vaters gekommen.
Im Hinblick auf ihre Mutter gab die Klägerin im Wesentlichen an, diese habe sie ständig psychisch missbraucht. Sie habe ihr
nicht erlaubt ein eigenes Selbstbewusstsein auszubilden und sie ständig herabgesetzt. Zudem sei sie von ihrer Mutter vielfach
mit einer Peitsche (Klabatsche) geschlagen worden.
Das beklagte Land leitete Ermittlungen ein, zog Befundberichte der behandelnden Ärzte und Therapeuten bei und lehnte den Antrag
sodann mit Bescheid vom 19. September 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Januar 2009 ab. Zur Begründung
wies das beklagte Land insbesondere auch darauf hin, soweit die Klägerin Handlungen in Schweden als Schädigungen geltend mache,
könne dahingestellt bleiben, ob diese Handlungen stattgefunden hätten. Sie hätten sich jedenfalls außerhalb des Geltungsbereichs
des
OEG abgespielt. Weiter hat das beklagte Land darauf hingewiesen, dass das
OEG erst am 16. Mai 1976 in Kraft getreten sei. Für Schädigungen, die vorher zugefügt worden seien, komme eine Entschädigung
nur in ganz besonderen Fällen in Betracht. Derartige Schädigungen seien aber weder nachgewiesen noch glaubhaft gemacht worden.
Im Februar 2009 ist Klage erhoben worden, mit der die Klägerin die Feststellung einer posttraumatischen Belastungsstörung
sowie die Zuerkennung eines Grades der Schädigungsfolgen (GdS) von 50 erstrebt hat.
Das Sozialgericht (SG) Braunschweig hat die Klägerin durch die Diplom-Psychologin M. untersuchen lassen (Gutachten vom 14. September 2012). Die
Sachverständige hat die Klägerin viermal jeweils mehr als drei Stunden exploriert. Sie ist - zusammengefasst - zu dem Ergebnis
gelangt, der Klägerin fehle es aufgrund ihrer psychiatrischen Erkrankung an der allgemeinen und konkreten Zeugenfähigkeit.
Die Hypothese, dass es sich bei den von der Klägerin geschilderten Ereignissen um Pseudoerinnerungen handele, könne nicht
zurückgewiesen werden. Ergänzend wird auf das umfängliche Gutachten Bezug genommen.
Die Klägerin hat zu dem Gutachten Stellungnahmen der Diplom-Psychologin Dr. N. und der Psychiaterin Dr. O. vom 24. Mai und
25. Oktober 2013 vorgelegt.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 27. Januar 2014 abgewiesen. Zur Begründung hat es zunächst darauf hingewiesen, soweit die Klägerin
im Verlauf des gerichtlichen Verfahrens auch Misshandlungen durch ihre Großmutter geschildert habe, seien diese Taten nicht
Gegenstand des sozialgerichtlichen Verfahrens geworden.
Insoweit liege noch keine Verwaltungsentscheidung vor, die vom Gericht auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft werden könne. Soweit
die Klägerin Tathandlungen ihres Vaters vor 1949 zum Gegenstand des Verwaltungs- und Gerichtsverfahrens gemacht habe, könne
sie keinen Anspruch nach dem
OEG geltend machen, da unter keinem denkbaren Gesichtspunkt insoweit eine Rückwirkung des
OEG möglich sei. Auch soweit die Klägerin Ereignisse, die sich in Schweden abgespielt hätten, zum Gegenstand des Verwaltungs-
und Gerichtsverfahrens gemacht habe, komme ein Anspruch nach dem
OEG nicht in Betracht, denn diese Taten hätten sich nicht im Geltungsbereich des
OEG ereignet. Schädigungen durch den Vater vor seiner Übersiedlung nach Schweden sein schon deshalb nicht glaubhaft gemacht,
weil sich hierzu auch in der schriftlichen Zeugenaussage der Mutter der Klägerin keine Angaben fänden. Psychische Schädigungen
wie sie durch die Klägerin ihrer Mutter vorgeworfen würden, seien ebenfalls vom Geltungsbereich des
OEG nicht erfasst. Soweit die Klägerin ihrer Mutter im Verlauf des gerichtlichen Verfahrens ergänzend vorgeworfen habe, diese
habe sie durch Schläge mit einer Peitsche körperlich geschädigt, könne diesen Angaben nicht geglaubt werden. Zur Begründung
hat sich das SG insoweit auf das Gutachten der Sachverständigen M. bezogen, welches es für überzeugend gehalten hat.
