Grundsicherung für Arbeitsuchende - abschließende Entscheidung nach vorläufiger Leistungsbewilligung - Erstattungsforderung
- Pflicht zum Nachweis leistungserheblicher Tatsachen - Unvollständigkeit der Nachweise nach Ablauf der gesetzten Frist -
Vorlage der fehlenden Unterlagen erst im Klageverfahren
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit einer endgültigen Leistungsfestsetzung für die Zeit vom 1. Oktober 2017 bis
zum 31. März 2018 sowie damit einhergehende Erstattungsforderungen.
Der 1970 geborene Kläger zu 1. steht seit 2010 im Bezug von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) beim Beklagten. Er ist seit 2016 als Werbetechniker selbständig tätig.
Mit Bescheid vom 19. Oktober 2017 (Bewilligungszeitraum 1.10.2017 bis 31.3.2018) und Änderungsbescheiden vom 25. November
2017 (1.1.2018 bis 31.3.2018), 11. Dezember 2017 (1.11.2017 bis 31.3.2018) sowie 8. Januar 2018 (1.1.2018 bis 31.1.2018) bewilligte
der Beklagte dem Kläger zu 1. und den mit ihm in der Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen – seiner Ehefrau N.T. (Klägerin
zu 2.), dem 2011 geborenen Sohn E. (Kläger zu 3.) sowie dem 2000 geborenen Sohn M. (Kläger zu 4.) vorläufig Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II und zwar für Oktober 2017 i.H.v. 188,40 Euro, für November 2017 i.H.v. 782,21 Euro, für Dezember 2017 i.H.v. 247,09 Euro,
für Januar 2018 i.H.v. 393,95 Euro, für Februar 2018 i.H.v. 263,73 Euro sowie für März 2018 i.H.v. 263,04 Euro. Sämtliche
Änderungsbescheide enthielten den Hinweis auf die Vorläufigkeit der Bewilligung.
Mit Schreiben vom 7. Mai 2018 forderte der Beklagte vom Kläger zu 1. zur Berechnung des endgültigen Leistungsanspruchs hinsichtlich
des Zeitraums vom 1. Oktober 2017 bis zum 31. März 2018 eine abschließende Erklärung zum Einkommen aus selbständiger Tätigkeit
(EKS), Nachweise über sämtliche Einnahmen und Ausgaben sowie Kontoauszüge aller privaten und geschäftlichen Konten für diesen
Zeitraum und setzte hierfür eine Frist bis zum 10. Juli 2018. Der Beklagte wies darauf hin, dass nach Ablauf der genannten
Frist eingereichte Unterlagen nicht mehr berücksichtigt werden könnten.
Mit an den Kläger zu 1. adressiertem Bescheid vom 11. März 2019 stellte der Beklagte, gestützt auf § 41a Abs. 3 Satz 3 und 4 SGB II, fest, dass für die Zeit vom 1. Oktober 2017 bis zum 31. März 2018 ein Leistungsanspruch nicht bestanden habe, da trotz der
Aufforderung vom 7. Mai 2018, fehlende Unterlagen bis zum 10. Juli 2018 einzureichen, bisher die abschließende EKS für den
genannten Zeitraum mit Angaben über die tatsächlichen Einnahmen und Ausgaben, die einzelnen Nachweise sämtlicher Ein- und
Ausgaben in zeitlicher Reihenfolge und nach einzelnen Posten sortiert sowie Kontoauszüge aller privaten und geschäftlichen
Konten nicht eingereicht worden seien.
Am 18. März 2019 reichte der Kläger zu 1. einen Ordner mit Betriebsunterlagen ein, darin enthalten eine ausgefüllte Anlage
EKS für den Zeitraum ab April 2018 sowie eine weitere Anlage EKS, die nach ihrer Seite 1 den Zeitraum vom 1. Oktober 2017
bis zum 31. März 2018 betreffen sollte, während auf den nachfolgenden Seiten die Spalten mit April 2018, Mai 2018, Juni 2018,
Juli 2018, August 2018 sowie März 2018 überschrieben waren und keine Eintragungen enthielten. Zudem reichte der Kläger zu
1. zahlreiche chronologisch sortierte Belege aus dem streitgegenständlichen Zeitraum ein.
Gegen den Bescheid vom 11. März 2019 erhob der Kläger zu 1. am 25. März 2019 Widerspruch mit der Begründung, dass er die angeforderten
Unterlagen am 18. März 2019 am Empfang im Jobcenter abgegeben habe. Er habe den Beklagten zuvor darüber informiert, dass sein
Steuerberater die Unterlagen benötigt habe, um den Jahresabschluss für das Finanzamt zu erstellen, wobei es aufgrund zweimaliger
Umzüge des Steuerberaters zu Verzögerungen gekommen sei. Schließlich habe er den Jahresabschluss selbst erstellt und sofort
im Anschluss die Unterlagen mit der abschließenden EKS eingereicht.
Mit Widerspruchsbescheid vom 11. Dezember 2019 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Der Kläger zu 1.
habe im Rahmen des Widerspruchsverfahrens zwar nun Belege über die Betriebseinnahmen und -ausgaben für den Zeitraum vom 1.
