Auslegung des Begriffs "sofort Leistungen benötigt" im Sozialversicherungsabkommen mit der Republik Jugoslawien
Gründe:
I
Die bei der beklagten Betriebskrankenkasse versicherte Klägerin ließ sich während eines Aufenthalts in ihrer Heimat Serbien-Montenegro
mit einer neuen Über- und einer neuen Teilunterkieferprothese für insgesamt 19 Zähne versorgen. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland
legt sie der Beklagten im Juli 2002 die Rechnung hierfür (970 EUR) vor und beantragte die Erstattung von zuletzt 582 EUR.
Die Beklagte lehnte die Kostenerstattung ab, weil Kosten für eine Auslandskrankenbehandlung nur in Notfällen zu erstatten
seien. Um einen solchen habe es sich hier nicht gehandelt. Widerspruch und Klage blieben ohne Erfolg. Im Berufungsverfahren
hat die Klägerin vorgetragen, es habe sich zu schätzungsweise 20 vH um eine Notfallbehandlung gehandelt. Dieser Betrag sei
nach Abkommensrecht zu erstatten. Vom Restbetrag seien aus Gründen der Gleichbehandlung und auf Grund des Wirtschaftlichkeitsgebots
50 vH zu erstatten. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen: Eine Kostenerstattung nach §
18 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB V) komme nicht in Betracht, weil die zahnärztliche Behandlung im Geltungsbereich des EG-Vertrages und des EWR-Abkommens möglich
gewesen wäre. Ein Anspruch auf Kostenübernahme nach dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sozialistischen
Föderativen Republik Jugoslawien über Soziale Sicherheit vom 12. Oktober 1968 (BGBl 1969 II, S 1438; nachfolgend: Sozialversicherungsabkommen)
scheide ebenfalls aus, weil während des Heimataufenthalts der Klägerin eine Notfallbehandlung nicht stattgefunden habe.
Das LSG hat die Revision in seinem Urteil vom 24. August 2005 nicht zugelassen. Hiergegen richtet sich die Beschwerde. Die
Klägerin macht im Rahmen einer Grundsatzrüge geltend, dass der Begriff der "unaufschiebbaren Leistung" iS von §
13 Abs
3 SGB V nicht mit der Formulierung im maßgeblichen Sozialversicherungsabkommen gleichgesetzt werden dürfe, wonach eine Person bei
einer Auslandsbehandlung leistungsberechtigt sei, die wegen ihres Zustandes "sofort Leistungen benötigt". Setze man die Begriffe
gleich, führe dies zu einer Benachteiligung von Versicherten, die sich in Jugoslawien aufhalten. Es könne nicht sein, dass
jemand, der sich vorübergehend in Jugoslawien aufhalte und dort erkranke, gezwungen sei, nach der Notfallbehandlung die Rückreise
nach Deutschland anzutreten.
II
Die Beschwerde ist jedenfalls unbegründet. Der Rechtsstreit wirft keine ungeklärte grundsätzliche Rechtsfrage auf. Eine Rechtsfrage
ist dann nicht iS von §
160 Abs
2 Nr
1 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) klärungsbedürftig, wenn sich ihre Beantwortung unmittelbar aus dem Gesetz ergibt und "praktisch außer Zweifel" steht (vgl
BSGE 40, 40, 42 = SozR 1500 § 160a Nr 4). Ein solcher Fall liegt hier vor.
Nach Art 4 Abs 1 Satz 1 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sozialistischen Föderativen Republik
Jugoslawien über Soziale Sicherheit vom 12. Oktober 1968 (BGBI 1969 II, S 1438), das nach dem Zerfall der Sozialistischen
Föderativen Republik Jugoslawien nach der Bekanntmachung vom 20. März 1997 (BGBI II 961) auf die Bundesrepublik Jugoslawien
weiter anzuwenden ist, gilt Folgendes: Die Rechtsvorschriften der Abkommensstaaten, nach denen die Entstehung von Ansprüchen
auf Leistungen oder die Gewährung von Leistungen vom Inlandsaufenthalt abhängen, gelten nicht für die Angehörigen der Vertragsstaaten,
die sich im Gebiet des jeweils anderen Vertragsstaats aufhalten. Diese Regelung enthält den Grundsatz der uneingeschränkten
Leistungsgewährung in dem anderen Vertragsstaat (Denkschrift der Bundesregierung zum Abkommen, BT-Drucks V/4124; vgl hierzu
BSG SozR 3-2200 § 182 Nr 12 S 51). Leistungen wegen Krankheit wären nach dem Abkommen also grundsätzlich auch dann zu gewähren,
wenn die Behandlungsbedürftigkeit in Jugoslawien eintritt. Dieser Grundsatz wird indessen durch Art 14 Abs 1 Buchst b des
Abkommens eingeschränkt. Danach gilt Art 4 Abs 1 des Abkommens für eine Person, "bei der der Versicherungsfall während des
vorübergehenden Aufenthalts im Gebiet des anderen Vertragsstaates eingetreten ist, nur, wenn sie wegen ihres Zustandes sofort
Leistungen benötigt".