Gegen das am 31. März 2014 zugestellte Urteil ist am 29. April 2014 Berufung eingelegt worden. Die Klägerin hat nunmehr nur
noch begehrt, ihr Leistungen für Taten ab 1949 zu gewähren. Die Klägerin hat geltend gemacht, das Gutachten der Sachverständigen
M. könne eine Entscheidung nicht zu Grunde gelegt werden, weil es nicht nach den Maßstäben erstattet worden sei, die nach
der höchstrichterlichen Rechtsprechung im Bereich des
OEG heranzuziehen seien.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 27. Januar 2014 sowie den Bescheid des beklagten Landes vom 19. September 2006
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Januar 2009 aufzuheben,
das beklagte Land zu verurteilen, bei ihr eine posttraumatische Belastungsstörung als Schädigungsfolge für in der Zeit von
1949-1950, 1954, 1963 sowie 1964-1998 erlittene Gewalttaten festzustellen sowie ihr Beschädigtengrundrente zu gewähren.
Das beklagte Land beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Begründung bezieht es sich auf seine angefochtenen Bescheide sowie auf das erstinstanzliche Urteil.
Der erkennende Senat hat die Beteiligten im Verlauf des Berufungsverfahrens auf seine Rechtsprechung in ähnlichen Konstellationen
hingewiesen und einen Auszug aus einem in anderer Sache eingeholten Sachverständigengutachten von Professor Dr. P. vom 14.
August 2014 übersandt und zum Gegenstand des Verfahrens gemacht. Daneben hat er die Klägerin in der mündlichen Verhandlung
angehört.
Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze, den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte, auf
den beigezogenen Verwaltungsvorgang des beklagten Landes sowie auf vielfältige von der Klägerin vorgelegte persönliche Unterlagen
(im Wesentlichen Tagebuchaufzeichnungen) Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Die zulässige Berufung ist nicht begründet.
Soweit die Klägerin daneben noch sexuellen Missbrauch ihres Vaters im Jahre 1949 oder 1950 sowie Misshandlungen durch ihre
Mutter als Schädigungsfolgen auslösend ansieht, kann sich auch der Senat nicht davon überzeugen, dass die Angaben der Klägerin
insoweit in hinreichender Art und Weise glaubhaft gemacht sind. Er berücksichtigt dabei - wie auch das SG - zwar den durch die Anwendung von § 15 KOVVfG herabgesetzten Glaubhaftigkeitsmaßstab. Vor dem Hintergrund der ganz erheblichen psychiatrischen Erkrankung der Klägerin
kann aber auch der Senat - erneut ebenso wie das SG - unter Berücksichtigung des Gutachtens der Sachverständigen M. und der Anhörung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung
nicht zu dem Ergebnis gelangen, dass die Darstellung der Klägerin zur Glaubhaftmachung führt.
Dabei ist im Hinblick auf die Mutter der Klägerin zunächst darauf hinzuweisen, dass die Klägerin im Wesentlichen psychischen
Missbrauch anschuldigt. Derartiges ist aber vom
OEG nicht geschützt. Insoweit ist auf die Entscheidung des BSG vom 16. Dezember 2014 (B 9 V 1/13 R - SozR 4-3800 § 1 Nr. 21; vgl. dazu Loytved in juris PR - SozR 13/2015 Anm. 6; Heinz in ZfSH / SGB 2017 S. 17 ff) hinzuweisen.
Danach liegt ein tätlicher Angriff im Sinne von §
1 OEG nur vor, wenn der Täter direkt physisch auf das Opfer eingewirkt hat. Bloße Bedrohungen oder psychische Einwirkungen reichen
für die Erfüllung des Tatbestandsmerkmals "tätlicher Angriff" nach dieser Rechtsprechung, der der Senat in ständiger Praxis
folgt, nicht aus, weil es nicht zu einer körperlichen Einwirkung auf das Opfer gekommen ist (vgl. zuletzt etwa Senatsurteil
vom 19. Dezember 2016, L 10 VE 72/14 bei juris veröffentlicht). Auch der Senat hält das Gutachten der Sachverständigen M.