Oktober 2017 bis zum 31. März 2018 eingereicht, jedoch keine ausgefüllte Anlage EKS, anhand derer die Betriebseinnahmen und
-ausgaben abschließend hätten geklärt werden können. Ohne die abschließende EKS für den genannten Zeitraum aber habe das Einkommen
aus selbständiger Tätigkeit nicht berechnet werden können. Daher sei die abschließende Leistungsbewilligung vom 11. März 2019
rechtmäßig.
Hiergegen hat der Kläger zu 1. am 8. Januar 2020 Klage erhoben. Er hat sein Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt
und darauf hingewiesen, dass seine Unterlagen bei der Abgabe am 18. März 2019 auf Vollständigkeit überprüft worden seien.
Es stimme nicht, dass die Anlage EKS nicht beigelegen habe. Er reiche diese nochmals ein. Im Übrigen könne die Mitwirkungspflicht
auch noch im Klageverfahren nachgeholt werden, da die endgültige Bewilligung erst mit Bestandskraft des Bescheides erfolge.
Es werde auf die Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) vom 12. September 2018 (B 4 AS 39/17 R) sowie des Landessozialgerichts (LSG) Hamburg vom 25. Januar 2018 (L 4 AS 72/17) hingewiesen. Da selbst solche Unterlagen, die erst im Überprüfungsverfahren nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) nachgereicht würden, noch Berücksichtigung fänden, müsse dies für im Klageverfahren vorgelegte Unterlagen erst recht gelten.
Zudem hätte der Beklagte darauf aufmerksam machen müssen, dass bei der Erstellung der EKS ein Fehler unterlaufen sei.
Der Beklagte hat mit Schriftsatz vom 31. März 2020 die Klage erwidert, einen Ausdruck aus seiner elektronisch geführten Akte
übersandt und erklärt, eine weitere Akte mit abschließenden Unterlagen des Klägers für den streitigen Zeitraum nachzureichen,
da diese noch vom Jobcenter für Selbständige ausgewertet werde. Diese Unterlagen sind am 29. Oktober 2020 beim Sozialgericht
eingegangen.
Mit Schriftsatz vom 5. Januar 2021 hat der Kläger zu 1. eine vollständig ausgefüllte EKS für den Zeitraum vom 1. Oktober 2017
bis zum 31. März 2018 beigereicht. Danach standen der Summe der Betriebseinnahmen von 14.470,80 Euro Betriebsausgaben von
15.481,39 Euro gegenüber.
Der Beklagte ist der Klage entgegengetreten, hat auf den Widerspruchsbescheid verwiesen und ergänzend ausgeführt, die im Klageverfahren
nachgereichte Anlage EKS sei verspätet eingereicht worden und damit nicht mehr zu berücksichtigen. Diese Auffassung vertrete
auch das Sozialgericht Hamburg in seinem Urteil vom 18. Mai 2020 (S 17 AS 3285/18) sowie das Sozialgericht Dortmund in seinem Urteil vom 8. Dezember 2017 (S 58 AS 2170/17).
Mit drei Bescheiden vom 24. Januar 2020 hat der Beklagte Erstattung von Leistungen für den Zeitraum vom 1. Oktober 2017 bis
zum 31. März 2018 verlangt und zwar vom Kläger zu 1. i.H.v. 680,56 Euro, von der Klägerin zu 2. selbst i.H.v. 680,56 Euro
und als gesetzliche Vertreterin des Klägers zu 3. i.H.v. 367,31 Euro sowie vom Kläger zu 4. i.H.v. 439,99 Euro. Die Bescheide
enthielten den Hinweis, sie würden „Gegenstand des Klagverfahrens (§
96 Sozialgerichtsgesetz –
SGG)“.
Mit Schreiben vom 26. Februar 2021 hat das Sozialgericht darauf hingewiesen, dass mit einer Zurückverweisung an den Beklagten
nach §
131 Abs.
5 SGG zu rechnen sei und hat zu einer beabsichtigten Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört.
Mit Gerichtsbescheid vom 18. März 2021 hat das Sozialgericht, auf den Antrag des Klägers zu 1. hin, den Bescheid vom 11. März
2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Dezember 2019 sowie die Erstattungsbescheide vom 24. Januar 2020 aufzuheben
und den Beklagten zu verpflichten, Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe zu gewähren, „den Bescheid vom 11.03.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.12.2019 sowie
die Erstattungsbescheide vom 24.01.2020“ aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung „über die Leistungsansprüche im
Zeitraum vom 01.10.2017 bis zum 31.03.2018“ an den Beklagten zurückverwiesen. Im Rubrum des Gerichtsbescheides ist allein
der Kläger zu 1. genannt worden.
