Zulässigkeit eines Urteils im sozialgerichtlichen Verfahren ohne mündliche Verhandlung; Verletzung des Rechts auf Gewährung
rechtlichen Gehörs bei fehlendem Einverständnis
Tatbestand
Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob der Kläger gegen die Beklagte einen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung
aufgrund des Rentenantrags vom 01.04.2009 hat.
Der 1955 geborene Kläger war im Jahr 1988 in die Bundesrepublik Deutschland übergesiedelt und hat hier Tätigkeiten als Lagerarbeiter,
Hausmeister und Verpacker ausgeübt. Am 01.04.2009 stellte er (zum wiederholten Male) einen Antrag auf Gewährung von Erwerbsminderungsrente,
den die Beklagte nach Einholung eines chirurgischen Gutachtens von Dr. von G. vom 05.06.2009 sowie eines neurologisch/psychiatrischen
Gutachtens von Dr. H. vom 06.07.2009 mit streitgegenständlichem Bescheid vom 21.07.2009 ablehnte. Der hiergegen eingelegte
Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 29.01.2010 als unbegründet zurückgewiesen.
Das Sozialgericht (SG) Nürnberg hat nach Beiziehung ärztlicher Befundberichte ein orthopädisches Gutachten von Dr.M. eingeholt, der am 06.08.2010
noch zu einem mindestens sechsstündigen Leistungsvermögen für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes unter Beachtung qualitativer
Leistungseinschränkungen gelangt ist. Ein nervenärztliches Gutachten von Dr. W. vom 17.10.2010 kam ebenfalls zu einem mindestens
sechsstündigen Leistungsvermögen des Klägers für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes. Auf Antrag des Klägers nach §
109 Sozialgerichtsgesetz -
SGG- wurde sodann ein orthopädisches Gutachten von Dr. S. eingeholt, der am 22.03.2011 ebenfalls zu einem mindestens 6-stündigen
Leistungsvermögen gelangte. Nach Einholung weiterer Befundberichte wurde auf weiteren Antrag des Klägers nach §
109 SGG ein neurologisch/psychiatrisches Gutachten von Prof. Dr. S. sowie ein psychologisches Zusatzgutachten von Dr.Sch. eingeholt,
die insgesamt zu einem Leistungsvermögen des Klägers von drei bis unter sechs Stunden gelangt sind. Gegenüber den bisher eingeholten
Gutachten sei auf Grund der affektiven Bewertung eine deutliche Chronifizierung im Sinne einer mittelgradigen depressiven
Episode bei persistierender Somatisierungsstörung zu konstatieren.
Aufgrund einer prüfärztlichen Stellungnahme von Dr. Sch. vom 25.01.2012 hat das SG nochmals umfangreiche Befunde des behandelnden Orthopäden Dr. U. beigezogen und nach weiteren unterschiedlichen Stellungnahmen
von Klägervertreter und Beklagter eine ergänzende Stellungnahme von Prof. Dr. S. vom 27.08.2012 eingeholt, in der dieser bei
seinem gefundenen Ergebnis verblieben ist.
Mit Schriftsatz vom 10.10.2012 nahm der Prozessbevollmächtigte des Klägers zum Gutachten und der ergänzenden Stellungnahme
von Prof. Dr. S. dahingehend Stellung, dass nunmehr an der Erwerbsminderung des Klägers wohl kein Zweifel mehr bestehen könne
und ihm Rente zu gewähren sei. Er sei ausdrücklich mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid einverstanden. Die Vorsitzende
der 18. Kammer des SG hat mit gerichtlichem Schreiben vom 17.10.2012 der Beklagten eine Abschrift dieses Schriftsatzes übersandt und darauf hingewiesen,
dass sie die Voraussetzungen für eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid nach §
105 SGG nicht als gegeben ansehe, aber bereit sei, ohne mündliche Verhandlung nach §
124 Abs
2 SGG zu entscheiden, sofern ein entsprechendes Einverständnis erklärt werde. Die Beklagte hat darauf hin mit Schreiben vom 23.10.2012
ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach §
124 Abs
2 SGG erklärt.
Das SG hat sodann mit Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 28.11.2012 die Klage gegen den Bescheid vom 21.07.2009 in Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 29.01.2010 als unbegründet abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente.
Den Gutachten von Prof. Dr. S. und Dr. Sch. werde nicht gefolgt. Allein die von Prof. Dr. S. gefundene abweichende Diagnose
reiche nicht aus, um zu einer quantitativen Leistungseinschränkung zu gelangen. Es fehle an einer objektivierten und nachvollziehbaren
Darstellung des Leistungsfalls.
Zur Begründung der hiergegen am 21.02.2013 zum Bayer. Landessozialgericht eingelegten Berufung hat der Prozessbevollmächtigte
des Klägers vorgetragen, dass das SG gehalten gewesen wäre, auf seine inhaltlichen Bedenken wegen des Gutachtens von Prof. Dr. S. hinzuweisen. Es habe den Kläger
sozusagen "ins offene Messer laufen lassen". Es habe die Einschätzung von Prof. Dr. S. mit einem bereits im Jahr 2010 erstellten
Gutachten als widerlegt angesehen, obwohl Prof. Dr. S. ausdrücklich eine deutliche Chronifizierung beschrieben habe. Es werde
angeregt, ein weiteres orthopädisches und neurologisch/psychiatrisches Gutachten von Amts wegen einzuholen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 28.11.2012 und den Bescheid der Beklagten vom 21.07.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 29.01.2010 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Rente wegen voller,
hilfsweise
wegen teilweiser Erwerbsminderung aufgrund seines Antrags vom 01.04.2009 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 28.11.2012 zurückzuweisen.