für überzeugend, wonach es der Klägerin vor dem Hintergrund ihrer psychiatrischen Erkrankung an der konkreten und allgemeinen
Zeugenfähigkeit fehlt. Der Senat geht daher mit der Sachverständigen davon aus, dass die Hypothese, es handele sich um Pseudoerinnerungen,
nicht zurückgewiesen werden kann. Soweit die Klägerin gegen das Gutachten der Sachverständigen einwendet, dieses sei nach
Maßstäben erstellt worden, die nicht den Anforderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung entspreche, trifft dies nicht
zu. Insoweit hat das BSG nämlich mit seinem Urteil vom 15. Dezember 2016 (B 9 V 3/15 R veröffentlicht in juris) seine frühere Rechtsprechung ausdrücklich aufgegeben und sich der Auffassung des erkennenden Senats
angeschlossen. Es bedarf daher bei der Heranziehung von Glaubhaftigkeitsgutachten im Opferentschädigungsrecht keiner anderen
Maßstäbe als dies ansonsten der Fall ist. Neben den Ausführungen der Sachverständigen M. sprechen auch weitere Gesichtspunkte
gegen die Glaubhaftigkeit der Behauptungen der Klägerin. So ist zunächst auffällig, dass die Klägerin in ihren ausführlichen
Schriftsätzen an das Versorgungsamt im Hinblick auf ihre Mutter immer wieder nur von dem psychischen Missbrauch spricht, der
nach dem oben Gesagten nicht anspruchsauslösend sein kann. Von Schlägen (mit der Peitsche) ihrer Mutter ist dann erst im gerichtlichen
Verfahren die Rede. Insoweit hat sich das Vorbringen der Klägerin im Verlauf gesteigert. Auch in der mündlichen Verhandlung
vor dem Senat hat die Klägerin ausdrücklich - und dies durchaus eindrücklich - nur von dem psychischen "Missbrauch" durch
ihre Mutter ihr gegenüber gesprochen und ausgeführt bei ihrer Mutter habe es sich um eine "narzistisch-perverse Persönlichkeit"
gehandelt. Auf Gewalttätigkeiten ist die Klägerin von sich aus nicht zu sprechen gekommen, obwohl ihr hierzu vom Senat ausreichend
Gelegenheit gegeben worden ist. Daher kann sich der Senat nicht die Überzeugung bilden, dass das Vorbringen der Klägerin im
Hinblick auf Schläge (mit der Peitsche) durch ihre Mutter in einem Maß glaubhaft ist, wie es nach den Maßstäben von § 15 KOVVfG erforderlich wäre, um hierauf einen opferentschädigungsrechtlichen Anspruch stützen zu können. Der Senat war daher nicht
veranlasst in einem nächsten Schritt zu prüfen, ob diese Schläge allein für sich genommen geeignet gewesen wären Schädigungsfolgen
auszulösen und Teile des jetzt vorliegenden Erkrankungsbildes zu erklären. Die Klägerin berichtet mehrfach, ihr sei nach 1991
die Erinnerung an den Missbrauch durch ihren Vater im ersten Jahr nach ihrer Geburt - also im Jahre 1946/47 - wiedergekommen.
In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin hierzu angegeben, sie habe auf dieses Geschehen aus dem Verhalten ihrer Mutter
zurückgeschlossen, als diese dazu befragt habe, was mit ihr in ihrer Kindheit geschehen sei. Dieses sei ihr möglich gewesen,
weil sie aufgrund ihrer besonderen Fähigkeiten zur Wahrnehmung (sie könne besonders viel "spüren") in der Lage sei, sehr viel
zu erkennen. Insbesondere sei sie nur sehr schwer zu belügen. Details zu dem angeblichen "Mißbrauch" hat sie auch in der mündlichen
Verhandlung nicht angegeben. Insoweit ist dem Senat aber aus anderen Verfahren bekannt, dass in dieser Lebensphase (erstes
Lebensjahr) noch kein biografisches Gedächtnis ausgebildet wird. Eine Wiedererinnerung an Ereignisse aus dieser Zeit ist also
nur schwer vorstellbar. Zudem sind wiederentdeckte Erinnerungen an sich eher selten und nicht sehr zuverlässig (vgl. dazu
Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, Bern 2004, S. 94 ff). Auch dies alles zusammen genommen ist für den Senat
ein Indiz dafür, dass es sich bei wesentlichen Teilen dessen, was die Klägerin nunmehr erinnert, jedenfalls um Pseudoerinnerungen
handeln könnte. Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung von §
193 SGG. Anlass die Revision in Anwendung von §
160 Abs.
2 SGG zuzulassen besteht nicht.