Betreibensaufforderung; Empfangsbekenntnis; Nichtbetreiben; Rechtsanwalt; Rechtsschutzbedürfnis; Rechtsschutzinteresse
1. Anhaltspunkte für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses, die Anlass für eine Betreibensaufforderung des Gerichts sein
können, bestehen insbesondere dann, wenn der Kläger oder Berufungsführer seine prozessualen Mitwirkungspflichten verletzt
hat, indem er auf eine prozessleitende Verfügung mit der Aufforderung zu bestimmtem Tatsachenvortrag nicht reagiert hat.
2. Wenn der Kläger bzw. Berufungsführer innerhalb der in der Betreibensaufforderung gesetzten Frist ohne Nachholung von Tatsachenvortrag
lediglich mitteilt, die Klage bzw. Berufung werde weiterverfolgt, und anzweifelt, dass das
SGG eine Rücknahmefiktion vorsieht, ist das Verfahren nicht betrieben und gilt die Klage bzw. Berufung als zurückgenommen.
3. Enthält das Empfangsbekenntnis eines Rechtsanwalts unterschiedliche Datumsangaben für den Eingang des zugestellten Schriftstücks
in der Kanzlei und die persönliche Kenntnisnahme durch den Rechtsanwalt, ist das Datum der Zustellung derjenige Tag, an dem
der Rechtsanwalt persönlich Kenntnis genommen hat.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob im Berufungsverfahren die Berufungsrücknahmefiktion nach §
156 Abs.
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) eingetreten ist.
Die in der ...str. ... in P... lebende Klägerin zu 1) ist die Mutter der am ... 2006 geborenen Klägerin zu 2). Diese lebt
bei ihrem Vater in der ...-Str. 66 in P.... Beide Eltern sind gemeinsam sorgeberechtigt. Über den Aufenthalt der Klägerin
zu 2) hatten sie sich formlos in der Weise geeinigt, dass die Klägerin zu 1) die Klägerin zu 2) jeden Dienstag und Donnerstag
um 15 Uhr aus dem Kindergarten abholen und sie bis gegen 19 Uhr betreuen durfte. Außerdem sollte die Klägerin zu 2) jedes
zweite Wochenende von Freitag 15 Uhr bis Sonntag 19 Uhr bei der Klägerin zu 1) verbringen. Zu den tatsächlichen Aufenthaltstagen
der Klägerin zu 2) bei ihr hat die Klägerin zu 1) eine Aufstellung vorgelegt, aus der sich Abweichungen von der generellen
Regelung ergeben.
Die Klägerin zu 1) steht im Bezug von Arbeitslosengeld II. Für den Zeitraum 01.10.2011 bis 31.03.2012 übernahm der Beklagte
die tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung in voller Höhe. Im Vorverfahren half er dem das Ziel der Gewährung
von Regelleistungen für die Klägerin zu 2) verfolgenden Widerspruch insoweit ab, als er anteilige Regelleistung für je vier
Kalendertage in den Monaten Oktober, November, Februar und März sowie je fünf Kalendertage in den Monaten Dezember und Januar
gewährte. Er verwies auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 02.07.2009 - B 14 AS 75/08 R -, nach dem Regelleistung nur für Kalendertage, an denen sich das Kind mehr als 12 Stunden beim umgangsberechtigten Elternteil
aufhält, zu gewähren ist.
Nachdem das Sozialgericht Chemnitz die auf höhere Regelleistungen für beide Klägerinnen und Mehrbedarf der Klägerin zu 1)
wegen Alleinerziehung gerichtete Klage abgewiesen hatte, haben die Klägerinnen Berufung eingelegt, die im Senat zunächst unter
dem Aktenzeichen L 2 AS 381/13 anhängig gewesen ist. Im Berufungsverfahren begehren sie höhere Regelleistungen - die gesetzlichen seien verfassungswidrig,
zudem stünden der Klägerin zu 2) Regelleistungen für die Freitage aus der Betreuungszeit der Klägerin zu 1) zu, weil sich
die Klägerin zu 2) an diesen 9 Stunden bei der Klägerin zu 1), dagegen nur 7 Stunden bei ihrem Vater aufhalte - und für die
Klägerin zu 1) Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II wegen der Kosten, die ihr für die Verpflegung der Klägerin zu 2) an Dienstagen und Donnerstagen, an denen sie sich in diesem
Haushalt aufgehalten hat, entstanden sind. Sofern andere Anhaltspunkte bzw. konkrete Kostenbelege nicht vorliegen, sei der
Sonderbedarf je Mahlzeit der Klägerin zu 2) zu schätzen.