Das Sozialgericht hat ausgeführt, der Vortrag des Klägers zu 1. sei dahingehend zu verstehen, dass er sinngemäß beantrage,
den Bescheid vom 11. März 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11. Dezember 2019 sowie „die Erstattungsbescheide
vom 24.01.2020“ aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Mit der statthaften kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach §
54 Abs.
1 Satz 1, Abs.
4 SGG erstrebe der Kläger zu 1. die Aufhebung der Null-Festsetzung und höhere Leistungen als die vorläufig zuerkannten. Die Klage
sei im Sinne der Aufhebung der angefochtenen Bescheide sowie im Übrigen im Sinne der Zurückverweisung nach §
131 Abs.
5 SGG begründet. Denn dem Kläger zu 1. würden im streitbefangenen Zeitraum voraussichtlich existenzsichernde Leistungen abschließend
zuzuerkennen sein, und ihre Bemessung erfordere weitere Sachverhaltsermittlungen. Rechtsgrundlage der für den hier streitbefangenen
Bewilligungszeitraum noch zu treffenden abschließenden Entscheidung sei in materiell-rechtlicher Hinsicht § 19 SGB II i.V.m. §§ 7 ff. und §§ 20 ff. SGB II. Der Kläger zu 1. erfülle die Grundvoraussetzungen, um Arbeitslosengeld II zu erhalten (§ 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II); ein Ausschlusstatbestand sei nicht ersichtlich. Ebenso spreche nach den Feststellungen zu seinen Angaben im Widerspruchsverfahren
über die betrieblichen Einnahmen und Ausgaben in den jeweiligen Bewilligungszeiträumen nichts dafür, dass er in dieser Zeit
nicht hilfebedürftig gewesen sei (§ 9 Abs. 1 SGB II). Darauf stelle auch der Beklagte nicht ab. Jedoch sei offen, in welcher Höhe existenzsichernde Leistungen abschließend zuzuerkennen
und inwieweit vorläufig erbrachte Leistungen zu erstatten seien. Bei seiner Entscheidung habe der Beklagte sämtliche für den
streitgegenständlichen Zeitraum vorliegenden Unterlagen zu berücksichtigen. Dies gelte auch für die im Klageverfahren eingereichten
Unterlagen. In der Rechtsprechung des BSG zu § 41a Abs. 3 SGB II sei bereits geklärt, dass erstmals im Widerspruchsverfahren vorgelegte Unterlagen bei der abschließenden Entscheidung zu
berücksichtigen seien (Verweis auf Urteil vom 12.9.2018, a.a.O.). Die dem Leistungsberechtigten gesetzte Frist sei damit gegenüber
dem Zeitpunkt des Abschlusses des Widerspruchsverfahrens, d.h. der abschließenden Entscheidung, nachrangig. Noch nicht geklärt
habe das BSG, ob und ggf. inwieweit § 41a SGB II eine materielle Präklusionswirkung zukomme, d.h., ob die Vorschrift die Berücksichtigung von Vorbringen aus dem gerichtlichen
Verfahren ausschließe, so dass für die gerichtliche Überprüfung – abweichend vom „Normalfall“ der prozessualen Verpflichtungssituation
– nicht auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz, sondern auf den Zeitpunkt des Abschlusses
des Verwaltungsverfahren abzustellen wäre. Letztlich müsse dies für den vorliegenden Fall jedoch nicht entschieden werden.
Denn allein die Möglichkeit, dass durch § 41a Abs. 3 SGB II Vorbringen des Leistungsberechtigten präkludiert werde, wirke sich unmittelbar auf die Belehrungspflicht nach § 41a Abs. 3 Satz 3 SGB II aus. Mit Blick auf das Rechtsstaatsprinzip aus Art.
20 Abs.
3 Grundgesetz müsse dem Leistungsberechtigten durch Belehrung verdeutlicht werden, dass er neue Tatsachen nur noch bis zum Erlass des Widerspruchsbescheids
vorbringen könne. Im vorliegenden Fall habe der Kläger zu 1. sämtliche Unterlagen – die unterschriebene Anlage EKS sowie sämtliche
Belege, d.h. Ein- und Ausgabenbelege sowie die Kontoauszüge, chronologisch geordnet – während des Verwaltungsverfahrens für
den Zeitraum vom 1. Oktober 2017 bis zum 31. März 2018 eingereicht. Darauf, dass die eingereichte Anlage EKS unvollständig
gewesen sei, hätte der Beklagte den Kläger zu 1. vor Erlass des abschlägigen Widerspruchsbescheides hinweisen müssen, denn
aufgrund der eingereichten chronologisch sortierten Ein- und Ausgabenbelege sowie der Kontoauszüge, die ungeachtet des Fristablaufs
zu berücksichtigen gewesen seien, sei offensichtlich gewesen, dass der Sachverhalt eine weitere Aufklärung erfordert habe.
Hiervon ausgehend sei die Belehrung im Anforderungsschreiben vom 7. Mai 2018 in zweifacher Hinsicht fehlerhaft. Sie lenke
zunächst – unzutreffend – den Fokus auf die gesetzte Frist und lasse des Weiteren unerwähnt, dass eine Berücksichtigung von
Tatsachenvorbringen im gerichtlichen Verfahren nicht erfolgen werde. Damit fehle es an einer Belehrung über die (möglichen)
Rechtsfolgen, wie dies in § 41a Abs. 3 SGB II angeordnet werde. Ausgehend von der Fehlerhaftigkeit der Belehrung könnte das Gericht eine Überprüfung der Null-Festsetzung
unter Einbezug der im gerichtlichen Verfahren eingereichten vollständigen EKS vornehmen. Jedoch sei davon auszugehen, dass
die Auswertung von Unterlagen zur Gewinnermittlung eines Selbständigen regelmäßig einen erheblichen Aufwand verursache. Hier
habe der Kläger zu 1. zum einen beim Beklagten einen Aktenordner mit Abrechnungsunterlagen eingereicht. Zum anderen seien
Ausgaben ggf. gemäß § 3 Abs. 3 der Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosengeld II/Sozialgeld (ALG II-V) nicht in voller Höhe abzusetzen oder Einnahmen angemessen zu erhöhen. Des Weiteren sei eine Sachprüfung durch den Beklagten
trotz des damit verbundenen Verwaltungsaufwandes unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich. Es sei zwar
Aufgabe des Gerichts, den Sachverhalt in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht umfassend nachzuprüfen, nicht indes, anstelle
der Behörde erstmals umfassende Sachverhaltsaufklärung zu betreiben und den Leistungsanspruch zu berechnen. So, wie eine unvollständige
Sachverhaltsaufklärung grundsätzlich die Aufhebung der Entscheidung zur Folge habe, seien im vorliegenden Fall der Verwaltungsakt,
der Widerspruchsbescheid sowie die Erstattungsbescheide aufzuheben. Da zudem die noch erforderlichen Ermittlungen nach Art
oder Umfang erheblich seien, sei die Sache zur erneuten Entscheidung an den Beklagten zurückzugeben. Die Frist des §
