Zulässigkeit der Anordnung einer Sicherheitsleistung im sozialgerichtlichen Verfahren; einstweiliger Rechtsschutz aufgrund
von rechtlichen Bedenken gegen einen Beitragsnachforderungsbescheid; ausschließliche Ermittlungen des Hauptzollamtes
Gründe
I.
Die Antragstellerin betreibt in A-Stadt bei B-Stadt seit 1999 ein Unternehmen für Kleintransporte aller Art, die Vermittlung
von Transportaufträgen und Vermietung von Kraftfahrzeugen. Sie erbringt insbesondere Transportleistungen für lizenzierte Postdienstleister
wie z.B. die Firmen GLS, DHL, Post Express, UPS, TNT. Zu diesem Zweck schloss sie mit verschiedenen Frachtführern Verträge
ab, die die Transportleistungen als Selbständige ausführen sollten. Unter diesen Frachtführern waren sich überwiegend natürliche
Personen; einige hatten auch Unternehmen in Form von Limiteds oder OHGs gegründet.
Bei der Vertragsgestaltung zwischen den Frachtführern und der Antragstellerin wurde davon ausgegangen, dass die o.g. Postdienstleister
Kunden der Antragstellerin sind. Die Einsatzzeiten der Fahrer waren mit der Antragstellerin abzustimmen. Der jeweilige Frachtführer
war verpflichtet, für die Transportaufträge die zwischen der Antragstellerin und dem Postdienstleister ausgehandelten Preise
in Fahrschecks einzutragen und diese nicht auf eigene Rechnung auszuführen. Die Fahrschecks waren regelmäßig bei der Antragstellerin
abzugeben. Die Abrechnung wurde durch die Antragstellerin vorgenommen. Die Antragstellerin selbst behielt 25-35 % des Umsatzes
des Frachtführers zuzüglich Mehrwertsteuer als Provision ein. Darüber hinaus erhielt die Antragstellerin eine monatliche Aufwandspauschale
in Höhe von 450,00 Euro, die auf den monatlichen Provisionsanspruch voll angerechnet wurde. Den Restbetrag zahlte sie an die
Frachtführer aus.
In der überwiegenden Zahl der Fälle setzten die Fahrer Fahrzeuge ein, die sie bei der Antragstellerin gemietet hatten. Nur
einzelne von ihnen verfügten über eigene Fahrzeuge. Die Fahrer waren nicht im Besitz einer Genehmigung nach § 3 GÜKG für Fahrzeuge
über 3,5 Tonnen zulässiges Gesamtgewicht. Sie besaßen weder die notwendige fachliche Eignung noch die finanzielle Leistungsfähigkeit,
die sie in die Lage versetzt hätte, eine eigene Lizenz zum Betrieb eines Güterkraftverkehrsgeschäftes zu erlangen und die
Voraussetzung der Berufszugangsordnung für den Güterkraftverkehr zu erfüllen.
Mit zahlreichen Fahrern hatte die Antragstellerin zusätzlich auch Arbeitsverträge als Paketsortierer abgeschlossen. Hierfür
erhielten diese ein monatliches Bruttoentgelt von ca. 600 Euro und wurden als Beschäftigte zur Sozialversicherung angemeldet.
Diese Tätigkeiten wurden von den Fahrern ausschließlich auf dem Betriebsgelände der Postdienstleister verrichtet.
Die Paketverladetätigkeiten durch die Fahrer auf die Lieferfahrzeuge erfolgten auf dem jeweiligen Betriebsgelände der Postdienstleister.
Die Disposition selbst erfolgte ebenfalls über die Postdienstleister, von denen die Fahrer gegen Entgelt die elektronischen
Scanner (u.a. auch für die Nachnahmesendungen) zur Paketerfassung erhielten. Die Fahrer waren unter Androhung von Strafen
gezwungen, Imagekleidung der Auftraggeberfirmen (GLS, DHL usw.) zu tragen. Soweit ersichtlich wurden auch drastische finanzielle
Strafen verhängt, wenn die Anweisung und Vorgaben der Postdienstleister nicht befolgt wurden. So überwachten diese beispielsweise
Fahrer mit Videokameras etc.
