Überprüfung der Ermessensentscheidung des Berufungsgerichts zur Zurückweisung der Berufung ohne mündliche Verhandlung im Revisionsverfahren;
Beachtung der Europäischen Menschenrechtskonvention im vereinfachten Berufungsverfahren, Besetzung der Richterbank
Gründe:
I
Im Streit ist die Zahlung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII).
Den Antrag des Klägers, ihm aus Anlass einer Rehabilitationsmaßnahme einen Vorschuss auf Geldleistungen zu zahlen sowie die
Fahrkosten zu übernehmen, lehnte der Beklagte ab (Bescheid vom 14. Dezember 2005; Widerspruchsbescheid vom 4. Mai 2006). Zur
Begründung führte er aus, dass die für den Kläger zuständige Krankenkasse alle im Zusammenhang mit der Maßnahme erforderlichen
Kosten zu tragen habe. Das Sozialgericht (SG) Detmold hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 9. Februar 2007, zugestellt am 17. Februar 2007).
Mit einem beim SG am 3. März 2007 eingegangenen Schreiben vom 26. Februar 2007 hat der Kläger die Erstattung diverser außergerichtlicher Kosten
begehrt. Auf Nachfrage des SG, ob dieses Schreiben als Berufung gegen den Gerichtsbescheid des SG anzusehen sei, hat der Kläger mit einem beim SG am 16. März 2007 eingegangenen Schreiben "Berufung im Rechts-Streit der LBS Westdeutsche Landesbausparkasse gegen Herrn G.
S. (Bausparer)" gegen ein offenbar am 28. Februar 2007 ergangenes Urteil des Amtsgerichts Höxter eingelegt. Nach Weiterleitung
des Vorgangs an das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat der Kläger auf Nachfrage des LSG vom 2. April 2007 mit
einem am 19. April 2007 eingegangenen Schriftsatz vom 18. April 2007 "Berufung" eingelegt. Das LSG hat die Berufung des Klägers
als unzulässig verworfen, weil sie nicht innerhalb der am 19. März 2007 (Montag) endenden Berufungsfrist eingelegt worden
sei. Die vom Kläger bis zu diesem Zeitpunkt vorgelegten Schriftsätze nebst Anlagen könnten nicht als Überprüfung des erstinstanzlichen
"Urteils" und damit nicht als Berufung ausgelegt werden (Beschluss vom 13. August 2007).
Mit der Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger Verfahrensfehler. Das LSG habe ohne ehrenamtliche Richter und damit in fehlerhafter
Besetzung durch Beschluss entschieden. Daneben habe es gegen die Grundsätze des rechtlichen Gehörs, des fairen Verfahrens
sowie des effektiven Rechtsschutzes verstoßen.
II
Die Beschwerde ist zulässig und begründet und führt gemäß §
160a Abs
5 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung an das LSG.
Die Beschwerde des Klägers ist zulässig. Sie genügt hinsichtlich der geltend gemachten Verfahrensfehler den Darlegungserfordernissen
des §
160a Abs
2 Satz 3 iVm §
160 Abs
2 Nr
3 SGG. Grundsätzlich bedarf es keines weiteren Vortrags zum Beruhen der angegriffenen Entscheidung auf dem Verfahrensfehler, wenn
ein Beschwerdeführer die Verletzung seines Rechts auf mündliche Verhandlung behauptet (vgl Bundessozialgericht [BSG], Beschluss
vom 9. Juni 2004 - B 12 KR 16/02 B).
Die Beschwerde ist auch begründet. Der behauptete Verfahrensfehler liegt vor. Das LSG hätte unter Beachtung des Prozessgrundrechts
auf ein faires Verfahren, zu Wahrung des rechtlichen Gehörs und unter Beachtung von Art 6 Abs 1 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht durch Beschluss nach §
158 Satz 2
SGG, sondern nur aufgrund mündlicher Verhandlung durch Urteil unter Einbeziehung der ehrenamtlichen Richter entscheiden dürfen.
Nach §
158 Satz 2
SGG "kann" die Entscheidung (über die Verwerfung der Berufung als unzulässig) durch Beschluss ergehen. Damit ist dem Berufungsgericht
- insoweit vergleichbar der Regelung des §
153 Abs
4 Satz 1
SGG - Ermessen eingeräumt, durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden. Die Ermessensentscheidung kann im Revisionsverfahren
nur darauf überprüft werden, ob das Berufungsgericht von seinem Ermessen erkennbar fehlerhaft Gebrauch gemacht hat, dh etwa
sachfremde Erwägungen oder eine grobe Fehleinschätzung zu Grunde gelegt hat (vgl zu §
153 Abs
4 Satz 1
SGG BSG, Beschluss vom 9. September 2003 - B 9 VS 2/03 B; BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 13 S 35, 38 mwN). Das ist hier der Fall. Nicht grundlegend anders als im Rahmen von §
153 Abs
4 Satz 1
SGG (vgl dazu BSG, Urteil vom 31. Juli 2002 - B 4 RA 28/02 R; BSG SozR 4-1500 §
153 Nr 1 RdNr 6) ist die Möglichkeit, nach §
158 Satz 2
SGG ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zu entscheiden, eng und in einer für die Beteiligten möglichst schonenden Weise
auszulegen und anzuwenden. Auch die Ausgestaltung des vereinfachten Berufungsverfahrens im
SGG unter Berücksichtigung der Rechtsbehelfe gegen Gerichtsbescheide nach §§
153 Abs
4,
105 Abs
2 SGG ist nach dem Willen des Gesetzgebers allgemein an Art 6 Abs 1 EMRK orientiert und strahlt ebenfalls auf die Ermessensentscheidung nach §
158 Satz 2
SGG aus.
Das BSG hat bereits entschieden, §
158 Satz 2
SGG gelte nicht ohne Einschränkungen auch in solchen Fällen, in denen erstinstanzlich ein Gerichtsbescheid ergangen ist (BSG
SozR 4-1500 § 158 Nr 2 RdNr 9; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 5. Auflage 2008, Kap VIII RdNr
77; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 9. Auflage 2008, §
158 RdNr 6). Vielmehr geböten es das Gebot des fairen und effektiven Rechtsschutzes sowie das Recht auf eine mündliche Verhandlung,
von einer Entscheidung durch Beschluss nach §
158 Satz 2
SGG abzusehen, wenn sich die Berufung gegen einen Gerichtsbescheid richte. Nicht anders als bei §
153 Abs
4 Satz 1
SGG führe die hieraus resultierende Verletzung des §
158 Satz 2
SGG zur unvorschriftsmäßigen Besetzung des Berufungsgerichts nur mit den Berufsrichtern und damit zum Vorliegen eines absoluten
Revisionsgrundes gemäß §
202 SGG iVm §
551 Nr
1 ZPO (vgl zu §
153 Abs
4 Satz 1
SGG: BSG SozR 3-1500 §
153 Nr
13 S 35, 40; BSG, Urteil vom 8. November 2001 - B 11 AL 37/01 R). Dieser Auffassung schließt sich der erkennende Senat ausdrücklich an.
Der Senat hat von der durch §
160a Abs
5 SGG eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht, auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten
Verfahrensfehlers aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Das LSG wird im Berufungsverfahren ggf auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.