Es steht außer Zweifel, dass mit der Formulierung "sofort Leistungen benötigt" der Grundsatz der uneingeschränkten Leistungsgewährung
auch im Gebiet der Republik Jugoslawien nicht unterhalb derjenigen Schwelle angeordnet werden sollte, auf Grund deren sich
Versicherte in Deutschland Leistungen außerhalb des vorgesehenen Leistungsweges beschaffen und hierfür Kostenerstattung verlangen
können. Weder die Vorschrift der bis Ende 1988 maßgeblichen §§ 182, 184
Reichsversicherungsordnung (
RVO) noch §
13 Abs
3 Satz 1
SGB V verwenden den Begriff der Notfallbehandlung. Vielmehr fand sich dieser nur in § 368d Abs 1 Satz 2
RVO bzw findet sich seit 1989 in §
76 Abs
1 Satz 2
SGB V. Im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung ist seit langem anerkannt, dass die Kosten für Leistungen, die sich der
Versicherte in "dringenden Fällen" selbst beschafft hat, von den Krankenkassen zu erstatten sind. Der "dringende Fall" wurde
vom Bundessozialgericht dabei ua beispielhaft dahin umschrieben, dass zB ein schwerer Unfall vorliegt, der die "sofortige"
Krankenhausaufnahme erfordert (vgl BSGE 19, 21, 22 = SozR Nr 14 zu § 184
RVO; BSGE 19, 270, 272 = SozR Nr 2 zu § 368d
RVO). Diese Formulierung wurde im Abkommen aufgegriffen. Gründe dafür, die Formulierung in Art 14 Abs 1 Buchst b des Sozialversicherungsabkommens "sofort Leistungen benötigt", anders auszulegen, als den Begriff der unaufschiebbaren
Leistung bzw der "sofort benötigten" Leistung in §
13 Abs
3 Satz 1
SGB V, sind nicht ersichtlich. An anderer Stelle (vgl SozR 3-2500 §
13 Nr 22) hat der erkennende Senat selbst den Begriff des Notfalles iS des §
76 Abs
1 Satz 2
SGB V als eine Situation umschrieben, bei der ein unvermittelt aufgetretener Behandlungsbedarf "sofort" befriedigt werden muss.
Das LSG hat die Erforderlichkeit einer Notfallbehandlung und damit der Sache nach auch der Notwendigkeit der "sofortigen"
Durchführung der bei der Klägerin in deren Heimat durchgeführten Versorgung mit Zahnersatz bzw der Erneuerung des vorhandenen
Zahnersatzes verneint. Es hat dazu ausgeführt: Selbst wenn die Klägerin Zahnschmerzen gehabt haben sollte, hätte eine vollständige
Gebisssanierung ohne Gesundheitsgefährdung auch nach ihrer Rückkehr nach Deutschland erfolgen können. Bei Zahnschmerzen vor
Ort wäre allenfalls die provisorische Versorgung eines Zahnes notwendig gewesen, keinesfalls aber eine endgültige Maßnahme.
Bezüglich des Zahnersatzes komme als Notfallleistung ggf nur eine Anpassung oder Reparatur, nicht aber die Neuanfertigung
einer Prothese in Betracht. Diese Ausführungen lassen Rechtsfehler nicht erkennen. Gegen die den Senat gemäß §
163 SGG bindenden Tatsachenfeststellungen selbst erhebt die Beschwerde keine Revisionszulassungsgründe iS von §
160 Abs
2 Nr
3 SGG.
Von einer weiteren Begründung wird in entsprechender Anwendung von §
160a Abs
4 Satz 3 Halbsatz 2
SGG abgesehen. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von §
193 SGG.