Einstweiliger Rechtsschutz im sozialgerichtlichen Verfahren; Vorliegen eines Anordnungsgrundes bei Leistungsansprüchen für
die Vergangenheit
Gründe:
I. Gegenstand des Beschwerdeverfahrens im einstweiligen Rechtsschutz ist die Sicherung von Sozialhilfeleistungen für den Zeitraum
vom 01.01.2005 bis 31.01.2007. Die Antragstellerin und Beschwerdeführerin (im folgenden Antragstellerin) bezog vom 01.01.2005
bis 31.01.2007 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II von der Beigeladenen. Sie erhob diesbezüglich
mehrere Klagen zum Sozialgericht Landshut, mit denen sie die Berücksichtigung höherer Unterkunftskosten erreichen wollte.
Für einen weiteren Zeitraum erfolgte aber eine Aufhebung der Grundsicherungsleistungen der Arbeitsgemeinschaft (Bescheid vom
05.01.2007 ab 01.02.2007).
Schließlich erhielt die Antragstellerin aufgrund eines Vergleichs mit dem Rentenversicherungsträger vom 14.12.2006 (Bayer.
Landessozialgericht - LSG- im Verfahren L 14 R 482/03) mit einem Rentenbeginn vom 01.08.2004 Rente wegen voller Erwerbsminderung. Die Nachzahlung ging zum Teil an den Träger der
Grundsicherung.
Der Antragsgegner lehnte mit Bescheid vom 26.02.2009 die Leistungen nach dem Dritten und Vierten Kapitel des SGB XII für den
Zeitraum 01.01.2005 bis 31.01.2007 sowie den Antrag auf Auszahlung eines Vorschusses ab. Er sei als Sozialhilfeverwaltung
für die Gewährung existenzsichernder Leistungen in dem genannten Zeitraum nicht zuständig. Es sei nicht erkennbar gewesen,
dass die Antragstellerin mit ihren bei der Beigeladenen gestellten Anträgen auf Leistungen nach dem SGB II gleichzeitig Leistungen
nach dem SGB XII beantragt habe. Im Übrigen sei die Antragstellerin nicht hilfebedürftig, weil das anzurechnende Renteneinkommen
einschließlich der Zusatzrente ihren Bedarf übersteige. Die Wohnung der Antragstellerin sei mit 96 m² viel zu groß und zu
teuer. Einer Aufforderung der Beigeladenen zum Wohnungswechsel sei die Antragstellerin nicht nachgekommen. Den hiergegen erhobenen
Widerspruch wies die Regierung von Niederbayern mit Widerspruchsbescheid vom 24.07.2009 zurück.
Hiergegen erhob die Antragstellerin Klage zum Sozialgericht Landshut (SG, Az.: S 10 SO 43/09).
Am 27.08.2009 hat die Antragstellerin beim SG beantragt, die Beklagte vorläufig zu verpflichten, Leistungen zum Lebensunterhalt vom 01.01.2005 bis zum 31.01.2007 zu erbringen.