131 Abs.
5 Satz 5
SGG von sechs Monaten nach Eingang der vollständigen Verwaltungsvorgänge bei Gericht sei noch nicht abgelaufen, weil der Beklagte
die Betriebsakte erst am 29. Oktober 2020 vorgelegt habe.
Der Beklagte hat am 31. März 2021 Berufung eingelegt.
Er meint, der Kläger zu 1. sei nicht unrichtig über die Rechtsfolgen des § 41a Abs. 3 Satz 3 und 4 SGB II belehrt worden bzw. eine nach Auffassung des Gerichts unrichtige Belehrung sei nicht kausal geworden. Bei wortgetreuer Auslegung
von § 41a Abs. 3 Satz 3 und 4 SGB II beziehe sich die Frage der Belehrung über die Rechtsfolgen ohnehin nur auf diejenigen Fälle, in denen eine Einreichung nicht
fristgemäß erfolgt sei. Bei nicht erfolgter oder nicht vollständiger Vorlage der Unterlagen bis zum Zeitpunkt der Verwaltungsentscheidung,
komme es auch auf eine Belehrung und eine Fristsetzung nicht an. Hierbei müsse natürlich dem Betroffenen die Möglichkeit eingeräumt
werden, die Unterlagen einzureichen, weshalb eine Frist zur Einreichung selbstverständlich einzuräumen sei. Auch müsse der
Betroffene wissen, was ihm drohe, sollte er nicht mitwirken. Eine solche Belehrung sei jedoch auch bereits im vorläufigen
Bewilligungsbescheid enthalten. Die Belehrung sei grundsätzlich auf die gesetzliche Vorschrift zu stützen. Dies sei vorliegend
geschehen. Sie beziehe sich auch ausschließlich auf das Verwaltungsverfahren und nicht auf ein etwaiges späteres Widerspruchs-
oder gar Klageverfahren. Durch den Umstand, dass der Kläger zu 1. vorliegend Widerspruch eingelegt habe, sei ihm hinsichtlich
der Belehrung kein Nachteil entstanden. Vielmehr habe sich die Ausschlussfrist nach hinten verschoben. Im Klageverfahren nachgereichte
Unterlagen seien nicht mehr zu berücksichtigen. Zwar habe das BSG dies in Bezug auf das Widerspruchsverfahren entsprechend entschieden, dies aber nur, da es sich um die letzte Verwaltungsentscheidung
handele. Hierin liege auch der entscheidende Unterschied: Statthafte Klageart sei vorliegend eine Anfechtungsklage, wie etwa
auch bei einer Klage gegen einen Versagungs- oder Entziehungsbescheid nach §
66 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB I). Auch dort sei bei vollständiger Nachholung der Mitwirkung im Widerspruchsverfahren der Versagungs- bzw. Entziehungsbescheid
unter einer negativen Kostenentscheidung aufzuheben, während im Klageverfahren lediglich zu prüfen bleibe, ob die Mitwirkung
zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung vorgelegen habe. Nichts Anderes könne hier gelten. Der Umstand, dass im
Falle des § 41a Abs. 3 SGB II eine Nachholungsnorm, wie die des §
67 SGB I, vom Gesetzgeber nicht vorgesehen worden sei, stelle keine gesetzliche Lücke dar, sondern sei Ausdruck des Umstandes, dass
§ 41a Abs. 3 Satz 3 und 4 SGB II stets Leistungen für die Vergangenheit betreffe und der Lebensunterhalt des Betroffenen bereits gesichert gewesen sei. Der
Leistungsträger könne daher erwarten, dass der Betroffene zeitnah, d.h. fristgemäß, nachweise, dass er die vorläufig ausgezahlten
Leistungen zu Recht erhalten habe.
Der Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 18. März 2021 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigen die Entscheidung des Sozialgerichts.
Am 27. Januar 2022 hat ein Termin zur mündlichen Verhandlung stattgefunden. Der Senat hat darin das Rubrum um die Kläger zu
2. bis 4. ergänzt. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Niederschrift der mündlichen Verhandlung,
die übrige Prozessakte sowie den Verwaltungsvorgang des Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung des Beklagten ist zulässig (I.), aber unbegründet (II.).
