Kosten für Familienheimfahrten während einer Umschulung
Gebundene Entscheidung
Atypische Fälle
Signifikante Abweichung zum Normalfall
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Höhe der zu bewilligenden Kosten für Familienheimfahrten anlässlich einer von Ende Juni
2011 bis November 2012 andauernden Umschulung zum Industriekaufmann. Der im Jahre 1960 geborene, alleinstehende Kläger erlernte
zunächst den Beruf eines Facharbeiters für Bergbautechnologie und schulte Anfang der 90er Jahre zum Gas- und Wasserinstallateur
um. In diesem Beruf war er - unterbrochen durch längere Zeiten der Arbeitslosigkeit - zuletzt im Sommer 2009 beschäftigt.
Schon zuvor - am 12. Juli 2007 - hatte der Kläger bei der Agentur für Arbeit Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben beantragt,
die sich für unzuständig erklärte und den Antrag mit Schreiben vom 17. Juli 2007 an die Beklagte weiterleitete. Diese erklärte
sich in der Folge bereit, dem Grunde nach Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zu erbringen.
Im Frühjahr 2010 beantragte der Kläger Rente wegen Erwerbsminderung. Zuvor hatte er auf Kosten der Beklagten an medizinischen
Maßnahmen zur Rehabilitation in B. S. teilgenommen. Die Ärzte diagnostizierten eine Essstörung mit Adipositas, Bluthochdruck
und eine Funktionsstörung der rechten Hand nach Karpaltunneloperation. Der Kläger könne leichte bis mittelschwere Arbeiten
vollschichtig ausüben. Als Gas- und Wasserinstallateur könne er nicht mehr arbeiten. Nach Antragstellung veranlasste die Beklagte
eine chirurgische Begutachtung durch Dr. H ... Er hielt den Kläger für fähig, leichte Arbeiten vollschichtig auszuüben, nicht
jedoch den Beruf eines Gas- und Wasserinstallateurs. Mit Bescheid vom 9. September 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 18. November 2010 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung bestehe nicht. Der Kläger
könne noch sechs Stunden täglich erwerbstätig sein. Er sei auch nicht berufsunfähig. Er könne zwar nicht mehr als Gas- und
Wasserinstallateur arbeiten. Er müsse sich aber auf die Tätigkeit eines Lagerverwalters für Elektromaterial verweisen lassen.
Im anschließenden Klageverfahren vor dem SG Nordhausen - S 20 R 9176/10 nahm der Kläger auf Kosten der Beklagten vom 21. Februar bis 4. März 2011 an einer Arbeitserprobung / Berufsfindungsmaßnahme
im Berufsförderungswerk F. am M. teil. Dort sprach man sich u. a. für eine Qualifizierung zum Industriekaufmann aus. In der
Erprobung habe der Kläger überdurchschnittliche bis gut durchschnittliche Ergebnisse erzielt. Der Beklagte bewilligte sodann
mit Bescheid vom 28. Juni 2011 eine von 29. Juni 2011 bis 28. Juni 2013 dauernde Umschulung zum Industriekaufmann im Berufsförderungswerk
in Se.
Mit weiterem Bescheid vom 25. Juli 2011 gewährte der Beklagte dem Kläger Fahrtkostenerstattung dem Grunde nach. Pro Zeitmonat
werde dem Kläger grundsätzlich für zwei Familienheimfahrten Kostenerstattung gewährt. Betrage die Dauer der Maßnahme weniger
als einen Zeitmonat, aber mehr als zwei Wochen werden Kosten für eine Familienheimfahrt übernommen. Die Wegstrecke zwischen
dem Wohnort So. und dem Ort der Maßnahme Se. betrage 227 Kilometer. Der gefahrene Kilometer werde bei Nutzung eines PKW mit
einer Pauschale von 0,20 Euro pro Kilometer der einfachen Wegstrecke abgegolten. Für die Reisen nutze der Kläger seinen PKW.