Mit Beschluss vom 12.10.2009 hat das SG den Antrag abgelehnt. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass der Antragstellerin bei Nichtgewährung von einstweiligem Rechtsschutz
weder eine schwere Rechtsverletzung im Sinne der Rechtsprechung des BVerfG (Beschluss vom 12.05.2005, 1 BvR 569/05) noch eine über Randbereiche hinausgehende Rechtsverletzung im Sinne eines Anordnungsgrundes drohten. Im Streit würden sich
lediglich Leistungen für den Zeitraum 01.01.2005 bis 31.01.2007 befinden. Einstweiliger Rechtsschutz ermöglicht es aber grundsätzlich
nicht, Leistungen für die Vergangenheit zu erhalten. Er diene vielmehr dem Ziel, gegenwärtige oder unmittelbar bevorstehende
Notlagen zu beheben bzw. zu verhindern. Für Leistungen für die Vergangenheit - d.h. vor Antragstellung bei Gericht - seien
Antragsteller dagegen grundsätzlich auf den Rechtsweg in der Hauptsache zu verweisen (ständige Rechtsprechung des Bayer. LSG,
etwa Beschluss vom 06.03.2007, L 7 B 884/06 AS ER, juris Rn. 18). Anhaltspunkte dafür, dass hier ausnahmsweise eine andere Bewertung geboten wäre, weil ein noch gegenwärtiger
schwerer, irreparabler und unzumutbarer Nachteil glaubhaft gemacht wird und ein besonderer Nachholbedarf durch die Verweigerung
der Leistungen in der Vergangenheit auch in der Zukunft noch fortwirke (vgl. dazu Bayer. LSG, Beschluss vom 02.03.2009, L
11 B 1067/08 AS ER), seien nicht ersichtlich. Insbesondere ergebe sich ein solcher Nachteil nicht daraus, dass die Antragstellerin von
ihrer Vermieterin auf Zahlung rückständiger Heiz- und Warmwasserkosten für ihre Wohnung verklagt werde, deren Größe von 96
m² den für einen Ein-Personen-Haushalt angemessenen Umfang deutlich übersteige.
Hiergegen hat die Antragstellerin am 13.11.2009 Beschwerde beim LSG eingelegt. Ihr drohe eine Klage ihrer Vermieterin wegen
Heizkostennachzahlungen. Auch benötige sie Brillengläser und Zahnersatz.
Die Antragstellerin beantragt,
den Antragsgegner unter Aufhebung des Beschlusses des Sozialgerichts Landshut vom 12.10.2009 im Wege einer einstweiligen Anordnung
zu verpflichten, ihr vorläufig dem Grunde nach Sozialhilfeleistungen für den Zeitraum 01.01.2005 bis 31.01.2007 zu gewähren.
Der Antragsgegner beantragte,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der Akten beider Instanzen und der Beklagten sowie Beigeladenen Bezug genommen.
Daraus ergibt sich insbesondere, dass am 19.01.2009 zwischen der Antragstellerin und der Beigeladenen vor dem Sozialgericht
Landshut im Verfahren S 7 AS 214/07 ein Vergleich geschlossen worden ist, wonach die Beteiligten sich darüber einig seien, dass die Antragstellerin wegen des
Bezugs einer Erwerbsminderungsrente ab 01.08.2004 keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II habe und dass die bei der
Beigeladenen gestellten entsprechenden Anträge zugleich Anträge auf Leistungen nach dem SGB XII darstellten. Der Antragsgegner
dieses Verfahrens (Sozialhilfeträger) war an diesem Verfahren nicht beteiligt.
Die Entscheidung des SG erging zu Recht.
Nach §
86b Abs.
2 Satz 1
SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit nicht ein Fall des §
86b Abs.
1 SGG vorliegt, eine einstweilige Anordnung u. a. auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis
treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2 aaO.). Wie schon der Wortlaut
dieser sogenannten Regelungsanordnung anführt ("einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands
in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig
erscheint") verlangt eine entsprechende Gestaltung des Gerichts sowohl einen Anordnungsanspruch wie auch die Erforderlichkeit
einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung (Anordnungsgrund).
Einer besonderen Ausgestaltung des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens bedarf es hier nicht (dazu später unter 3.). Die Antragstellerin
ist nicht maßgeblich in ihren existenziellen Bedürfnissen beeinträchtigt (dazu später unter 4.). Weder liegt ein Anordnungsgrund
(unten unter 1.) noch ein Anordnungsanspruch (unter 2.) vor.
