Aussetzung der Vollstreckung im sozialgerichtlichen Verfahren; Glaubhaftmachung eines nicht zu ersetzenden Nachteils bei der
Rückgängigmachung einer gegebenenfalls zu Unrecht gewährten Urteilsrente
Gründe:
I. Die Antragsgegnerin (Ag) bezieht seit Mai 2006 Altersrente von der Antragstellerin (ASt). Am 28.09.2006 beantragte die
Ag die Neufeststellung dieser Altersrente. Dies lehnte die ASt mit Bescheid vom 08.11.2006 und Widerspruchsbescheid vom 13.09.2007
ab.
Auf die hierauf erhobene Klage hat das Sozialgericht Würzburg (SG) mit Urteil vom 01.04.2009 die ASt verpflichtet, der Ag die Zeit vom 20.08.1972 bis 10.06.1990 als nachgewiesene Beitragszeiten
anzuerkennen und die Rente ab 01.05.2006 entsprechend neu zu berechnen.
Die ASt hat gegen dieses Urteil Berufung eingelegt und beantragt, das Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen (L 19 R 397/09). Ferner hat sie am 03.11.2009 beantragt, die Vollstreckung des Urteils auszusetzen. Zur Begründung hat sie ausgeführt, die
erstinstanzliche Entscheidung sei unrichtig. Eine eventuell spätere Rückforderung der überzahlten Urteilsrente erscheine aufgrund
der wirtschaftlichen Verhältnisse der Ag nicht erfolgversprechend. Die Ag beziehe derzeit eine Rente in Höhe von 498,03 EUR
brutto monatlich. Eine Verrechnung der Urteilsrente wäre nicht möglich, die zu Unrecht gezahlte Rente könnte nicht zurückgezahlt
werden. Damit wäre der ASt als Verwalterin des Vermögens der Versichertengemeinschaft ein erheblicher Schaden zugefügt, der
nur durch eine Aussetzung der Vollstreckung aus dem Endurteil vermieden werden könne.
Die Ag ist dem Antrag entgegengetreten. Sie hat ausgeführt, dass sie eine Altersrente von etwa 440,00 EUR monatlich beziehe
und gemeinsam mit ihrem Ehemann lebe, der auch nur eine geringe Altersrente beziehe.
II. Der Antrag auf einstweilige Anordnung der Aussetzung der Vollstreckung ist zulässig, jedoch nicht begründet.
Nach §
154 Abs
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) bewirkt die Berufung eines Versicherungsträgers Aufschub, soweit es sich um Beträge handelt die für die Zeit vor Erlass
des angefochtenen Urteils nachgezahlt werden sollen. Keine aufschiebende Wirkung tritt dagegen kraft Gesetzes für die Zeit
nach Erlass des Urteils ein, wenn ein Versicherungsträger verurteilt wurde, dem Kläger eine Rente oder - wie hier - eine höhere
Rente zu zahlen. Der Versicherungsträger ist daher verpflichtet, die sogenannte "Urteilsrente" anzuweisen, die der Kläger
aber wieder zu erstatten hat, wenn das Urteil des Erstgerichts auf die Berufung hin oder in einem eventuellen Revisionsverfahren
aufgehoben wird.
Auf Antrag oder von Amts wegen kann jedoch der Vorsitzende des für die Berufung zuständigen Senats des Landessozialgerichts
gemäß §
199 Abs
2 Satz 1
SGG durch einstweilige Anordnung die Vollstreckung aus dem Urteil aussetzen, soweit - wie hier - die Berufung gemäß §
154 Abs
2 SGG keine aufschiebende Wirkung hat.
Die Entscheidung erfordert eine Folgenabwägung nach entsprechender Maßgabe der Vorschriften der
Zivilprozessordnung. Für das Berufungsverfahren ist grundsätzlich darauf abzustellen, ob die Vollstreckung einen nicht zu ersetzenden Nachteil
bringen würde (Beschluss des LSG Berlin-Brandenburg vom 09.10.2008 - L 3 U 593/08 ER, Beschlüsse des LSG Bayern vom 27.08.2008 - L 2 U 236/08 ER und 27.05.2009 - L 18 R 178/09 ER - mwN). Dem Interesse des Gläubigers entspricht es, dass es grundsätzlich bei der Vollstreckbarkeit des erstinstanzlichen
Urteils verbleibt. Allerdings ist dem Versicherungsträger ausnahmsweise die Möglichkeit eröffnet, darzutun und glaubhaft zu
machen, dass ihm in der konkreten Vollstreckungssituation nicht zu ersetzende Nachteile entstehen. Ausnahmsweise sind bei
der Folgenabwägung die Erfolgsaussichten der Berufung zu berücksichtigen, wenn diese offensichtlich fehlen oder offensichtlich
bestehen (Beschluss des LSG Bayern vom 02.03.2009 - L 17 U 453/08 ER - mwN).
Ein nicht zu ersetzender Nachteil liegt nur vor, wenn der durch die Vollstreckung eingetretene Schaden nachträglich nicht
mehr rückgängig gemacht und nicht ausgeglichen werden kann. Soweit es um die Schwierigkeiten bei der Rückgängigmachung einer
gegebenenfalls zu Unrecht gewährten Urteilsrente geht, sind konkrete Tatsachen geltend und glaubhaft zu machen, die im Falle
der Ag auf solche Schwierigkeiten schließen lassen. Nicht ausreichend ist ein allgemein gehaltener Hinweis auf eine mögliche
Überzahlung, deren Rückerstattung nicht realisierbar wäre.
Ein Nachteil im obengenannten Sinn ist von der ASt nicht glaubhaft gemacht worden. Die ASt hat lediglich allgemein auf eine
eventuell entfallende Rückforderungsmöglichkeit hingewiesen. Sie hat den derzeitig vorhandenen Rentenanspruch der Ag genannt.
Dies allein genügt jedoch nicht, um die Möglichkeit einer Erstattung überzahlter Beträge prüfen zu können. Hierzu sind die
gesamten Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Ag und auch die ihres Ehemanns durch die ASt glaubhaft darzutun (vgl. Beschluss
des LSG Bayern vom 28.04.2009 - L 20 R 299/09 ER). Daran fehlt es vorliegend. Anhaltspunkte dafür, dass das Rechtsmittel in der Hauptsache offensichtlich Aussicht auf
Erfolg hat, bestehen nicht.
Diese Anordnung ist unanfechtbar; sie kann jederzeit aufgehoben werden (§
199 Abs
2 Satz 3
SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.