Der Berichterstatter hat die Klägerinnen mit Verfügung vom 23.04.2014 aufgefordert klarzustellen, für welche der in der Aufstellung
der Klägerin zu 1) genannten Tage Verpflegungsbedarf für die Klägerin zu 2) eingeklagt wird. Dieser solle auch beziffert werden.
Zumindest sollten Grundlagen für die von den Klägerinnen geforderte gerichtliche Schätzung angegeben werden. Auch auf eine
Mahnung vom 11.06.2014, mit der eine Frist bis zum 18.07.2014 gesetzt worden ist, haben die Klägerinnen nicht reagiert. Am
22.07.2014 hat der Berichterstatter eine Betreibensaufforderung nach §
156 Abs.
2 SGG mit einer Anfrage gleichen Inhalts wie am 23.04.2014 erlassen. In ihr wird auch darauf hingewiesen, dass die Berufung als
zurückgenommen gilt, wenn die Berufungskläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreiben.
Sowohl die Verfügung als auch das Ausgangsschreiben hat der Berichterstatter unterschrieben und die Aufforderung dem Prozessbevollmächtigten
der Klägerinnen mit Empfangsbekenntnis zugestellt. Dieses enthält einen Kanzlei-Eingangsstempel vom 23.07.2014 sowie darunter
einen Stempelabdruck "zur Kenntnis genommen", neben dem das handschriftlich eingetragene Datum 24.07.2014 folgt und der Prozessbevollmächtigte
unterschrieben hat.
Am 24.10.2014 ist bei Gericht ein Telefax der Klägerinnen eingegangen, in dem es heißt: "In Sachen ... wird die Berufung weiter
verfolgt. Der Senat wird gebeten mitzuteilen, an welcher Stelle §
156 Abs.
2 SGG von einer Rücknahmefiktion spricht." Berichterstatter und Vorsitzender haben veranlasst, dass das Verfahren aufgrund Berufungsrücknahme
ausgetragen wird, was den Beteiligten mitgeteilt worden ist.
Mit einem am 21.11.2014 eingegangenen Schriftsatz beantragen die Klägerinnen,
festzustellen, dass das Verfahren nicht als zurückgenommen gilt.
Eine "Betreibensaufforderung", angeblich vom 22.07.2014, sei in diesem Verfahren offensichtlich nicht ergangen. Der Senat
werde gebeten mitzuteilen, an welcher Stelle §
156 Abs.
2 SGG von einer Rücknahmefiktion spricht.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung.
Zur mündlichen Verhandlung ist keiner der Beteiligten erschienen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Entscheidung ergeht nach Lage der Akten, nachdem in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist und keiner
der Beteiligten zur mündlichen Verhandlung erschienen ist (vgl. §
126 Sozialgerichtsgesetz -
SGG -).
Das Berufungsverfahren hat am 25.10.2014 durch fingierte Berufungsrücknahme geendet, sodass mangels eines rechtshängigen Verfahrensgegenstands
nicht mehr zur Sache entschieden werden kann. Die Betreibensaufforderung ist rechtmäßig erfolgt (1.) und die Klägerinnen haben
das Verfahren innerhalb der gesetzten Dreimonatsfrist nicht betrieben (2.).
1. Die Betreibensaufforderung ist in Anwendung des §
156 Abs.
2 Satz 1 und
2 SGG materiell (a) und formell (b) rechtmäßig. Nach dieser Vorschrift gilt die Berufung als zurückgenommen, wenn der Berufungskläger
das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Der Berufungskläger ist in der Aufforderung
auf die Rechtsfolgen hinzuweisen, die sich aus Satz 1 ergeben.