Nachdem anlässlich einer Schwerpunktkontrolle im gewerblichen Güterverkehr angegeben worden war, dass einer der kontrollierten
Fahrer unter anderem auch für die Antragstellerin als Fahrer tätig war und sich bei ihm der Verdacht einer Scheinselbständigkeit
ergab, führte das Hauptzollamt Ermittlungen durch und beschlagnahmte die Geschäftsunterlagen der Antragstellerin sowie weiterer
mit ihr wirtschaftlich und persönlich verknüpfter Speditionsbetriebe aufgrund eines Durchsuchungsbeschlusses des Amtsgerichts
C-Stadt vom 18.12.2008. Das Hauptzollamt hatte bereits vorab schriftliche Vernehmungsanfragen an 122 Personen geschickt. Nicht
bekannt ist, ob es sich hierbei allein um Fahrer der Antragstellerin handelte. Von 57 Personen hat das Hauptzollamt den Aufenthaltsort
nicht ermittelt. Von 65 Personen wurden verwertbare Fragebögen zurückgesandt und an die Antragsgegnerin zur Erstellung einer
sozialversicherungsrechtlichen Beurteilungweitergeleitet. Die Antragsgegnerin gelangte dabei zu dem Ergebnis, dass die beantworteten
schriftlichen Auskünfte darlegten, dass die tatsächlichen Verhältnisse gänzlich von dem zwischen den Kurierfahrern und den
Beschuldigten vereinbarten schriftlichen Regelungen abwichen.
Auf der Grundlage der Ermittlungen des Hauptzollamtes errechnete die Antragsgegnerin einen Schaden von 548.479,75 Euro an
nicht abgeführten Sozialversicherungsbeiträgen.
Am 18.04.2011 sandte daraufhin die Antragsgegnerin ein Anhörungsschreiben an die Antragstellerin und teilte dieser mit, dass
sie beabsichtige, für den Zeitraum vom 01.01.2002 bis 31.12.2008 Nachforderungen von Sozialversicherungsbeiträgen in Höhe
von insgesamt 299.272,57 Euro zu erheben. Darin enthalten seien Säumniszuschläge in Höhe von 124.832,50 Euro. Die Antragsgegnerin
berief sich auf die Erkenntnisse aus den Ermittlungen des Hauptzollamtes. Sie führte aus, dass es sich bei den Fahrern nicht
um selbständige Unternehmer, sondern um Arbeitnehmer handele, die in einem Beschäftigungsverhältnis mit der Antragstellerin
stünden. Beigefügt war eine Berechnung der Beiträge für die einzelnen Fahrer. Nach verschiedenen Einwendungen von Seiten der
Antragstellerin wartete die Antragsgegnerin gemäß Bereichsleitervermerk vom 05.10.2011 mit Einverständnis des Prüfdienstleiters
vom 7.10.2011 den Abschluss des Strafverfahrens ab. Die Ermittlungen seien umfangreich und teilweise nicht in sich schlüssig
gewesen; es sei davon auszugehen, dass bei allen Personen abhängige Beschäftigungen nachgewiesen werden könnten. Nach Erstellung
einer strafverfahrensrechtlichen Schadensberechnung vom 05.03.2013 erließ die Antragsgegnerin ohne erneute Anhörung am 27.03.2013
den gegenständlichen Bescheid zur "Betriebsprüfung nach § 28 p Abs. 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch i. V. m. § 2 Abs. 2 Schwarzarbeitbekämpfungsgesetz"
für den Prüfzeitraum vom 01.01.2002 bis 31.08.2007. Sie bezifferte nunmehr die Nachforderung mit einem Betrag von 422.346,62
Euro, darin enthalten Säumniszuschläge in Höhe von 190.751,00 Euro.
Die Antragstellerin erhob hiergegen Widerspruch am 18.04.2013.
Darüber hinaus hat sie beim Sozialgericht München die Herstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den streitgegenständlichen
Bescheid der Antragsgegnerin beantragt. Zur Begründung hat sie ausgeführt, dass der Sachverhaltsvortrag der Antragstellerin
bislang nicht ausreichend gewürdigt worden sei. Die Antragstellerin sei außerstande, die geltend gemachte Forderung zu bezahlen.
Sie müsse einen Insolvenzantrag stellen.