I. Die Berufung ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt worden (§
151 SGG) und auch statthaft (§§
143,
144 SGG). Der Wert des Beschwerdegegenstandes übersteigt 750 Euro (§
144 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGG), da das Sozialgericht über den Leistungsanspruch sämtlicher Kläger und die gegen sie gerichteten Erstattungsforderungen
des Beklagten entschieden hat. Zwar ist im Rubrum des angegriffenen Gerichtsbescheides lediglich der Kläger zu 1. aufgeführt.
Das Sozialgericht hat aber neben dem endgültigen Festsetzungsbescheid vom 11. März 2019 „die Erstattungsbescheide“ vom 24.
Januar 2020, von denen sämtliche Kläger betroffen sind, aufgehoben, womit für den unterlegenen Beklagten der Beschwerdewert
erreicht wird.
II. Die Berufung bleibt in der Sache ohne Erfolg.
1. Gegenstand des Berufungsverfahrens sind neben dem Gerichtsbescheid des Sozialgerichts vom 18. März 2021 und dem Festsetzungsbescheid
vom 11. März 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Dezember 2019 auch die an die Kläger gerichteten drei Erstattungsbescheide
vom 24. Januar 2020. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob diese – wie vom Beklagten in den Erstattungsbescheiden mitgeteilt
– bereits über §
96 Abs.
1 SGG Gegenstand des im Zeitpunkt ihres Erlasses anhängigen Klageverfahrens gegen den endgültigen Festsetzungsbescheid geworden
sind (dazu unter a)) oder ob Ihre Einbeziehung im Wege der gewillkürten Klageänderung gemäß §
99 SGG erfolgt ist (dazu unter b)).
a) Nach §
96 Abs.
1 SGG wird ein neuer Verwaltungsakt nach Klageerhebung „nur dann“ Gegenstand des Klageverfahrens, wenn er nach Erlass des Widerspruchsbescheides
ergangen ist und den angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt. Voraussetzung für die Anwendung des §
96 Abs.
1 SGG ist eine zumindest teilweise Identität der Regelungsgegenstände beider Verwaltungsakte, die durch einen Vergleich beider
Verfügungssätze sowie des zugrundeliegenden Sachverhaltes zu ermitteln sind; ein bloßer Sachzusammenhang genügt nicht (BSG, Urteil vom 3.9.2020 – B 14 AS 55/19 –, mit Verweis auf Urteil vom 28.10.2014 – B 14 AS 39/13 R). Dem BSG zufolge (Urteil vom 3.9.2020, a.a.O.) wird ein Erstattungsbescheid, der – anders als hier – entsprechend der Soll-Regelung
des § 50 Abs. 3 Satz 2 SGB X mit einer Aufhebungsentscheidung verbunden worden ist, in das Klageverfahren gegen die ursprünglich streitbefangene Bewilligungsentscheidung
einbezogen, da er die angegriffene Leistungsbewilligung i.S.d. §
96 SGG ersetzt. Offengelassen hat es das BSG (a.a.O.) hingegen, ob §
96 SGG auch dann Anwendung findet, wenn – wie vorliegend – allein die Aufhebungsentscheidung angefochten worden ist und im Laufe
dieses Klageverfahrens der Erstattungsbescheid ergeht (ablehnend für diese Konstellation Bienert, NZS 2011, 732, 734, unter Hinweis auf das Fehlen einer zumindest teilweisen Identität der Verfügungssätze; für eine Anwendung des §
96 Abs.
1 SGG hingegen LSG Sachsen, Urteil vom 3.6.2021 – L 7 AS 1044/18 –, in einem Fall, bei dem während des Klageverfahrens gegen einen vorläufigen Bewilligungsbescheid zunächst die endgültige
Bewilligung und nachfolgend der Erstattungsbescheid ergangen war.).
b) Jedenfalls aber wären die Erstattungsbescheide vorliegend gemäß §
99 Abs.
1 und
2 SGG Gegenstand des Verfahrens vor dem Sozialgericht geworden.Nach §
99 Abs.
1 SGG ist eine Änderung der Klage nur zulässig, wenn die übrigen Beteiligten einwilligen oder das Gericht die Änderung für sachdienlich
hält. Eine Klageänderung (in Form der Klageerweiterung) liegt auch dann vor, wenn ein weiteres Klagebegehren einbezogen, z.B.
ein Folgebescheid mitangefochten wird, der nicht schon nach §
96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden ist (B. Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 13. Aufl. 2020, §
99 Rn. 2a). So läge es hier in Bezug auf die Erstattungsbescheide, sofern man eine Einbeziehung über §
96 SGG ausschließen wollte. Bereits das Sozialgericht hat das ursprünglich auf die Aufhebung des endgültigen Festsetzungsbescheides
in Gestalt des Widerspruchsbescheides gerichtete Begehren des Klägers nach Erlass der Erstattungsbescheide vom 24. Januar
2020 dahingehend verstanden, dass es sich nunmehr auch auf die Aufhebung dieser Bescheide erstreckt. Es hat in den Entscheidungsgründen
zwar nicht dargelegt, ob diese Bescheide nach §
96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden sind oder ob eine Klageänderung nach §
99 SGG vorliegt. Sollten die Voraussetzungen des §
96 SGG aber nicht vorliegen, ist davon auszugehen, dass das Sozialgericht – stillschweigend – von einer zulässigen Klageänderung
ausgegangen ist. Dies entspricht dem Zweck des §
123 SGG, das wirkliche Rechtsschutzziel des Klägers zu ermitteln. Der Beklagte hat auch durch den Hinweis auf §
96 SGG in den Erstattungsbescheiden in die Klageänderung eingewilligt; darüber hinaus war die Klageänderung aber auch sachdienlich,
da der Streitstoff identisch war und durch die Einbeziehung der Erstattungsbescheide in das Verfahren ein weiterer Prozess