Mit Schriftsatz vom 18. Juni 2012 hat er Klage zum SG Altenburg wegen Untätigkeit erhoben und beantragt, über seinen Antrag
auf Fahrtkosten vom Juni 2011 bis Februar 2012 zu entscheiden. Mit Beschluss vom 26. September 2011 hat das Sozialgericht
Altenburg den Rechtsstreit an das örtlich zuständige Sozialgericht Nordhausen verwiesen. Mit zehn Bescheiden vom 3. September
2012 hat die Beklagte für
- Juni 2011 Fahrtkosten in Höhe von 45,40 Euro für die Anreise am 29. Juni 2011 zum Beginn der Umschulung bewilligt
- Juli 2011 Fahrtkosten in Höhe von 136,20 Euro für eine Familienheimfahrt und die Abreise in die Ferien am 23. Juli 2011
bewilligt
- August 2011 Fahrtkosten in Höhe von 136,20 Euro für eine Familienheimfahrt und die Anreise aus den Ferien am 14. August
2011 bewilligt
- September 2011 Fahrtkosten in Höhe von 181,60 Euro für zwei Familienheimfahrten bewilligt
- Oktober 2011 Fahrtkosten in Höhe von 181,60 Euro für zwei Familienheimfahrten bewilligt
- November 2011 Fahrtkosten in Höhe von 181,60 Euro für zwei Familienheimfahrten bewilligt
- Dezember 2011 Fahrtkosten in Höhe von 136,20 Euro für eine Familienheimfahrt und die Abreise in die Ferien am 23. Dezember
2011 bewilligt
- Januar 2012 Fahrtkosten in Höhe von 90,80 für die Anreise aus den Ferien am 3. Januar 2012 und die Abreise am 5. Januar
2012 wegen Krankheit bewilligt
- Mai 2012 für die Wiederaufnahme der Maßnahme am 29. Mai 2012 nach längerer Krankheit 45,40 Euro für eine einfache Fahrt
- Juni 2012 Fahrtkosten in Höhe von 181,60 Euro für zwei Familienheimfahrten
- Juli 2012 Fahrtkosten in Höhe von 136,20 Euro für eine Familienheimfahrt und eine einfache Fahrt nach Krankschreibung zum
23. Juli 2012 bewilligt
Den Bescheiden lagen dabei die Anwesenheitsbestätigungen des Berufsförderungswerkes für die jeweiligen Monate zugrunde.
Hiernach hat der Kläger
- im Juni 2011 eine einfache Fahrt
- im Juli 2011 eine einfache Fahrt
- im August 2011 drei einfache Fahrten
- im September 2011 sieben einfache Fahrten- im Oktober 2011 vier einfache Fahrten
- im November 2011 vier einfache Fahrten
- im Dezember 2011 fünf einfache Fahrten
- im Januar 2012 zwei einfache Fahrten
- im Mai 2012 eine einfache Fahrt am 29. Mai 2012
- im Juni 2012 vier Heimfahrten
- im Juli 2012 drei Heimfahrten durchgeführt.
Der Kläger hat dagegen unter dem 26. September 2012 Widerspruch eingelegt. Die Begründung, für gewisse Zeiten habe keine auswärtige
Unterkunft stattgefunden, habe nichts mit den tatsächlich entstandenen Fahrtkosten zu tun. Mit Schreiben vom 13. Januar 2013
hat er ergänzend ausgeführt, für einzelne Monate, beispielsweise den August 2012 sei keine Abrechnung erfolgt. Außerdem habe
er nach längerer Krankheit auf Veranlassung des Trägers der Maßnahme, das Zimmer im Internat räumen müssen und hierzu Fahrten
unternehmen müssen. Mit Widerspruchsbescheid vom 31. Januar 2013 hat die Beklagte den Widerspruch zurückgewiesen. Die Beklagte
hat in der Folge nochmals Auskünfte des Berufsförderungswerkes eingeholt. Hiernach ergibt sich Folgendes:
- Februar, März u. April 2012 wegen Krankheit keine Teilnahme
- August 2012 Teilnahme vom 20. bis 24. August / ab 28. August krank
- September 2012 wegen Krankheit keine Teilnahme
- Zimmerberäumung im Februar und bei Abbruch der Maßnahme im November 2012.
