Zulässigkeit der Auf- und Verrechnung bei Rentenempfängern im Ausland; Beachtung von Hilfebedürftigkeit
Gründe:
I. Der Antragsteller begehrt in einem Klageverfahren und im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Einstellung der Verrechnung
einer Forderung mit der von der Antragsgegnerin gewährten Rente.
Der 1942 geborene Antragsteller erhält seit 1. Juni 2007 von der Antragsgegnerin Regelaltersrente, zunächst in Höhe von 437,94
EUR monatlich. Davor bezog er Leistungen nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II). Zum 1. Dezember 2007 verlegte der Antragsteller
seinen Wohnsitz nach I.. Dies zeigte er der Antragsgegnerin an und erhielt von dieser weiterhin Leistungen. Im November 2008
wandte sich die See-BG an die Antragsgegnerin und teilte ihr mit, sie habe gegen den Antragsteller eine Forderung in Höhe
von 22.656,03 EUR aufgrund von Beitragsrückständen. Es werde um Mitteilung gebeten, ob Leistungen aus der Versicherung des
Antragstellers gewährt würden. Sie ermächtigte die Antragsgegnerin, ihre Ansprüche mit den Leistungen an den Antragsteller
zu verrechnen. Nach Anhörung verrechnete die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 6. März 2009 die Forderung der See-BG mit den
dem Antragsteller zuletzt gewährten Rentenzahlungen von 493,23 EUR in Höhe von monatlich 246,61 EUR. Den Nachweis dafür, dass
der Antragsteller durch die Verrechnung hilfebedürftig im Sinne des SGB II oder Zwölften Sozialgesetzbuches (SGB XII) werde,
habe er nicht erbracht. Den hiergegen erhobenen Widerspruch begründete der Antragsteller damit, dass die §§
52 und
51 Abs.
2 des Ersten Sozialgesetzbuches (
SGB I) nicht zur Anwendung kämen, weil er seinen Wohnsitz nicht im Geltungsbereich des Gesetzes habe. Im Übrigen werde er bei der
geringen Rente hilfebedürftig und sei nicht in der Lage, seinen laufenden Bedarf aus der Restrente zu decken. So müsse er
monatlich 150,00 EUR für Miete, 30,00 EUR für Strom, 170,00 EUR für Lebenshaltungskosten, 100,00 EUR für die Aufenthaltsgenehmigung,
20,00 EUR für Medikamente sowie 30,00 EUR für Geldüberweisungen aufwenden. Den Widerspruch wies die Antragsgegnerin mit Widerspruchsbescheid
vom 10. September 2009 zurück. Deutsche hätten bei gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland grundsätzlich keinen Anspruch auf Sozialhilfe,
die Ausnahmeregelung des § 24 SGB XII greife nicht. Hiergegen hat der Antragsteller Klage erhoben und am 13. Januar 2011 beim
Sozialgericht Lübeck beantragt,
die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 20. April 2009 gegen den Bescheid vom 6. März 2009 gemäß §
86b Abs.
1 Nr.
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) anzuordnen.
Ergänzend hat er vorgetragen, er sei zwischenzeitlich verheiratet und habe eine Krankenversicherung abgeschlossen, letztere
mit monatlichen Kosten von 65,00 EUR. Außerdem würde er gern seine 17-jährige Tochter unterstützen. Bei den Kosten verblieben
ihm bei der beabsichtigten Verrechnung lediglich 4,56 EUR monatlich zum Leben.
Die Antragsgegnerin hat die Auffassung vertreten, dass das Ausmaß der Hilfebedürftigkeit von den besonderen Verhältnissen
im Aufenthaltsland abhinge. Das Bruttoinlandsprodukt habe in I. im Jahr 2008 bei 2.246,00 US-Dollar gelegen und damit unter
dem auch bei Berücksichtigung der Verrechnung dem Antragsteller verbliebenen Betrag. Aufgrund seines schon längeren Aufenthaltes
in I. könne davon ausgegangen werden, dass er zwischenzeitlich mit der Sprache sowie den Sitten und Gebräuchen einigermaßen
vertraut sei.
Das Sozialgericht hat eine schriftliche Auskunft von der Deutschen Botschaft in I. eingeholt und mit Beschluss vom 9. März
2011 den Antrag abgelehnt. Zur Begründung hat es ausgeführt: Der angefochtene Bescheid sei formell rechtmäßig ergangen. Insbesondere
sei eine Anhörung gemäß § 24 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X) erfolgt. Zwar habe das Anhörungsschreiben dem Antragsteller in I. nicht ordnungsgemäß zugestellt werden können. Dieser Formfehler
sei jedoch durch die Durchführung des Widerspruchsverfahrens als geheilt anzusehen. Rechtsgrundlage sei §
52 SGB I, der auch auf den Antragsteller anzuwenden sei. Der Anwendung dieser Norm in Verbindung mit §
51 Abs.
2 SGB I stehe nicht §
30 Abs.
1 SGB I entgegen. Diese Norm stehe unter dem Vorbehalt abweichender Regelungen. Als solche seien auch die Vorschriften über Leistungen
aus der gesetzlichen Rentenversicherung an Berechtigte im Ausland anzusehen. Zwar fänden sich dort keine ausdrücklichen Vorschriften
über die Verrechnung oder Aufrechnung von Leistungen. Der Leistungsbezug werde aber dem eines Inländers gleichgestellt. Hieraus
folge auch die Möglichkeit der Verrechnung, da ein Inländer einer solchen möglichen Verrechnung unterworfen sei. Die Voraussetzungen
der durchgeführten Verrechnung lägen vor. Die Zahlungsansprüche der See-BG beruhten auf unanfechtbar gewordenen Beitragsbescheiden.