vermieden werden konnte (vgl. B. Schmidt, a.a.O., Rn. 10; Roller, in: Berchtold,
SGG, 6. Aufl. 2021, §
99 Rn. 13).
2. Streitgegenständlich sind die Individualansprüche sämtlicher Kläger im Zeitraum vom 1. Oktober 2017 bis zum 31. März 2018.
Dem steht nicht entgegen, dass das Sozialgericht fehlerhaft das Aktivrubrum nicht um die Kläger zu 2. bis 4. erweitert hat.
Auch sie haben fristgerecht gegen den Widerspruchsbescheid vom 19. Dezember 2019 Klage erhoben. Die Klageschrift des Klägers
zu 1. ist als Klage aller Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft auszulegen. Denn zur Bestimmung des Inhalts einer Klageschrift
ist nicht allein von ihrem Wortlaut und den in ihr enthaltenen Anträgen auszugehen; vielmehr ist das hinter diesem Wortlaut
liegende wahre Begehren zu erforschen (LSG Sachsen, Urteil vom 10.12.2020 – L 3 AS 505/18). Dafür sind das gesamte klägerische Vorbringen und alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, und es ist davon auszugehen,
dass die Kläger eine möglichst weitgehende Verwirklichung ihres Begehrens anstreben (vgl. BSG, Beschluss vom 28.11.2007 – B 11a/7a AL 34/07 B). Vor diesem Hintergrund besteht kein Zweifel, dass der Kläger zu 1. die
Klage auch im Namen seiner gleichermaßen von der Entscheidung des Beklagten belasteten Familienmitglieder, der weiteren Mitglieder
der Bedarfsgemeinschaft, hat erheben wollen. Dies stand im Übrigen auch für den Beklagten zu keiner Zeit in Frage. Überdies
setzt die vom Sozialgericht tenorierte Aufhebung – sämtlicher – „Erstattungsbescheide vom 24.01.2020“ die Aufhebung auch des
Festsetzungsbescheides vom 11. März 2019 in Bezug auf die Kläger zu 2. bis 4. voraus. Auch daraus wird deutlich, dass das
Sozialgericht über die Ansprüche sämtlicher Kläger hat entscheiden wollen.
3. Die so verstandene Klage ist zulässig.
Statthafte Klageart ist vorliegend die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§
54 Abs.
4 SGG). Die im Klageverfahren vorgelegte EKS, der zufolge ein negatives Betriebsergebnis im streitbefangenen Zeitraum erzielt wurde,
lässt den sicheren Schluss zu, dass die Kläger die Festsetzung höherer Leistungen, als ihnen vorläufig bewilligt worden waren,
begehren.
Ginge man davon aus, dass die Erstattungsbescheide vom 24. Januar 2020 im Wege der gewillkürten Klageänderung nach §
99 SGG in das Verfahren einbezogen worden sind, wäre auch diese geänderte Klage zulässig gewesen. Insbesondere bedurfte es bezüglich
der Erstattungsbescheide ausnahmsweise keines Widerspruchsverfahrens als Klagevoraussetzung (§
78 Abs.
1 Satz 1
SGG). Ein förmliches Widerspruchsverfahren ist verzichtbar, wenn die prozessführende Behörde mit der Widerspruchsbehörde identisch
ist, die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes im gerichtlichen Verfahren verteidigt wird und Fragen des Ermessens
oder der Zweckmäßigkeit des Verwaltungshandelns keine Rolle spielen, so dass das Prozessvorbringen seinem Inhalt nach einer
Widerspruchsentscheidung entspricht oder daraus jedenfalls mit Sicherheit zu entnehmen ist, dass auch bei Nachholung des Widerspruchsverfahrens
eine gerichtliche Auseinandersetzung nicht zu vermeiden ist. In diesen Fällen könnte das Widerspruchsverfahren seinen Zweck,
die Verwaltung in die Lage zu versetzen, ihr Handeln im Wege der Selbstkontrolle zu überprüfen und die Gerichte vor unnötiger
Inanspruchnahme zu schützen, nicht mehr erreichen. Seine Durchführung wäre ein reiner Formalismus. Das Ziel der Verfahrensbeschleunigung
hat in solchen Fällen Vorrang vor der Einhaltung der Förmlichkeiten (BSG, Urteil vom 15.8.1996 – 9 RVs 10/94; vgl. auch BSG, Urteil vom 27.8.1998 – B 9 SB 13/97 R). So läge es hier. Die prozessführende Rechtsstelle des Beklagten ist auch für die Widerspruchsentscheidung zuständig. Die
vom Beklagten geltend gemachten Erstattungsforderungen beruhen auf § 41a Abs. 6 Satz 3 SGB II und sind Folge der abschließenden Entscheidung nach § 41a Abs. 3 SGB II, der insoweit Tatbestandswirkung zukommt, so dass eine Zurückweisung der Widersprüche der Kläger gegen die Erstattungsbescheide
sicher und damit ein weiteres gerichtliches Verfahren notwendig gewesen wäre. Die Erstattungsvorschrift des § 41a Abs. 6 Satz 3 SGB II beinhaltet auch eine gebundene Entscheidung.