a) Nachdem die Klägerinnen auf eine Aufklärungsverfügung des Berichterstatters zu nach seiner und auch der Klägerinnen Auffassung
entscheidungserheblichen Tatsachen trotz Mahnung und Fristsetzung nicht reagiert hatten, bestanden Zweifel am Rechtsschutzinteresse
für die Berufung. Denn sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers bzw. Berufungsführers,
die Anlass für eine Betreibensaufforderung sein können, bestehen insbesondere dann, wenn dieser seine prozessualen Mitwirkungspflichten
verletzt hat, indem er auf eine prozessleitende Verfügung mit konkreten Auflagen des Gerichts, etwa zu bestimmten Tatsachen
Stellung zu nehmen, nicht reagiert hat (Kopp/Schenke,
VwGO, 20. Auflage, §
126 Rdnr. 8 i.V.m. §
92 Rdnr. 18 und 19; Happ in Eyermann,
VwGO, 13. Auflage, §
126 Rdnr. 7 i.V.m. Rennert im gleichen Werk, §
92 Rdnr. 16, beide zur mit §
156 Abs.
2 SGG i.W. gleich lautenden Vorschrift des §
126 Abs.
2 Verwaltungsgerichtsordnung -
VwGO -).
b) In der Betreibensaufforderung wurden die Klägerinnen darauf hingewiesen, dass die Berufung als zurückgenommen gilt, wenn
sie das Verfahren trotz der Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreiben.
Der Berichterstatter hatte Verfügung und Ausgangsschreiben unterschrieben; die Verfügung war also nicht nur paraphiert und
auch das Ausgangsschreiben nicht nur mit dem Zusatz "Auf richterliche Anordnung" von einem Geschäftsstellenmitarbeiter unterzeichnet
(zu diesem Erfordernis s. BSG, Urteil vom 01.07.2010 - B 13 R 58/09 R -; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16.10.2013 - L 19 AS 1057/13 B -, beide in Juris).
Die Betreibensaufforderung wurde auch förmlich zugestellt, die Betreibensfrist damit in Lauf gesetzt.
2. Die Klägerinnen haben das Verfahren nicht innerhalb von drei Monaten nach Zustellung der Betreibensaufforderung betrieben.
Zwar erfolgte die Zustellung erst am 24.07.2014, sodass das Telefax der Klägerinnen vom 24.10.2014 noch innerhalb der Dreimonatsfrist
einging. Denn auf einem Empfangsbekenntnis ist nicht der Eingangsstempel der Kanzlei (hier: vom 23.07.2014), sondern der Zeitpunkt
der Kenntnisnahme durch den Rechtsanwalt maßgebend (hier: laut handschriftlicher Eintragung 24.07.2014; vgl. BAG, Beschluss
vom 11.01.1995 - 4 AS 24/94 -, in Juris). Dennoch lag nach einer Gesamtwürdigung von Betreibensaufforderung und Verhalten der Klägerinnen (vgl. Keller
in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, §
156 Rdnr. 4a i.V.m. §
102 Rdnr. 8a a.E.) am 24.10.2014, dem Tag des Fristablaufs, ein Nichtbetreiben vor: Zweifel am Rechtsschutzinteresse bestanden
- wie dargelegt - deshalb, weil die Klägerinnen auf eine - nicht auf anderem Wege ermittelbare (insbesondere Höhe der regelmäßig
von der Klägerin zu 1) für die Klägerin zu 2) aufgewendeten Verpflegungskosten bzw. notfalls Inhalt der Mahlzeiten) Umstände
aus ihrer Sphäre betreffende - Aufklärungsverfügung nicht hinreichend reagiert hatten. Diese Zweifel waren durch ihren Schriftsatz
vom 24.10.2014 nicht ausgeräumt, weil die Klägerinnen weiterhin nicht mitwirkten. Der Schriftsatz beschränkte sich im Wesentlichen
auf die Aussage, dass die Berufung weiterverfolgt wird. Der Anforderung eines substantiellen Vorbringens in einer Betreibensaufforderung
genügt es jedoch nicht, wenn der Kläger bzw. Berufungsführer auf eine konkrete Aufforderung hin lediglich mitteilt, er wolle
das Verfahren weiter betreiben (BVerwG, Beschluss vom 07.07.2005 - 10 BN 1/05 -; LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 30.08.2012
- L 2 AS 132/12 -; Sächsisches OVG, Beschluss vom 08.02.2012 - 5 A 727/09 -; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 30.09.2004 - 4 K 20/03 -, alle in Juris). Hat der Kläger oder Berufungsführer in diesem Sinne unzureichend reagiert, tritt die Wirkung der Rücknahmefiktion
ein (Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll,
VwGO, 6. Auflage, §
92 Rdnr. 25).
Das Verfahren ist nach §
183 Satz 1
SGG gerichtskostenfrei. Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 Abs.
1 Satz 1
SGG.
Ein Grund nach §
160 Abs.
2 SGG, die Revision zuzulassen, ist nicht ersichtlich.