Einwendungen dagegen habe der Antragsteller nicht geltend gemacht. Die Antragsgegnerin habe bei der Verrechnung auch §
51 Abs.
2 SGB I berücksichtigt, der Antragsteller sei insbesondere durch die Verrechnung nicht hilfebedürftig im Sinne des SGB XII geworden.
Maßstab hierfür sei § 24 Abs. 3 SGB XII, wonach sich Art und Maß der Leistungserbringung sowie der Einsatz des Einkommens
und des Vermögens nach den besonderen Verhältnissen im Aufenthaltsland richte. In diesem Zusammenhang habe die Auskunft der
Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in J. ergeben, dass der dem Antragsteller auch nach der Verrechnung verbleibende
Leistungssatz sowohl über dem in I. staatlich festgelegten Mindesteinkommen, über dem steuerrechtlich festgelegten unantastbaren
Existenzminimum, über dem durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen in I. und über dem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf liege, und
zwar jeweils weit oberhalb des jeweiligen Betrages. Bei seiner Argumentation verkenne der Antragsteller, dass durch das SGB
XII als die Verrechnung begrenzender Faktor keine Lebensstandardisierung beabsichtigt sei, sondern lediglich das soziokulturelle
Existenzminimum sichergestellt werden solle. In diesem Zusammenhang komme es wegen der Maßgeblichkeit der Verhältnisse am
Aufenthaltsort sehr wohl darauf an, in welchen wirtschaftlichen Verhältnissen die Kreise der indonesischen Bevölkerung lebten,
die nach dortigem Standard als hilfebedürftige anzusehen wären. Von dem Antragsteller geltend gemachte Aufwendungen für Visa
und Flüge könnten bei der Berechnung der Hilfebedürftigkeit nicht angesetzt werden, da es sich hierbei um Kosten handele,
die nicht der Existenzsicherung dienten. Gleiches gelte für die Beschaffung von Tiernahrung.
Gegen den ihm am 15. März 2011 zugestellten Beschluss richtet sich die Beschwerde des Antragstellers, eingegangen beim Sozialgericht
Lübeck am 11. April 2011. Zur Begründung trägt er vor, die Ausführungen des Sozialgerichts zur Anwendbarkeit der Verrechnungsvorschriften
seien nicht überzeugend. Zwar stehe §
30 Abs.
1 SGB I unter dem Vorbehalt einer abweichenden Regelung, eine solche finde sich jedoch in §
110 Abs.
2 Sozialgesetzbuch, Sechstes Buch (
SGB VI) nicht. Auch die Ausführungen zu § 24 SGB XII überzeugten nicht. Absatz 3 der Norm zeige lediglich, dass Leistungsbezug im Ausland vom Gesetzgeber grundsätzlich
nicht gewollt sei und deshalb auch im Ausnahmefall minimiert werden solle. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts sei
es auch nicht möglich, in I. mit monatlich 246,61 EUR zu leben. Das gelte jedenfalls für einen Deutschen in I.. Im Übrigen
habe die Botschaft selbst darauf hingewiesen, dass ihre Informationen auf verschiedenen Quellen beruhten und eine Gewähr für
die Vollständigkeit und abschließende Richtigkeit nicht übernommen werden könne. Zu den bereits benannten Lebenshaltungskosten
komme zudem noch die Krankenversicherung in Höhe von 65,00 EUR pro Monat hinzu. Die Kosten für die Tiernahrung seien erforderlich,
weil sie für einen Hund, der zu Therapiezwecken angeschafft worden sei, verwendet würden. Der Antragsteller verweist auf eine
dem Gericht vorgelegte Preisliste eine Supermarktes. Zwischenzeitlich sei ein Antrag auf Konsularhilfe zur Rückführung in
die Bundesrepublik Deutschland gestellt worden, da es ihm nicht möglich sei, von der verbleibenden Rente in I. zu leben.
Die Antragsgegnerin verweist zur Begründung auf die Ausführungen des sozialgerichtlichen Beschlusses und trägt ergänzend vor,
dass das Bundessozialgericht (BSG) im Übrigen entschieden habe, dass sich die Voraussetzungen der Aufrechnung einer aus deutschem
Recht begründeten Forderung nach deutschem Recht bestimmten, ohne dass eine Entscheidung danach zu treffen sei, welcher Nationalität
der Berechtigte sei und wo er seinen Wohnsitz habe. Der Nachweis der Sozialhilfebedürftigkeit orientiere sich an dem Staat,
in den der Berechtigte verzogen sei.
II. Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig, aber unbegründet. Der angefochtene Beschluss des Sozialgerichts
Lübeck ist nicht zu beanstanden.
Zutreffend gibt das Sozialgericht in dem angefochtenen Beschluss die Voraussetzungen für die Prüfung eines Antrages auf Anordnung
der aufschiebenden Wirkung gemäß §
86b Abs.
1 Satz 1 Nr.
2 SGG wieder. Danach sind im Rahmen der allgemeinen Interessenabwägung vorrangig die Aussichten des Hauptsacheverfahrens bei der
Entscheidung zu berücksichtigen. Bezogen darauf sind die umfassenden Ausführungen des Sozialgerichts im Rahmen der im vorläufigen
Rechtsschutz gebotenen summarischen Prüfung überzeugend und nicht zu beanstanden. Daher verweist der Senat zur Vermeidung
von Wiederholungen auf den angefochtenen Beschluss (§
142 Abs.
2 Satz 3
SGG) und ergänzt diesen, auch im Hinblick auf das Vorbringen des Antragstellers in der Beschwerde, um Folgendes:
Die Vorschriften über die Auf- und Verrechnung in §§
51,
52 SGB I finden auch auf Leistungsempfänger im Ausland Anwendung. Dies entspricht ständiger Rechtsprechung in der Sozialgerichtsbarkeit.
Die Beklagte verweist insoweit zutreffend auf die Entscheidung des BSG vom 12. April 1995 (5 RJ 12/94). Entsprechend haben das Bayerische Landessozialgericht (Urteil vom 14. November 2007 - L 13 R 157/07) und das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (Urteil vom 6. September 2007 - L 8 RA 91/04) entschieden. Eine andere Auffassung ließe sich auch nicht mit dem Gleichheitsgebot des Art.
3 Grundgesetz vereinbaren, wenn sich Leistungsempfänger durch Umzug ins Ausland der einschränkenden Regelung in §
51 Abs.
2 SGB I entziehen könnten.
Ob der Auffassung des Sozialgerichts in dem angefochtenen Beschluss insoweit zu folgen ist, dass in jedem Fall bei der Verrechnung
der Eintritt der Sozialhilfebedürftigkeit zu prüfen ist, obwohl Sinn und Zweck der Regelung des §
51 Abs.
2 SGB I ist zu vermeiden, dass ein Leistungsträger auf Kosten eines anderen Leistungsträgers verrechnet, kann der Senat hier dahinstehen
lassen. Denn der Antragsteller hat nicht den Nachweis erbracht, dass er durch die Verrechnung hilfebedürftig im Sinne der
Vorschriften des SGB XII über die Hilfe zum Lebensunterhalt wird. Nach dieser mit Wirkung vom 1. Januar 2004 geänderten Fassung
des Absatzes 2 obliegt es dem Leistungsberechtigten nachzuweisen, dass er durch die Aufrechnung hilfebedürftig wird. Mit dieser
Regelung soll einerseits sichergestellt sein, dass die schutzwürdigen Interessen des Schuldners gewahrt sind, andererseits
es aber auch dem Leistungsträger ermöglicht wird, ohne erheblichen Verwaltungsaufwand Erstattungsforderungen in gesetzlich
zulässigem Umfang durch Aufrechnung bzw. Verrechnung geltend zu machen. Einen solchen Nachweis hat der Antragsteller nicht
erbracht. Auch insoweit folgt der Senat den Ausführungen des Sozialgerichts. Insbesondere sieht der Senat keinen Grund, nicht
den Angaben der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland aus J. folgen zu können. Dass in I. bzw. J. der staatlich festgelegte
Mindestlohn, das steuerrechtlich festgelegte unantastbare Existenzminimum, das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen und das
Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in den dort mitgeteilten Höhen besteht, wird vom Antragsteller nicht bestritten. Er weist lediglich
auf höhere Lebenshaltungskosten hin und legt hier Angaben eines Supermarktes vor. Die Aussagekraft der Auskunft der Botschaft
der Bundesrepublik Deutschland ist nach Auffassung des Senats insoweit höher zu bewerten.
Soweit der Antragsteller die Anwendung des §
24 Abs.
3 SGB XI verneint und auf die besondere Situation eines Deutschen in I. hinweist, führt dies ebenfalls nicht zur Aufhebung des angefochtenen
Beschlusses. §
51 Abs.
2 SGB I verweist auf die Vorschriften des SGB XII und damit auch auf §
24 ohne Einschränkung. Der Hinweis des Antragstellers auf Kosten für Visa und Flugreisen geht bereits deshalb fehl, weil es
sich dabei nicht um Kosten handelt, die der Existenzsicherung dienen.
Die Beschwerde ist daher mit der auf einer entsprechenden Anwendung des §
193 SGG beruhenden Kostenentscheidung zurückzuweisen.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§
177 SGG).