4. Die Klage ist auch begründet.
Nach §
131 Abs.
5 SGG kann das Gericht, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, wenn
es eine weitere Sachaufklärung für erforderlich hält, die noch erforderlichen Ermittlungen nach Art oder Umfang erheblich
sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Dies gilt auch bei Klagen
auf Erlass eines Verwaltungsaktes. Die Entscheidung kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht
ergehen. Der Streitstoff beschränkt sich aufgrund der Zurückverweisungsentscheidung des Sozialgerichts nach §
131 Abs.
5 SGG auf die Frage, ob den Klägern im streitbefangenen Zeitraum voraussichtlich existenzsichernde Leistungen abschließend zuzuerkennen
sein werden und ihre Bemessung weitere Sachverhaltsermittlungen erfordert.
Dies ist vorliegend der Fall. Der Bescheid vom 11. März 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Dezember 2019 ist
rechtswidrig (dazu unter a)), woraus zugleich die Rechtswidrigkeit der Erstattungsbescheide vom 24. Januar 2020 folgt (dazu
unter b)). Die Entscheidung des Sozialgerichts, die Klage nach §
131 Abs.
5 SGG an den Beklagten zurückzuverweisen, ist nicht zu beanstanden (dazu unter c)).
a) Die endgültige Leistungsablehnung durch den Beklagten ist rechtswidrig. Die Kläger haben voraussichtlich Anspruch auf Leistungen
nach dem SGB II im streitigen Zeitraum.
Rechtsgrundlage des vorläufigen Leistungsbescheids für den Bewilligungszeitraum von Oktober 2017 bis März 2018 war § 41a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 3 SGB II (in der ab 1.8.2016 geltenden Fassung des 9. SGB II-ÄndG). Hiernach hat das Jobcenter über die Erbringung von Geldleistungen vorläufig zu entscheiden, wenn – wie hier wegen
der ungewissen Einnahmen und Ausgaben des Klägers zu 1. aus selbständiger Tätigkeit – zur Feststellung der Voraussetzungen
des Anspruchs auf Geldleistungen voraussichtlich längere Zeit erforderlich war, die Voraussetzungen für den Anspruch mit hinreichender
Wahrscheinlichkeit vorlagen und der Leistungsberechtigte die Umstände, die einer sofortigen abschließenden Entscheidung entgegenstehen,
nicht zu vertreten hat. Die endgültige Entscheidung misst sich an § 19 i.V.m. §§ 7 ff. und §§ 20 ff. SGB II.
Die bislang erfolgten Ermittlungen des Beklagten erlauben noch keine abschließende Entscheidung über die den Klägern endgültig
zuzuerkennenden Leistungen. Die Kläger erfüllen die Grundvoraussetzungen, um Leistungen nach dem SGB II zu erhalten (§ 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II); ein Ausschlusstatbestand lag ebenfalls nicht vor. Ebenso spricht nach den Angaben des Klägers zu 1. über die betrieblichen
Einnahmen und Ausgaben im Bewilligungszeitraum von Oktober 2017 bis März 2018 nichts dafür, dass die Kläger in dieser Zeit
nicht hilfebedürftig waren (§ 9 Abs. 1 SGB II). Ausweislich der beigereichten EKS hat der Kläger zu 1. in dieser Zeit einen Verlust von 1.010,59 Euro erwirtschaftet. Unter
Zugrundelegung eines Gesamtbedarfs für die Bedarfsgemeinschaft in Höhe von über 2.000 Euro und Anrechnung des Kindergeldes
für die Kläger zu 3. und 4. würde sich im streitigen Zeitraum ein Leistungsanspruch errechnen.
Die Kläger sind auch nicht deswegen von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen, weil die vom Kläger
zu 1. erst im Klageverfahren erfolgten Angaben und vorgelegten Unterlagen nach § 41a Abs. 3 SGB II unbeachtlich wären. Nach § 41a Abs. 3 SGB II sind die leistungsberechtigte Person und die mit ihr in Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen nach Ablauf des Bewilligungszeitraums
verpflichtet, die von den Trägern der Grundsicherung für Arbeitsuchende zum Erlass einer abschließenden Entscheidung geforderten
leistungserheblichen Tatsachen nachzuweisen; die §§
60,
61,
65 und
65a SGB I gelten entsprechend. Kommen die leistungsberechtigte Person oder die mit ihr in Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen ihrer
Nachweis- oder Auskunftspflicht bis zur abschließenden Entscheidung nicht, nicht vollständig oder trotz angemessener Fristsetzung
und schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen nicht fristgemäß nach, setzt der Beklagte den Leistungsanspruch für diejenigen
Kalendermonate nur in der Höhe abschließend fest, in welcher seine Voraussetzungen ganz oder teilweise nachgewiesen wurden.