Das Sozialgericht hat am 14. März 2013 einen Erörterungstermin durchgeführt. Nach Konfrontation mit dem Widerspruchsbescheid
hat der Kläger angegeben, diesen nicht erhalten zu haben und seinen Antrag auf eine kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage
umgestellt. Mit Schriftsatz vom 31. März 2013 hat der Kläger ausgeführt, nach dem Gesetzeswortlaut sei die Bewilligung von
zwei Familienheimfahrten im Monat der Regelfall. Maßgebend sei nicht die Verweildauer am Ort der Maßnahme, sondern die Anzahl
der erforderlichen Fahrten, z. B. wegen Arztbesuchen am Heimatort oder wegen Ausstatten und Beräumung der Unterkunft im Internat
des Berufsförderungswerkes. Für Februar, August, September und Mai 2012 habe er keine Bescheide erhalten. Im Übrigen sei eine
Pauschale von 0,20 Euro pro gefahrenen Kilometer zu niedrig. Mit zwei Bescheiden vom 29. Juli 2013 hat die Beklagte die Kostenübernahme
für Februar und September 2012 abgelehnt. In diesen Monaten habe der Kläger an der Maßnahme nicht teilgenommen. Mit Bescheid
vom gleichen Tag hat sie für August 2012 90,80 Euro für zwei einfache Fahrten bewilligt. Mit weiterem Bescheid vom 14. Oktober
2013 hat sie anlässlich der Zimmerberäumung im Februar und November 2012 für vier einfache Fahrten 191,60 Euro bewilligt.
In der mündlichen Verhandlung vom 23. Juli 2015 hat der Kläger mitgeteilt, dass seine damals 30 Jahre alte Tochter mit ihren
zwei Kindern während der Maßnahme in seinem Haus gewohnt habe. Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 23. Juli 2015
abgewiesen und die Berufung zugelassen. Der Kläger habe gegen den Beklagten keinen Anspruch auf Neubescheidung. Der Kläger
sei durch die angefochtenen Bescheide jedenfalls nicht beschwert. Er habe keinen Anspruch auf Fahrtkosten für Familienheimfahrten.
Er sei alleinstehend gewesen. Mithin habe es keine familiären Bezugspersonen als Anknüpfungspunkt für Familienheimfahrten
gegeben. Unbeachtlich sei in diesem Zusammenhang, dass die damals 35 Jahre alte Tochter und ihre Kinder während der Maßnahme
im Haus des Klägers gelebt haben. Aus der Sicht des Klägers habe es sich nicht um den gemeinsamen Haushalt mit den Eltern
oder die Wohnung mit dem Partner gehandelt. Der Kläger hat dagegen Berufung eingelegt und auf sein erstinstanzliches Vorbringen
Bezug genommen.
Der Kläger beantragt (sinngemäß),
das Urteil des Sozialgerichts Nordhausen vom 23. Juli 2015 aufzuheben sowie die Bescheide vom 3. September 2012 in Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 31. Januar 2013 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm anlässlich der Leistungen zur
Teilhabe am Arbeitsleben im Berufsförderungswerk Se. für die Zeit vom Juni 2011 bis November 2012 höhere Fahrtkosten zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für richtig.
Entscheidungsgründe:
Das Gericht konnte trotz Ausbleibens des Klägers entscheiden, weil er ausweislich der Postzustellungsurkunde auf Bl. 119 a
der Gerichtsakte ordnungsgemäß vom Termin benachrichtigt und über die Folgen des Nichterscheinens belehrt wurde.
Die Berufung ist zulässig. Insbesondere ist sie statthaft, denn der Senat ist nach §
144 Abs.
3 SGG an die Zulassung der Berufung durch das Sozialgericht gebunden. Die Berufung ist aber unbegründet. Die zuletzt vom Kläger
erhobene, kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach §
54 Abs.
1 und 4
SGG ist zulässig. Nach Erlass des Widerspruchsbescheides kann eine ursprüngliche erhobene Untätigkeitsklage gemäß §
99 Abs.
1 SGG grundsätzlich in eine kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage/Leistungsklage nach §
54 Abs.
1 S. 1
SGG geändert werden. Die Statthaftigkeit der gewillkürten Klageänderung im Rahmen des Übergangs von der Untätigkeitsklage zur
Anfechtungs- und Verpflichtungsklage/Leistungsklage macht die geänderte Klage allerdings nicht ohne weiteres zulässig. Für
die Klageänderung nach §
99 Abs.
1 SGG müssen vielmehr sämtliche Sachurteilsvoraussetzungen gegeben sein. Hierzu gehört auch die Einhaltung der Monatsfrist des
§
87 Abs.
1 und
2 SGG. Ob die Einhaltung der Frist entbehrlich ist, weil ein Fall des §
96 SGG vorliegt, kann hier offen bleiben (vgl. zum Ganzen: LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 18. Oktober 2007 - L 7 SO 4334/06).