Das Sozialgericht hat mit Beschluss vom 03.06.2013 die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 27.03.2013
bis zum Abschluss des Vorverfahrens hergestellt unter der Bedingung, dass die Antragstellerin eine selbstschuldnerische, unwiderrufliche
und unbefristete Bürgschaft, unter Verzicht auf die Einrede der Anfechtbarkeit, Aufrechenbarkeit und Vorausklage gemäß §§
770,
771 BGB, eines der deutschen bzw. europäischen Bankenaufsicht unterliegenden Geldinstitutes in Höhe von 231.595,00 Euro vorliegt.
Die aufschiebende Wirkung trete ab dem Zeitpunkt der Vorlage ein; die Verpflichtung aus der Bürgschaft ende mit Rückgabe der
Bürgschaftsurkunde.
Zur Begründung hat das Sozialgericht im Wesentlichen ausgeführt, dass nach summarischer Prüfung des Falles eine offensichtliche
Rechtswidrigkeit des streitgegenständlichen Bescheides nicht gesehen werde. Es spreche mehr für als gegen die Rechtmäßigkeit
des angegriffenen Bescheides. Insbesondere die sehr umfangreichen Ermittlungen des Hauptzollamtes, die auch vielfache Vernehmungen
und Befragungen der Kurierfahrer enthalten, seien durch die im einstweiligen Rechtsschutz vorgetragenen Gegenargumente nicht
hinreichend entkräftet. Die Höhe der Bürgschaft orientiere sich an den reinen Beiträgen, die Säumniszuschläge seien außer
Acht geblieben. Dies trage der finanziellen Belastung der Antragstellerin Rechnung.
Hiergegen hat die Antragstellerin Beschwerde eingelegt. Sie ist der Auffassung, dass die Frachtführer bei ihr nicht in einem
Beschäftigungsverhältnis gestanden seien. Zudem hätte die sofortige Beitreibung der gesamten Forderung ihre Insolvenz zu Folge.
Die geforderte Bankbürgschaft könne sie in Anbetracht ihrer finanziellen Situation nicht beibringen.
Der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin hat am 17.10.2013 telefonisch mitgeteilt, dass die Antragstellerin über keine
Erlaubnis nach dem
Arbeitnehmerüberlassungsgesetz verfüge. Auf Nachfrage des Gerichts hat die Antragstellerin nachgewiesen, dass sie bereits im März 2013 einen Betrag in Höhe
von 41.000 Euro auf die streitgegenständliche Nachforderung gezahlt hat. Außerdem hat die Antragstellerin eine eidesstattliche
Versicherung ihres Steuerberaters vom 18.10.2013 vorgelegt, wonach für den Fall der Vollstreckung der streitgegenständlichen
Forderung die Antragstellerin Insolvenz auf Grund bilanzieller Überschuldung anmelden müsste.
Auf Nachfrage des Gerichts hat die Antragstellerin zu vorangegangenen Betriebsprüfungsbescheiden erklärt, die letzte Prüfung
habe keine Beanstandungen ergeben, so dass keine Bescheid ergangen sei.
Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,
den Beschluss des Sozialgerichts München vom 03.06.2013 abzuändern und die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den
Bescheid der Antragsgegnerin vom 27.03.2013 bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens ohne Anordnung einer Sicherheitsleistung
herzustellen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Sie ist der Auffassung, dass die Herstellung der aufschiebenden Wirkung zu Recht mit einer Auflage versehen worden sei. Die
Auflage der selbstschuldnerischen Bürgschaft entspreche angesichts der Höhe den zugrunde liegenden Beitragsforderungen.
Ergänzend wird Bezug genommen auf die Akten beider Rechtszüge sowie auf die Akte der Antragsgegnerin.
II.
Die zulässige Beschwerde (§§
172 Abs.
1,
173 SGG) ist in der Sache erfolgreich. Die Auflage in Ziffer I des Beschlusses des Sozialgerichts München vom 03.06.2013, mit der
die Stellung einer Sicherheit in Höhe von 231.595,00 Euro angeordnet wird, ist rechtswidrig.