Bezüglich der Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf die beigezogenen Rentenakten der Beklagten sowie die Gerichtsakten erster
und zweiter Instanz verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig (§§
143,
144,
151 SGG). Sie ist auch begründet. Das SG hat die Streitsache am 28.11.2012 durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nach §
124 Abs.
2 SGG entschieden, ohne dass hierfür die Voraussetzungen gegeben waren.
Gemäß §
124 Abs.
2 SGG darf ein Urteil ohne mündliche Verhandlung nur dann ergehen, wenn die Beteiligten ausdrücklich zu einer Entscheidung ohne
mündliche Verhandlung im Sinne des §
124 Abs.
2 SGG vom Gericht angehört wurden und hierzu von ihnen auch ausdrücklich ein Einverständnis mit dieser Entscheidung erklärt wurde.
Das Einverständnis muss schriftlich erfolgen und muss sich unmissverständlich auf eine Entscheidung durch Urteil ohne mündliche
Verhandlung nach §
124 Abs.
2 SGG erstrecken. Ein erklärtes Einverständnis mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid nach §
105 SGG ist ebenso wenig ausreichend wie ein stillschweigendes Einvernehmen. Auch eine nachträgliche Genehmigung des ohne mündliche
Verhandlung erlassenen Urteils durch die Prozessbeteiligten ist nicht zulässig (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
Kommentar zum
SGG, 11.Aufl. 2014 §
124 Rdnrn. 3 ff mwN).
Ergeht ein Urteil ohne mündliche Verhandlung ohne das Vorliegen des notwendigen schriftlichen Einverständnisses einer der
beteiligten Parteien (oder beider Parteien), liegt ein wesentlicher Verfahrensfehler in Form der Verletzung des Rechts auf
Gewährung rechtlichen Gehörs vor, der unter den Voraussetzungen des §
159 SGG zur Aufhebung der Entscheidung und zu einer Zurückverweisung an das erlassende Gericht führt, u. a. dann, wenn das Verfahren
an einem wesentlichen Mangel leidet und auf Grund dieses Mangels eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig
ist (§
159 Abs.
1 Nr.
2 SGG).
Aus den Akten des SG ergibt sich, dass der Prozessbevollmächtigte des Klägers nach Vorlage des Gutachtens und der ergänzenden Stellungnahme von
Prof. Dr. S. mit Fax vom 10.10.2012, eingegangen beim SG Nürnberg am 11.10.2012, die Auffassung vertreten hat, dass aufgrund
des Gutachtens von Prof. Dr. S. eine Rentengewährung nicht mehr abgelehnt werden könne und dass deswegen ausdrücklich ein
Einverständnis mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid erklärt werde. Das SG selbst hat aber die Auffassung vertreten, dass die Voraussetzungen für eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid - nämlich
eine Streitsache ohne besondere rechtliche oder tatsächliche Schwierigkeiten - nicht gegeben sind und hat mit Schreiben vom
17.10.2012 die Beklagte auf die Möglichkeit eines Urteils - unter Mitwirkung ehrenamtlicher Richter - ohne mündliche Verhandlung
nach §
124 Abs.
2 SGG hingewiesen. Die Beklagte hat hierzu ihr Einverständnis erklärt. Das Gericht hat aber weder vom Prozessbevollmächtigten des
Klägers ein entsprechendes Einverständnis eingeholt, noch hat es einen richterlichen Hinweis erteilt, dass eine Entscheidung
durch Gerichtsbescheid nicht in Betracht komme und vor allem auch nicht dahingehend, dass die Rechtsauffassung des Prozessbevollmächtigten
des Klägers hinsichtlich der nachgewiesenen Anspruchsvoraussetzungen für eine Erwerbsminderungsrente vom Gericht so nicht
gesehen werden. Auch auf die Sachstandsanfrage des Prozessbevollmächtigten des Klägers vom 09.01.2013, die noch vor Zustellung
- und damit vor Bekanntgabe des Urteils am 24.01.2013 und damit vor Eintritt der Wirksamkeit des Urteils - gestellt worden
war, erfolgte kein entsprechender Hinweis des Gerichts. Die im Urteil vom 28.11.2012 getroffene Entscheidung war somit für
den Klägervertreter überraschend, was auch in dem berufungsbegründenden Schriftsatz vom 10.06.2014 eindeutig zum Ausdruck
kommt.
Es ist auch davon auszugehen, dass erhebliche weitere Ermittlungen bzw. die Einholung weiterer Gutachten erforderlich sein
könnten. Aufgrund der im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorliegenden widersprüchlichen Gutachten ist nicht auszuschließen,
dass weitere Anträge oder Anregungen des Prozessbevollmächtigten des Klägers zur Klärung des medizinischen Sachverhaltes gestellt
oder die Einholung weiterer Gutachten von Amts wegen angeregt worden wären, wie dies nun im Berufungsverfahren der Fall war.
Das Urteil des SG vom 28.11.2012 ist deshalb aufzuheben und die Streitsache nach Maßgabe des §
159 Abs.
1 Nr
2 SGG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Über die Kosten des Berufungsverfahrens entscheidet das SG im Zusammenhang.
Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.