Der Kläger hat die Frist gewahrt.
Die Monatsfrist des §
87 Abs.
1 und
2 SGG beginnt mit der Bekanntgabe zu laufen. Nach § 37 Abs. 2 S. 1 SGB X gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt bei der Übermittlung durch die Post als am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als
bekannt gegeben. Diese Zugangsfiktion gilt nach § 37 Abs. 2 S. 3 SGB X nicht, wenn der Verwaltungsakt gar nicht oder zu einem späterem Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den
Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt des Zuganges nachzuweisen. Der Kläger hat im Erörterungstermin vom 14. März
2013 angegeben, er habe den Widerspruchsbescheid vom 31. Januar 2013 nicht erhalten. Jedenfalls wenn der Zugang des Verwaltungsaktes
an sich verneint wird, genügt einfaches Bestreiten (vgl. BSG, Urteil vom 26. Juli 2007 - B 13 R 4/06 R). Damit war die Umstellung der Klage im Erörterungstermin fristgerecht.
Richtige Klageart ist vorliegend die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach §
54 Abs.
1 und 4
SGG. Bei der hier streitigen Fahrtkostenerstattung nach §
53 SGB IX a. F. handelt es sich grundsätzlich um einen gebundenen Rechtsanspruch (hierzu weiter unten). Unschädlich ist es, dass der
Kläger vor dem Sozialgericht beantragt hat, die Beklagte zu verpflichten, ihn unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts
neu zu bescheiden. Nach §
123 SGG entscheidet das Gericht über die Anträge ohne an den Wortlaut gebunden zu sein. Maßgebend ist grundsätzlich das tatsächlich
gewollte, das im Wege der Auslegung zu ermitteln ist. Bei verständiger Würdigung strebt der Kläger die Verurteilung der Beklagten
zur Leistung und nicht nur eine Neubescheidung an.
Dagegen werden die Bescheide vom 29. Juli 2013 und 14. Oktober 2013 nicht vom Rechtsstreit erfasst. Sie waren im Zeitpunkt
der Klageumstellung im März 2013 noch nicht existent. Sie sind auch nicht nach §
96 SGG zum Gegenstand des Klageverfahrens geworden. Sie ersetzen bzw. ändern die angefochtenen Bescheide vom 3. September 2012 in
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Januar 2013 nicht, denn sie regeln andere Zeiträume.
Der Kläger hatte einen Anspruch auf die durchgeführte Maßnahme zur Teilhabe am Arbeitsleben aus §
9 SGB VI i. V. m. §
33 SGB IX. Er erfüllte die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nach §
11 Abs.
1 SGB VI. Die persönlichen Voraussetzungen nach §
10 Abs.
1 Nr.
1 u. Nr.
2 b SGB VI waren ebenfalls erfüllt. Nach den medizinischen Befunden konnte der Kläger die bisherige Tätigkeit - der erlernte Beruf eines
Gas- und Wasserinstallateurs - nicht mehr ausüben. Nach dem Ergebnis der Arbeitserprobung/Berufsfindung im Berufsförderungswerk
Se. war die angedachte Umschulung zum Industriekaufmann zur Wiedereingliederung erfolgversprechend. In der Konsequenz hat
die Beklagte denn auch die Umschulung zum Industriekaufmann bewilligt.
Die Leistungen zur Teilhabe werden außer nach §
28 SGB VI a. F. durch das Übergangsgeld ergänzt durch Leistungen nach §
44 Abs.
1 Nr.
2 bis 6 und Abs.
2 SGB IX sowie nach den Bestimmungen der §§
53 u. 54
SGB IX a. F. Hierzu gehören auch Kostenübernahme für Familienheimfahrten.