1. a) Die Antragstellerin begehrt im Wege der Beschwerde die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den
streitgegenständlichen Bescheid vom 27.03.2013 ohne die Auflage einer Sicherheitsleistung. Auch im Beschwerdeverfahren gilt
§
123 SGG und somit eine Bindung an das Beschwerdebegehren und gleichzeitig das Gebot der reformatio in peius (vgl. LSG Niedersachsen,
Breithaupt 1998, 145). Dadurch ist alleiniger Prüfungsgegenstand die Rechtmäßigkeit der von der Antragstellerin angegriffenen
Auflage einer Sicherheitsleistung. Im Wege des Beschwerdeverfahrens kann die Entscheidung des vorangegangenen Rechtszuges
nur insoweit geändert werden, als dies beantragt ist. Die Antragstellerin darf also nicht schlechter gestellt werden, als
es durch den angefochtenen Beschluss erfolgt ist, es sei denn, dass durch die Antragsgegnerin ein Rechtsmittel eingelegt worden
wäre. Dies ist vorliegend nicht erfolgt. Die Antragsgegnerin hat keine Beschwerde eingelegt gegen den Beschluss des Sozialgerichts
München vom 03.06.2013.
b) Zwar regelt §
86 b Abs.
1 Satz 4
SGG, dass das Gericht der Hauptsache auf Antrag die Maßnahme (hier: Auflage der Sicherheitsleistung) jederzeit ändern oder aufheben
kann. Dabei handelt es sich um ein selbständiges Verfahren (Keller in Meyer-Ladwig/Keller/Leitherer,
Sozialgerichtsgesetz, Kommentar, 10. Aufl., §
86 b Ziffer 20). Daneben hat die Antragstellerin aber auch das Recht der Beschwerde. Das befristete Beschwerderecht wird nicht
verdrängt durch den jederzeit möglichen Antrag beim Gericht der Hauptsache, deshalb kann die Auflage einer Sicherheitsleistung
selbständig mit der Beschwerde angefochten werden (Keller a. a. O., Rdz. 21; vgl. auch Kopp/Schenke,
Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 17. Aufl., §
80 Rdz. 190; §
146 Rdz. 27 ff.).
c) Gemäß §
86 b Abs.
1 Satz 3
SGG kann die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung wie auch die Anordnung der sofortigen Vollziehung mit Auflagen versehen
oder befristet werden. In diesem Zusammenhang ist grundsätzlich auch die Bestimmung einer Sicherheitsleistung möglich. Allerdings
ist dies aus rechtsstaatlichen Gründen nicht uneingeschränkt zulässig. Die Anordnung einer Sicherheitsleistung kommt bei Geldforderungen
in Betracht, wenn ernsthaft zu befürchten ist, dass der Begünstigte bei ungünstigem Prozessausgang den geschuldeten Betrag
nicht erstatten kann (BVerfG, Beschluss vom 03.12.1998, 1 BvR 592/97, zitiert nach [...]). Sie darf allerdings aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht angeordnet werden, wenn der Erfolg des
Rechtsbehelfs zumindest sehr wahrscheinlich ist (BVerfG a. a. O., Rz. 3). So kann die Anordnung einer Sicherheitsleistung
unter Umständen auch unverhältnismäßig sein, wenn es dem Rechtsuchenden trotz zumutbarer Anstrengungen nicht möglich ist,
die Sicherheitsleistung aufzubringen (BVerfG a. a. O.).
2. Der streitgegenständliche Bescheid der Antragsgegnerin vom 27.03.2013 ist zwar nicht offensichtlich rechtswidrig, so dass
bereits aus diesem Grund die Auflage einer Sicherheitsleistung aufzuheben wäre. Allerdings begegnet er nach summarischer Prüfung
in mehrfacher Hinsicht rechtlichen Bedenken.
a. Die Antragsgegnerin erlässt Beitragsnachforderungsbescheide aufgrund von §
28 p Abs.
1 SGB IV. Danach sind die Träger der Rentenversicherung verpflichtet, bei den Arbeitgebern zu prüfen, ob diese ihren Meldepflichten
und ihren sonstigen Pflichten nach dem
SGB IV, die im Zusammenhang mit dem Gesamtsozialversicherungsbeitrag stehen, ordnungsgemäß erfüllen. Die Träger der Rentenversicherung
erlassen im Rahmen der Prüfung Verwaltungsakte zur Versicherungspflicht und Beitragshöhe einschließlich der Widerspruchsbescheide
gegenüber den Arbeitgebern. Bislang hat die Antragsgegnerin nur in eingeschränktem Umfang eigene Ermittlungen i. S. v. §
28 p Abs.
