Vorläufige Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II
Verfassungsrechtliche Bedenklichkeit eines Leistungsausschlusses
Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums
Gründe:
Die Beschwerde der Antragstellerin ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet; im Übrigen ist sie nicht begründet
und war zurückzuweisen. Die erlassene Regelungsanordnung iSv § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ergeht dem Grunde
nach (vgl § 130 Abs. 1 SGG analog) und war bis längstens 30. April 2019 zu begrenzen.
Für den ausgeworfenen - und beantragten - Zeitraum ab 8. Dezember 2018 bis längstens 30. April 2019 sind ein Anordnungsanspruch
und auch ein Anordnungsgrund dargetan, soweit die Antragstellerin, die die portugiesische Staatsangehörigkeit besitzt, Regelleistungen
nach dem Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) begehrt, und zwar unter Berücksichtigung eines Regelleistungssatzes
iHv 80 vH der gesetzlichen Regelleistungen. Nach ständiger Rspr des erkennenden Senats ist in Verfahren des einstweiligen
Rechtsschutzes der geltend gemachten Regelbedarf iSv § 20 Abs. 1 SGB II regelmäßig nur iHv 80 vH zu berücksichtigen, weil
er nur in diesem Umfang unabweisbar ist (vgl Bundesverfassungsgericht BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05
-; LSG Berlin-Branden-burg, Beschluss vom 19. Mai 2010 - L 5 AS 797/10 B ER -; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 12.
September 2007 - L 20 B 75/07 SO ER -; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 29. Januar 2007 - L 7 SO 5672/ 06 B ER - alle
juris). Soweit die Antragstellerin mit ihrem Antrag auf Leistungen "in gesetzlicher Höhe" auch solche für Kosten der Unterkunft
und Heizung geltend macht, fehlt es indes an einem Anordnungsgrund iS eines zur Vermeidung unaufschiebbarer Nachteile un-aufschiebbar
eiligen Regelungsbedürfnisses. Denn die wohnungslose Antragstellerin ist derzeit auf Kosten des Beigeladenen nach dem Allgemeinen
Sicherheits- und Ordnungsgesetz in einem Wohnheim untergebracht.
Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- oder Rechtslage im einstweiligen
Rechtsschutz - wie hier im Hinblick auf die konkreten Umstände des mWv 13. September 2018 aufgenommenen und zum 21. Oktober
2018 gekündigten Beschäftigungsverhältnisses - im gerichtlichen Eilverfahren untunlich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung
zu entscheiden, welchem Beteiligten ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache eher zuzumuten ist. Dabei sind grundrechtliche
Belange der Antragstellerin umfassend in der Abwägung zu berücksichtigen. Insbesondere bei Ansprüchen, die darauf gerichtet
sind, als Ausfluss der grundrechtlich geschützten Menschenwürde das soziokulturelle Existenzminimum zu sichern (Art. 1 Abs.
1 Grundgesetz - GG - iVm dem Sozialstaatsprinzip), ist ein nur möglicherweise bestehender Anordnungsanspruch, vor allem wenn
er eine für die soziokulturelle Teilhabe unverzichtbare Leistungshöhe erreicht und für einen nicht nur kurzfristigen Zeitraum
zu gewähren ist, in der Regel vorläufig zu befriedigen, wenn sich die Sach- oder Rechtslage im Eilverfahren nicht vollständig
klären lässt (Bundesverfassungsgericht (BVerfG), 3. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 -
juris). Denn im Rahmen der gebotenen Folgenabwägung hat dann regelmäßig das Interesse des Leistungsträgers, ggf ungerechtfertigte
Leistungen zu vermeiden, gegenüber der Sicherstellung des ausschließlich gegenwärtig (sog Gegenwärtigkeitsprinzip; vgl BVerfG
aaO Rn 19 mwN). zu befriedigenden soziokulturellen Existenzminimums zurückzutreten.