Der Kläger ist von Familienheimfahrten nicht ausgeschlossen. Dies folgt aber nicht schon aus dem Grundbescheid vom 25. Juli
2011. Hier hat die Beklagte lediglich einen Fahrtkostenanspruch dem Grunde nach anlässlich der Umschulung anerkannt. Sie hat
aber nicht bindend einen Anspruch auf Familienheimfahrten anerkannt. Insoweit gibt der Bescheid lediglich den Gesetzeswortlaut
wieder. Nach §
53 Abs.
2 S. 1
SGB IX a. F. werden während der Ausführung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben Reisekosten auch für im Regelfall zwei Familienheimfahrten
je Monat übernommen. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts hat der Kläger "Familienheimfahrten" im Sinne des §
53 Abs.
2 S. 1
SGB IX unternommen.
Hierfür spricht der Normzweck. Die ergänzenden Leistungen sind darauf ausgerichtet, den Rehabilitanden möglichst auf Dauer
in Arbeit, Beruf und Gesellschaft einzugliedern. Im Gegenzug ist der Rehabilitand verpflichtet bei Durchführung der Maßnahme
nach Kräften mitzuwirken (vgl. BSG, Urteil vom 21. November 2011 - B 8 KN 3/01 R zu § 19 RehaAnglG). Vom Normzweck her verhält es sich für den Senat so, dass mit der Bewilligung von Kosten für "Familienheimfahrten" bei auswärtiger
Unterbringung während der Teilhabe - wie hier - die Aufrechterhaltung des Kontaktes zum Mittelpunkt der Lebensinteressen/dem
Lebensmittelpunkt ermöglicht werden soll. Hierdurch soll der angestrebte Erfolg der Maßnahme erreicht werden bzw. die Bereitschaft
zur Teilnahme an der Maßnahme gestärkt werden. Ausgehend von dieser Prämisse kann es aber keinen Unterschied machen, ob der
Versicherte verheiratet ist / in eheähnlicher Lebensgemeinschaft / in gleichgeschlechtlicher Partnerschaft / in eingetragener
Lebensgemeinschaft oder aber alleinstehend ist. Dies käme einer schwer vertretbaren Ungleichbehandlung nahe (vgl. zur doppelten
Haushaltsführung eines Nichtverheirateten im Rahmen des §
9 Abs.
1 S. 3 Nr.
5 EStG: BFH, Urteil vom 5. Oktober 1994 - VI R 62/90).
Ob ein Wohnort gegenüber der Wohnung am Beschäftigungsort der Lebensmittelpunkt ist, erfordert eine Abwägung und Bewertung
aller Umstände des Einzelfalls. Indizien können sich aus dem Vergleich von Größe und Ausstattung der Wohnungen sowie Dauer
und Häufigkeit der Aufenthalte in den Wohnungen ergeben. Dort, wo sich der Arbeitnehmer - abgesehen von den Zeiten der Arbeitstätigkeit
und ggf. Urlaubsfahrten - regelmäßig aufhält, ist auch der Ort des Lebensmittelpunktes anzunehmen, den er fortwährend nutzt
und von dem aus er sein Privatleben führt. Von Bedeutung sind auch die Dauer des Aufenthaltes am Beschäftigungsort, die Entfernung
beider Wohnungen und die Anzahl der Heimfahrten. Gewicht kommt auch dem Umstand zu, zu welchem Wohnort die engeren persönlichen
Beziehungen bestehen und ob die Dauer des Verweilens am Beschäftigungsort überwiegt (vgl. zum Ganzen: FG München, Urteil vom
29. April 2015 - 1 K 343/13).
Ausgehend hiervon hatte der Kläger seinen Lebensmittelpunkt auch während der Umschulung in So ... Dort wohnte er sein ganzes
Leben lang, besaß ein Haus und hatte Kontakt zu seiner Tochter und Enkelkindern (hierzu sogleich) sowie seinem Vater. Während
der Teilhabe verbrachte er fast jedes Wochenende in So ... Am Ort der Teilhabe war er lediglich internatsmäßig untergebracht.
Bei Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft ist schwerlich davon auszugehen, dass an diesem Ort der Lebensmittelpunkt
begründet wird. Im Übrigen war die Maßnahme auf zwei Jahre befristet, was ebenfalls gegen die Begründung eines neuen Lebensmittelpunktes
spricht.