1 Satz 1
SGB IV durchgeführt. Die Ermittlungen des Hauptzollamtes hat die Antragsgegnerin laut Vermerk vom 7.10.2011 zumindest teilweise
kritisch bewertet. Sie hat gleichwohl keine eigene Betriebsprüfung im Betrieb der Antragstellerin durchgeführt, sondern allein
die Ermittlungen des Hauptzollamtes zur Grundlage des streitgegenständlichen Bescheides gemacht. Ihre Verwaltungsakte beinhaltet
dementsprechend auch im Wesentlichen den Schriftverkehr mit dem Hauptzollamt sowie der Staatsanwaltschaft C-Stadt. Die Tätigkeit
der Antragsgegnerin bestand somit vornehmlich darin, im Wege der Amtshilfe gem. § 2 Abs. 2 SchwarzArbG für das Hauptzollamt den Schaden zu berechnen, der durch die Nichtabführung der Gesamtsozialversicherungsbeiträge den Sozialversicherungsträgern
entstanden ist. Sie diente auch nicht dem Zweck der präzisen Ermittlung von Sozialversicherungsbeiträgen i. S. v. §
28 c SGB IV, sondern der Erfüllung von Aufgaben nach dem Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz.
Bislang wurden weder die Auftraggeber der Antragstellerin in dem Verwaltungsverfahren beteiligt noch die Bundesagentur für
Arbeit, noch die einzelnen betroffenen Fahrer. Nach § 20 SGB X hat die Behörde den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln. Dabei bestimmt sie Art und Umfang der Ermittlungen. Sie hat
nach § 20 Abs. 2 SGB X alle für den Einzelfall bedeutsamen, auch die für die Beteiligten günstigen Umstände zu berücksichtigen. Dies ist nicht gleichzustellen
mit einer Beteiligung im Verwaltungsverfahren. Nach § 12 SGB X wären insbesondere alle betroffenen Fahrer zu ermitteln und als Beteiligte dem Verfahren einzubinden gewesen. Die Fahrer
waren bislang nur als Zeugen im strafgerichtlichen Verfahreneinbezogen, was allein schon wegen der jeweils unterschiedlichen
rechtlichen Stellung der Betroffenen in den verschiedenen Verfahren nicht mit einer Beteiligtenstellung gem. § 12 SGB X zu vergleichen ist. Im Rahmen des Verwaltungsverfahrens können die Aussagen der Fahrer aus dem Strafverfahren lediglich im
Wege des Urkundenbeweises gewürdigt werden, § 21 Abs. 1 Ziff. 3 SGB X. Der Anhörung der Beteiligten kommt als Beweismittel besondere Bedeutung zu, weil sie häufig die einzigen Personen sind,
die von den bedeutsamen Tatsachen Kenntnis haben (von Wulffen in: von Wulffen, SGB X, 7. Aufl., § 21 Rnr. 7). Zumindest hätte eine Ermessensentscheidung stattfinden müssen, aus der ersichtlich ist, weshalb von einer Beteiligung
bislang abgesehen wurde. Diese Rechtsfehler führen allerdings in Anbetracht der Heilungsmöglichkeiten, die der Gesetzgeber
in §§ 41 ff. SGB X vorgesehen hat, nicht dazu, dass von einer offensichtlichen Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 27.09.2013 auszugehen ist.
b. Die Antragstellerin erlässt Betriebsprüfungsbescheide auf der Grundlage von §
28 p
SGB IV. Sie darf dabei die Prüfung der Aufzeichnungen nach § 8 BVV (Entgeltunterlagen) und § 9 BVV (Beitragsabrechnung) auf Stichproben beschränken (§ 11 BVV). Der Begriff der Stichprobe ist rechtlich nicht definiert. Bei einer Stichprobenprüfung handelt es sich um ein Verfahren,
bei dem nach bestimmten Auswahlkriterien eine Teilmenge des Gesamten ausgewählt und geprüft wird um von dem Zustand der Teilmenge
auf das Gesamte zu schließen (vgl. hierzu beispielhaft Duden online, wikipedia, Gabler Wirtschaftslexikon online etc.). Im
hier streitigen Fall wurden ausnahmslos diejenigen Fälle geprüft, die das Hauptzollamt in seine Ermittlungen einbezogen hatte.