1. Ein Anordnungsgrund ist, auch im Sinne der oben angeführten Glaubhaftmachung, nicht gegeben. Ein Anordnungsgrund ist in
der Regel zu verneinen, wenn sich der Anspruch auf vergangene Zeiträume bezieht (vgl. Krodel in Berchtold/Richter Roman, Prozesse
in Sozialsachen, 2008, § 5, Rz. 93; m.w.N.). Vergangene Zeiträume in diesem Sinne sind grundsätzlich die vor der Antragstellung
bei Gericht liegenden Zeiträume (Krodel aaO.). Besondere Gründe, die ausnahmsweise einen rückwirkenden Nachholbedarf rechtfertigen,
liegen nicht vor (siehe auch unter 4.). Der Antragstellerin droht ohne die Einräumung einstweiligen Rechtsschutzes kein Verlust
oder Untergang ihres Anspruchs. Im Falle des Obsiegens würde ihr die Leistungen voll, gegebenenfalls verzinst, nachgezahlt
werden. Eine mangelnde Liquidität des Sozialhilfeträgers ist unvorstellbar. Zudem hat das BSG bereits deutlich gemacht (vgl.
Urteil vom 26.08.2008, Az.: B 8 SO 26/07 R), dass der Gesetzgeber entgegen der Rechtsprechung des BVerwG (BVerwGE 58, 68, 69; 60, 236, 238; 68, 285, 289) kein über §
37 SGB I dem § 44 SGB X generell vorgehendes normatives Strukturprinzip ("keine Leistungen für die Vergangenheit"; Bedarfsdeckungsgrundsatz; Aktualitätsprinzip)
anerkennt. In diesem Zusammenhang hat der 8. Senat des BSG bereits ausgeführt, dass die vom BVerwG entwickelten so genannten
Strukturprinzipien keine "Supranormen" darstellen (Urteil vom 17.06.2008, Az.: B 8 AY 5/07 R).
2. Die Erkenntnis bzw. Entscheidung über das Bestehen des Rechtsanspruchs macht das Wesen des Hauptsacheverfahrens aus. Im
vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahren lässt sich zurzeit mit den bislang gewonnenen Erkenntnissen im Verwaltungs-
und Widerspruchsverfahren keine hinreichende richterliche Überzeugung vom Vorliegen eines Anspruchs auf Sozialhilfe der Antragstellerin
vom 01.01.2005 bis 31.01.2007 gewinnen. Dies auch nicht im Hinblick auf den reduzierten Grad der Überzeugungsbildung im Sinne
einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl. §
920 Abs.
2 der
Zivilprozessordnung, dessen entspreche Anwendung §
86b Abs.
2 Satz 4
SGG anordnet) wonach "der Anspruch und der Arrestgrund glaubhaft zu machen sind". Allerdings handelt es sich bei der Leistung
der Grundsicherung wegen Alters und bei Erwerbsminderung um eine Antragsleistung (§ 41 Abs. 1 SGB XII), wohingegen die Hilfe
zum Lebensunterhalt das "Bekanntwerden" erfordert (§ 18 Abs. 1 SGB XII). Wieweit nun angesichts eine Beteiligung des Landkreises
an der Arbeitsgemeinschaft Grundsicherung für Arbeitssuchende einer derartigen organisatorischen Verflechtung entspricht,
dass ein Antrag beim Grundsicherungsträger dem Träger der Sozialhilfe zuzurechnen ist, kann im summarischen Verfahren des
einstweiligen Rechtsschutzes nicht entschieden werden. Die Lösung dieser Frage ist auch einer Gestaltung zwischen dem Träger
der Grundsicherung und der Antragstellerin, wie im angeführten Vergleich geschehen, nicht zugänglich. Vielmehr ist dies ein
Element der von Amts wegen zu prüfenden Tatbestandsvoraussetzungen des Anspruchs auf Grundsicherung. Jedenfalls wären aber
§ 28 SGB X sowie §
16 SGB I zu beachten.
Schließlich wäre aber auch zu beachten, dass der Träger der Grundsicherung für Erwerbsfähige bei einer Zuständigkeit des Trägers
der Sozialhilfe für den Zeitraum 01.01.2005 bis 31.01.2007 nur vorläufig (§ 102 SGB X) oder unzuständig (§ 105 SGB X) geleistet hätte und damit dennoch den Anspruch der Antragstellerin gegen den zur Leistung verpflichteten Leistungsträger
erfüllt hätte (§ 107 SGB X). Damit ergibt sich auch insoweit kein Anspruch.