Im Weiteren hat der Kläger aber auch unter einem anderem Gesichtspunkt Familienheimfahrten unternommen. Im Hinblick auf den
Normzweck ist der Begriff der "Familie" weit auszulegen und umfasst jegliche Beziehung enger und persönlicher Verbundenheit
(vgl. Schlette in Schlegel/Voelzke jurisPK-
SGB IX, 3. Auflage 2018, zur identischen Nachfolgenorm des §
73 SGB IX Rn. 13). Umgekehrt werden rein formal-verwandtschaftliche Beziehungen ohne Näheverhältnis nicht erfasst (vgl. BFH; ebenda).
Die Tochter des Klägers und sein Enkelkinder wohnten während der Umschulung im Haus des Klägers. Sie sind "Familie" des Klägers
im Sinne des §
53 Abs.
2 SGB IX, jedenfalls wenn sie mit ihm - wie vorliegend - einen Haushalt begründen. Hierzu kann auch an die Wertung in § 9 Abs. 5 SGB II angeknüpft werden. Danach wird vermutet, dass Hilfebedürftige die mit Verwandten oder Verschwägerten in einem Haushalt leben,
Leistungen von diesen erhalten, soweit diese finanziell hierzu in der Lage sind. Hintergrund ist, dass der Gesetzgeber davon
ausgeht, dass wegen der familiären Verbundenheit und sittlicher Verpflichtung eine Unterstützung erfolgt (vgl. Mecke in Eicher/Luik,
Kommentar zum
SGG, 4. Auflage 2017, §
9 Rn. 84 f.) Das vom Senat gefundene Ergebnis wird durch §
53 Abs.
2 S. 2
SGB IX gestützt. Danach können anstelle der Kosten für die Familienheimfahrten Reisekosten von Angehörigen vom Wohnort zum Aufenthaltsort
des Leistungsempfängers und zurück übernommen werden. Nach § 16 Abs. 5 Nr. 3 SGB X zählen zu den Angehörigen aber auch Verwandte in gerader Linie.
Sofern das Sozialgericht - wohl unter Berufung auf Schlette in Schlegel/Voelzke, ebenda - als maßgebend lediglich den Haushalt
der Eltern oder das Wohnen mit dem Partner erachtet, greift dies nach der Ansicht des Senats zu kurz. Dies widerspricht zum
einen der Aussage, dass der Begriff der Familie weit auszulegen ist. Zum anderen führt diese enge Betrachtungsweise zu schwer
zu rechtfertigenden Ergebnissen. So würde eine alleinstehende Mutter, die mit ihrem Bruder und ihrem minderjährigen Kind in
einem Haushalt lebt, von der Regelung des §
53 Abs.
2 S. 1
SGB IX a. F. ausgeschlossen sein. Augenscheinlich kann dies vom Gesetzgeber nicht gewollt sein. Die Kommentierung ist nach der Ansicht
des Senats insoweit dahingehend auszulegen, dass Alleinstehende nur dann ausgeschlossen sein sollen, wenn sie am Ort des Lebensmittelpunktes
einen Haushalt ohne weitere familiäre Bezugsperson führen.
Grundsätzlich bestehen keine Bedenken, dass die Beklagte - entsprechend §
53 Abs.
2 S. 1
SGB IX die Kosten (nur) für zwei Familienheimfahrten übernommen hat, sofern die Maßnahme einen vollen Monat dauert. Abzustellen
ist dabei auf den Kalendermonat. Hierfür spricht schon der Wortlaut des §
53 SGB IX a. F. (vgl. LSG Berlin, Urteil vom 25. Juni 2004 - L 10 AL 93/02). Etwas anderes ergibt sich auch nicht, wenn man mit der Beklagten auf den Zeitmonat abstellt, der mit 30 Tagen anzusetzen
ist. Aus dem Wortlaut des §
53 Abs.
2 SGB IX "werden übernommen" folgt weiter, dass es sich grundsätzlich um eine gebundene Entscheidung handelt. Aus der Formulierung
"im Regelfall" folgt zunächst nichts anderes. Sie sagt aus, dass in atypischen Fällen ein Abweichen nach oben oder unten möglich
sein soll. Dabei ist die Entscheidung, ob ein atypischer Fall vorliegt, nicht Teil der Ermessensentscheidung, sondern dieser
vorgelagert und von den Gerichten voll überprüfbar (vgl. BSG, Urteil vom 26. August 1994 - 13 RJ 29/93 zum atypischen Fall im Sinne des § 48 Abs. 1 S. 2 SGB X).