Das Hauptzollamt hatte schriftliche Vernehmungsanfragen an 122 Personen geschickt. Von 57 Personen konnte es den Aufenthaltsort
nicht ermitteln. Von 65 Personen wurden verwertbare Fragebögen zurückgesandt und an die Antragsgegnerin zur Erstellung einer
sozialversicherungsrechtlichen Beurteilung übersandt. Die Unterlagen von diesen 65 Personen wurden von der Antragsgegnerin
geprüft und bei der weit überwiegenden Anzahl ergaben sich Nachforderungen. Dies erlaubt im Sinne des Wesens einer Stichprobenprüfung
des Rückschluss, dass auch in der überwiegenden Anzahl der übrigen Fälle Beanstandungen zu erwarten wären. Dies hätte Anlass
geben müssen zu weiteren Ermittlungen, insbesondere im Hinblick auf die noch nicht einbezogenen Entgeltunterlagen und die
weiteren Personen. Allerdings wird sich die Antragstellerin insoweit auf eine eigene Rechtsposition nicht stützen können,
so dass insoweit auch keine offensichtliche Rechtswidrigkeit anzunehmen ist.
c) Das Sortieren und die Übernahme des Transportgutes auf dem Gelände der Auftraggeber, die Verpflichtung zum Tragen von Kleidung
mit den jeweiligen Firmenlogos, die Disposition durch die genannten lizenzierten Postdienstleister wie DHL etc, das Zurverfügungstellen
der elektronischen Scanner zur Paketerfassung, die Videoüberwachung und die Bestrafung bei Regelverstößen sowie die Tatsache,
dass die einzelnen Fahrer weder über eine Erlaubnis nach dem GÜKG verfügten noch über eine solche der Bundesnetzagentur, sind
gewichtige Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Beschäftigung i.S.d. § 7 Abs. 1 SGB IVund nicht einer selbständigen Tätigkeit.
Aufgrund der vorgenannten vom Hauptzollamt ermittelten Ausgestaltung der Tätigkeit der einzelnen Fahrer bestehen aber zudem
deutliche Anhaltspunkte dafür, dass die Fahrer im Wege der Arbeitnehmerüberlassung bei den genannten Postdienstleistern tätig
waren. Da die Antragstellerin über keine Erlaubnis zur Arbeitnehmerüberlassung verfügt, wären die betroffenen Fahrer aufgrund
von §
10 Abs.
1 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (
AÜG) kraft Gesetzes wohl Arbeitnehmer des Entleihers, letztlich also der einzelnen Postdienstleister. Grundsätzlich schuldete
dann der Entleiher als Arbeitgeber die Gesamtsozialversicherungsbeiträge gem. §
28 e Abs.
1 SGB IV. Zahlt allerdings der Verleiher trotz Unwirksamkeit des Überlassungsvertrages das vereinbarte Arbeitsentgelt oder Teile des
Arbeitsentgelts an den Leiharbeitnehmer, so gilt er neben dem Entleiher als Arbeitgeber und haftet mit diesem als Gesamtschuldner,
soweit sich der Gesamtsozialversicherungsbeitrag auf das von ihm gezahlte Arbeitsentgelt bezieht (§
28 e Abs.2 S. 3 f.
SGB IV; vgl. LSG Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 09.01.2013, L 8 R 406/12 B ER, Rnr. 30). Bei der vorliegenden Fallgestaltung steht im Raum, dass wesentliche Teile des zustehenden Lohnes nicht gezahlt
wurden, sei es wegen der unzulässig erhobenen "Vermittlungsprovision" (§
9 Ziff. 5
AÜG), sei es wegen der gegen die Fahrer ausgesprochenen "Geldstrafen" etc. Insbesondere die Beachtung des "equal pay" (§
9 Ziff. 2
AÜG) kann zu prüfen sein. Für möglicherweise vorenthaltenen Lohn haftet ausschließlich der Entleiher als Arbeitgeber nach §
10 AÜG i.V.m §
28 e Abs.