Letztlich kann dies aber wegen ohnehin mangelndem Anordnungsgrund dahingestellt sein bleiben.
3. Die Einbindung auch des Prozessrechtes in die verfassungsgemäße Ordnung verlangt aber in Fällen der vorliegenden Art, in
denen es im Erkenntnisverfahren um existenzsichernde Ansprüche geht, die Wahrung verfassungsrechtlich geschützter Positionen.
So verlangt Art.
1 Grundgesetz unmittelbar von jeder staatlichen Gewalt, die unantastbare Würde des Menschen zu achten und zu schützen. Gemeinhin wird darunter
auch die Sicherung des Existenzminimums verstanden. Ebenso leitet sich aus dem Sozialstaatsprinzip, Art.
20 Grundgesetz, die sozialstaatliche Praxis ab, jedem Bedürftigen den notwendigen Lebensunterhalt (jetzt § 27 SGB XII) als Grundsicherung zu gewähren.
Immer schon sind deswegen von der Rechtsprechung die Anforderungen an die Prüfung der Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs
und der Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung umso niedriger angesetzt worden, je schwerer die mit der Versagung
vorläufigen Rechtsschutzes verbundenen Belastungen - insbesondere auch mit Blick auf ihre Grundrechtsrelevanz - wiegen (vgl.
Bundesverfassungsgericht NJW 1997, 479; NJW 2003, 1236). Demnach verlangt nunmehr die jüngste Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei "Gefahr der Entstehung schwerer und
unzumutbarer, anders nicht abwendbarer Beeinträchtigungen" zur Sicherstellung eines effektiven Rechtsschutzes im Sinne des
Art.
19 Abs.
4 Grundgesetz eine besondere Prüfung (vgl. BVerfG vom 12.05.2005, 1 BvR 569/05 Juris Rn. 23; BVerfG, NVwZ 2004, S. 95, 96, Beschluss vom 06.02.2007, Az.: 1 BvR 3101/06). Danach ist entweder eine abschließende (und nicht nur summarische) Prüfung des Hauptsacheanspruchs durchzuführen oder -
wenn dies nicht möglich ist bzw. nicht zum Erfolg führt - eine Güter- und Folgenabwägung vorzunehmen.
4. Wie oben (Nr. 2) bereits ausgeführt wurde, ist eine abschließende Prüfung des Hauptsacheanspruchs nicht möglich. Dies führt
dennoch nicht zu einer Güter- und Folgenabwägung. Denn grundrechtliche Positionen der Antragstellerin sind hier nicht gefährdet.
Der Lebensunterhalt der Klägerin ist jedenfalls ab dem Zeitpunkt des Antrags beim SG durch die Leistungen des Trägers der gesetzlichen Rentenversicherung sowie eine Betriebsrente in Höhe von insgesamt knapp
700 Euro monatlich im Wesentlichen gesichert. Es bedarf dazu keiner Nachzahlung von Leistungen aus dem vom Antragsverfahren
involvierten Zeitraum (01.01.2005 bis 31.01.2007). Dies vor allem auch angesichts eines mit Bescheid vom 27. Mai 2009 (des
Antragsgegners) nachträglich für den involvierten Zeitraum bewilligten Wohngelds in Höhe von 45 Euro monatlich bei Kosten
der Unterkunft von 250 Euro.
Daran ändert auch das Vorbringen der Klägerin nichts, dass ihr eine Klage ihrer Vermieterin wegen Heizkostennachzahlungen
drohe. Hierbei handele sich um einen zukünftigen Vorgang. Neue Brillengläser und Zahnersatz sind durch Leistungen der Krankenversicherung
und Ansparungen bei den Regelsätzen bzw. Renten sicherzustellen.
Die Beschwerde ist daher zurückzuweisen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten (§
193 SGG).
Dieser Beschluss ist gemäß §
177 SGG unanfechtbar.