Ein atypischer Fall liegt vor, wenn aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls eine signifikante Abweichung zum Normalfall
vorliegt. Begründet kann dies etwa sein durch stark erhöhte Fahrtkosten wegen der Entfernung vom Wohnort zum Ort der Maßnahme
oder durch pflegebedürftige Angehörige im Haushalt, was erhöhte Präsenz erforderlich macht. Derartige besondere Einzelfallumstände
liegen hier nicht vor.
Sofern der Beklagte eine Familienheimfahrt bewilligt hat bei einer Dauer der Maßnahme für mindestens 14 Tage im Monat ist
dies nicht zu beanstanden. Es bedarf dann keiner weiteren Heimfahrt, denn der Rehabilitand kann den Kontakt am Ort des Lebensmittelpunktes
in der übrigen Zeit des Monats pflegen (vgl. LSG Berlin, ebenda). Aus dem gleichen Grund besteht kein Anspruch auf Bewilligung
einer Familienheimfahrt, wenn die Maßnahme weniger als 14 Tage im Monat andauert.
Übertragen hierauf erweisen sich die hier angefochtenen Bescheide vom 3. September 2012 als rechtmäßig. Im Juni 2011 dauerte
die Maßnahme weniger als 14 Tage, weswegen die Kosten für eine Heimfahrt nicht zu bewilligen waren. Im Juli, August und Dezember
2011 dauerte die Maßnahme wegen Ferien mindestens 14 Tage, aber nicht einen vollen Kalendermonat. Hiernach besteht Anspruch
auf eine Familienheimfahrt und eine einfache Fahrt für An- bzw. Abreise. Für die Monate September bis November 2011 hat die
Beklagte Kosten für zwei Familienheimfahrten übernommen. Im Januar 2012 absolvierte der Kläger zwei einfache Fahrten. Diese
Kosten hat die Beklagte bewilligt. Gleiches gilt für Mai 2012 für die einfache Fahrt am 29. Mai 2012 bei Wiederaufnahme der
Maßnahme am 29. Mai 2012.
Der Vortrag des Klägers, die im Juni und Juli 2012 geltend gemachten Heimfahrten wegen angeblich unzureichendem Standard der
Betten im Internat des Berufsförderungswerks mit einhergehenden Rückenbeschwerden und der Notwendigkeit am Wochenende das
häusliche Bett zur Linderung der Beschwerden aufzusuchen, ist nicht im Ansatz belegt. Überdies ist der Vortrag nicht nachvollziehbar.
Bei angeblich mangelhafter Qualität der Betten hätte der Kläger schon mit Beginn der Maßnahme im Juni 2011 jedwedes Wochenende
das häusliche Umfeld zur Linderung der Beschwerden aufsuchen müssen.
Die Entscheidungen der Beklagten sind hinsichtlich der konkret bewilligten Höhe der Fahrtkosten rechtmäßig.
Nach §
53 Abs.
4 SGB IX a. F. werden Fahrtkosten in Höhe des Betrages zugrunde gelegt, der bei Benutzung eines regelmäßig verkehrenden öffentlichen
Verkehrsmittels der niedrigsten Beförderungsklasse des zweckmäßigsten Verkehrsmittels zu zahlen ist, bei Benutzung sonstiger
Verkehrsmittel - wie vorliegend - in Höhe der Wegstreckenentschädigung nach § 5 Abs. 1 BRKG. Die einfache Wegstrecke zwischen der Wohnung des Klägers in So. und dem Ort der Maßnahme Se. beträgt 227 Kilometer. Bei
einer während der Zeit der Teilhabe vorgesehenen Pauschale pro Entfernungskilometer in Höhe von 0,20 Euro nach § 5 Abs. 1 BRKG errechnet sich für die einfache Fahrt ein Betrag von 45,40 Euro. Dies hat die Beklagte in den angefochtenen Bescheiden umgesetzt.
Im Gegensatz zu dem Kläger hat der Senat keine Zweifel, dass die Pauschale von 0,20 Euro pro gefahrenen Kilometer für die
einfache Wegstrecke ausreichend bemessen ist. Jedenfalls haben weder das BSG noch das BVerwG in jüngerer Zeit nur im Ansatz erwogen, dass die Pauschale verfassungswidrig ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§
183,
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision nach §
160 Abs.
2 SGG liegen nicht vor.