2 S. 3
SGB IV auch für die Sozialversicherungsbeiträge. Die Ermittlung und Prüfung ist insoweit bislang unterblieben. Sie wäre nachzuholen,
wie die Träger der Rentenversicherung gemäß §
28 p
SGB IV verpflichtet sind, die Betriebsprüfungen bei allen Arbeitgebern durchzuführen. Dieser wäre bei nicht erlaubter Arbeitnehmerüberlassung
der Entleiherbetrieb, hier also die genannten lizenzierten Postdienstleistungsbetriebe. Soweit die Antragstellerin möglicherweise
die Vergütung gezahlt hat, ist ihre Inanspruchnahme hinsichtlich der darauf entfallenden Sozialversicherungsbeiträge als Gesamtschuldnerin
nicht zu beanstanden.
Allerdings wird sich die Antragstellerin auf eine eigene geschützte Rechtsposition insoweit nicht berufen könne, eine relevante
offensichtliche Rechtswidrigkeit ist nicht anzunehmen.
d) Nicht nachvollziehbar sind die unterschiedlichen Summen die im Rahmen des strafrechtlichen Verfahrens, bei der Anhörung
vom 18.04.2011 und im streitgegenständlichen Bescheid geltend gemacht wurden. Insbesondere ist nicht ersichtlich, aufgrund
welcher Umstände die Forderung im streitgegenständlichen Bescheid erheblich höher ist, als im Anhörungsschreiben. Hierzu wäre
bereits nach dem Vermerk der Antragsgegnerin vom 05.10.2011 und vom 07.10.2011 eine weitere Anhörung der Antragstellerin veranlasst
gewesen; dies ist jedoch nachholbar im Widerspruchsverfahren, § 41 Abs. 2 SGB X.
Bereits aus diesen Gründen ist derzeit die Rechtmäßigkeit des streitgegenständlichen Bescheides in Zweifel zu ziehen. Wenn
auch keine offensichtliche Rechtswidrigkeit vorliegt, erscheint zumindest ein teilweiser Erfolg des Rechtsbehelfs der Antragstellerin
nicht gänzlich ausgeschlossen. Die Auflage der Sicherheitsleistung kann jedoch nicht allein deshalb aufgehoben werden.
3. Allerdings erscheint die Auflage der Sicherheitsleistung unverhältnismäßig.
Die Antragstellerin durch Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung ihres Steuerberaters glaubhaft gemacht, dass die sofortige
Vollstreckung der Beitragsnachforderung die Insolvenz der Antragstellerin zur Folge hätte. Es bestehen keine Anhaltspunkte
für eine Unrichtigkeit dieser Erklärung. Vor diesem Hintergrund ist auch die Erklärung des Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin
glaubhaft, dass die Antragstellerin die Bankbürgschaft in Höhe von 231.595,00 Euro nicht beibringen kann.
Weiter hat die Antragstellerin durch Vorlage von Überweisungsbelegen glaubhaft nachgewiesen, dass sie bereits einen Teilbetrag
in Höhe von 41.000 Euro auf die Nachforderung geleistet hat. Die Anordnung einer Sicherheitsleistung kommt daher nicht in
Betracht, da nicht anzunehmen, dass die seit 1999 bestehende und immer noch aktive Antragstellerin bei ungünstigem Prozessausgang
den geschuldeten Betrag nicht erstatten könnte (BVerfG, Beschluss vom 03.12.1998, 1 BvR 592/97, zitiert nach [...]).
Die Anordnung einer Sicherheitsleistung erscheint auch unverhältnismäßig, da es der Antragstellerin aufgrund ihrer finanziellen
Situation nicht möglich ist, die Sicherheitsleistung aufzubringen (BVerfG a. a. O.).
Die Antragsgegnerin hat nunmehr im Rahmen des Widerspruchsverfahrens Gelegenheit, die notwendigen Verfahrenshandlungen nachzuholen.
Die Festsetzung des Streitwerts folgt derjenigen des Sozialgerichts (§§ 52 Abs. 3, 47 Abs. 2 Gerichtskostengesetz).
Dieser Beschluss beendet das Verfahren im vorläufigen Rechtsschutz und ist nicht mit der weiteren Beschwerde anfechtbar, §
177 SGG.