Weitergehende Ermittlungen zu der vom Antragsgegner bestrittenen, ggf fortwirkenden Arbeitnehmereigenschaft der Antragstellerin
im streitigen Zeitraum, ggf auch durch ergänzende Befragung der Arbeitgeberin oder die Vernehmung etwaiger Zeugen, und eine
sich am Gesamtergebnis des Verfahrens orientierende Würdigung der Angaben der Antragstellerin müssen dem Hauptsacheverfahren
vorbehalten bleiben, da ansonsten zeitnaher Eilrechtsschutz nicht zu gewähren wäre. Der Senat weist indes darauf hin, dass
die Kürze der tatsächlich ausgeübten Beschäftigung als solche ebenso wenig wie die tatsächliche Entlohnung der Begründung
eines Arbeitnehmerstatus entgegensteht, zumal die Beschäftigung augenscheinlich durch arbeitgeberseitige Kündigung der schwangeren
Antragstellerin erfolgte. Zu beachten ist auch, dass nach der Rspr des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) die Tatsache, dass
eine Schwangerschaft eine Frau zwingt, die Ausübung einer Arbeitnehmertätigkeit aufzugeben, grundsätzlich nicht geeignet ist,
ihr die "Arbeitnehmereigenschaft" im Sinne von Art. 45 des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise
der Europäischen Union (AEUV) abzusprechen. Der Umstand, dass eine solche Person dem Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats
während einiger Monate tatsächlich nicht zur Verfügung steht, bedeutet nämlich nicht, dass sie während dieser Zeit nicht weiterhin
in den betreffenden Arbeitsmarkt eingegliedert ist, sofern sie innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach der Geburt des
Kindes ihre Beschäftigung wieder aufnimmt oder eine andere Beschäftigung findet (vgl. EuGH, Urteil vom 19. Juni 2014 (Saint
Prix) - C-507/12 - ECLI:EU:C:2014:2007 - juris; entsprechend Urteil (Orfanopoulos) und (Oliveri), C-482/01 und C-493/01, EU:C:2004:262
- juris). Letzteres kann hier abschließend schon deshalb nicht beurteilt werden, weil die Geburt des Kindes erst im April
erwartet wird. Derzeit ist eine abschließende Beurteilung, ob einem Anspruch der Antragstellerin auf die ausgeworfenen Leistungen
nach dem SGB II entgegensteht, dass sich ihr Aufenthaltsrecht (nur) aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, somit nicht möglich.
Damit steht auch nicht fest, ob der - insoweit wohl auch nach dem seit 29. Dezember 2016 geltenden Recht wirksame (vgl zur
alten Rechtslage Bundessozialgericht (BSG), Urteile vom 3. Dezember 2015 - B 4 AS 59/13 R ua - juris; vgl auch seine Rspr
bekräftigend BSG, Urteil vom 30. August 2017 - B 14 AS 31/16 R -) - Leistungsausschluss in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr 2b SGB II
in der seither geltenden Fassung ggfs zum Tragen käme. Dieser Vorbehalt des § 7 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2b SGB II gälte - wie das
BSG zur alten Rechtslage ebenfalls ausdrücklich klargestellt hat (vgl BSG aaO) - nicht für Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch
- Sozialhilfe - (SGB XII). In Ansehung der Rechtsprechung des BSG bestehen auch erhebliche Zweifel, ob der vom Gesetzgeber
insoweit als Klarstellung gedachte (parallele) Leistungsausschluss in § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII grundgesetzkonform
ist. Das BSG hat in der zitierten Rspr, der das Beschwerdegericht folgt, unmissverständlich auf Grundlage der Entscheidungen
des BVerfG einen Anspruch von Betroffenen, wie der Antragstellerin, auf Grundlage des Grundrechts auf Gewährleistung eines
menschenwürdigen Existenzminimums, dh unmittelbar kraft Verfassungsrechts, bekräftigt. Dies gilt unverändert auch in Ansehung
der seit 29. Dezember 2016 erfolgten gesetzlichen Neuregelung, die sich ebenfalls am Grundgesetz messen lassen muss. Die Antragstellerin,
die sich in der Bundesrepublik Deutschland erlaubt aufhält (vgl Art. 10 VO EU 492/2011) dürfte von den Leistungen des §
23 Abs. 1 SGB XII im Übrigen auch nicht gemäß § 21 Satz 1 SGB XII (durch das Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer
Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften
Buch Sozialgesetzbuch vom 22. Dezember 2016 BGBl 2016 Teil I S 3155 hat der Gesetzgeber anerkannt, dass die in § 7 Absatz
1 Satz 2 Nr. 2 SGB II "genannten erwerbsfähigen Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen dem Leistungssystem
des SGB XII zugewiesen" sind vgl BT-Drucks 18/10211 S. 14) ausgeschlossen sein. Der Antragsgegner wäre zwar für die Erbringung
von SGB XII-Leistungen nicht zuständig, zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes gerade bei Leistungen der Existenzsicherung
ist vorliegend aber auf die Wertung des § 43 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB I) zurückzugreifen.
Danach sind, wenn zwischen mehreren Trägern streitig ist, wer zur Leistung verpflichtet ist, vorläufige Leistungen vom unzuständigen
Träger zu erbringen, wenn der Berechtigte es beantragt. Dies rechtfertigt zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes gerade im
Hinblick auf die ungeklärte Arbeitnehmereigenschaft die einstweilige Verpflichtung des Antragsgegners. Dieser ist, sollte
sich im Hauptsacheverfahren im Ergebnis ein SGB II-Leistungsausschluss und ein Anspruch nach dem SGB XII ergeben, dann insoweit
auf einen Erstattungsanspruch gegenüber dem Beigeladenen zu verweisen, zumal er den Leistungsantrag augenscheinlich auch nicht
an diesen Träger weitergeleitet hat. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Der - bedürftigen - Antragstellerin war für beide Instanzen Prozesskostenhilfe zu gewähren (vgl § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG iVm
§ 114 Zivilprozessordnung).
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG nicht mit der Beschwerde an das BSG anfechtbar.