Für die übrigen Kalendermonate wird festgestellt, dass ein Leistungsanspruch nicht bestand. Der Kläger zu 1. ist der Aufforderung
des Beklagten vom 7. Mai 2018, eine abschließende Erklärung zum Einkommen aus selbständiger Tätigkeit nebst weiteren Nachweisen
vorzulegen, nicht vollständig innerhalb der – angemessenen – Frist bis zum 10. Juli 2018 nachgekommen. Im Klageverfahren hat
der Kläger jedoch nunmehr die geforderten Mitwirkungshandlungen vorgenommen und die angeforderten Unterlagen vorgelegt.
Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts können Unterlagen auch nach Ablauf der von dem Beklagten gesetzten Frist
bis zur abschließenden Entscheidung im Verwaltungsverfahren noch nachgereicht werden (BSG, Urteil vom 12.9.2018 – B 14 AS 4/18 R). Das Tatbestandsmerkmal „Kommen die leistungsberechtigte Person oder die mit ihr in Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen
ihrer Nachweis- oder Auskunftspflicht … nicht fristgemäß nach“ könne nicht dahin verstanden werden, dass es die Berücksichtigung
von nach Fristablauf vorgelegten Nachweisen im Verwaltungsverfahren ausschließe. Vielmehr könne der von dem Grundsicherungsträger
gesetzten Frist nur die Bedeutung beigemessen werden, dass vor ihrem Ablauf eine abschließende Entscheidung nicht ergehe und
die Leistungsberechtigten sie zur Vorlage der angeforderten Unterlagen ausnutzen könnten. Gingen bis zur letzten Verwaltungsentscheidung
und damit bis zum Abschluss eines Widerspruchsverfahrens noch Unterlagen ein, seien sie aber vom Grundsicherungsträger ungeachtet
des Fristablaufs zu berücksichtigen, weil nach den insoweit zu berücksichtigenden verfassungsrechtlichen Maßgaben im Zweifel
der schonenderen Auslegung der Fristbestimmung der Vorzug zu geben sei (BSG, a.a.O.).
Ob nach der abschließenden Entscheidung vorgelegte Unterlagen – sei es im Klageverfahren oder in einem Überprüfungsverfahren
nach § 44 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) – noch zu berücksichtigen sind, hat das BSG hingegen ausdrücklich offengelassen (BSG, a.a.O.).
Nach Auffassung des Senats kommt der Vorschrift des § 41a Abs. 3 S. 4 SGB II keine materielle Präklusionswirkung zu (so bereits Urteile des Senats vom 22.6.2021 – L 4 AS 215/20 –, Revision anhängig unter B 4 AS 58/21 R, sowie vom 5.8.2021 – L 4 AS 189/20 –, Revision anhängig unter B 4 AS 64/21 R; so auch SG Leipzig, Urteil vom 29.5.2018 – S 7 AS 2665/17; Hengelhaupt, in: Hauck/Noftz, SGB II, § 41a SGB II Rn. 376; Conradis, in: LPK-SGB II, § 41a SGB II Rn. 23; Kemper, in: Eicher/Luik, SGB II, § 41a SGB II Rn. 49 ff; a.A. SG Osnabrück, Urteil vom 16.4.2019 – S 16 AS 245/18; SG Dortmund, Urteil vom 8.12.2017 – S 58 AS 2170/17; Kallert, in: Gagel, SGB II/SGB III, § 41a SGB II Rn. 85 ff, Stand März 2017).
Der Wortlaut des § 41a Abs. 3 Satz 4 und 5 SGB II sieht als Rechtsfolge für eine nicht fristgemäß erfolgte Einreichung von Unterlagen eine Festsetzung des Leistungsanspruchs
in der Höhe vor, in welcher seine Voraussetzungen ganz oder teilweise nachgewiesen sind bzw. für die übrigen Monate eine Feststellung,
dass ein Leistungsanspruch nicht bestand. Gegen eine Präklusionswirkung spricht der auch vom BSG (a.a.O.) festgestellte Vergleich mit anderen Präklusionsvorschriften, wie z. B. §
106a Abs.
3 SGG, §
87b der
Verwaltungsgerichtsordnung, § 79b der Finanzgerichtsordnung oder §
296 der
Zivilprozessordnung. Die Möglichkeit der Zurückweisung verspätet eingereichter Erklärungen und Beweismittel wird hier ausdrücklich und klar geregelt.
Die Vorschrift des § 41a Abs. 3 SGB II trifft hingegen weder eine solche Regelung für verspätet eingereichte Unterlagen noch wird eine sonst bei sozialrechtlichen
Sachverhalten bestehende Überprüfungsmöglichkeit nach § 44 SGB X ausgeschlossen. Zudem ist, wie das BSG dargelegt hat, anders als bei den anderen Präklusionsnormen – wie von Verfassungs wegen auch vorausgesetzt – die Fristvorgabe
des § 41a Abs. 3 Satz 3 SGB II nicht hinreichend eindeutig (BSG, Urteil vom 12.9.2018 – B 14 AS 7/18 R unter Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 19.3.2003 – 2 BvR 1540/01: Präklusionsvorschriften müssen sich durch ein besonderes Maß an Klarheit auszeichnen). Bei § 41a Abs. 3 Satz 3 SGB II wird schon nicht hinreichend deutlich, ob an die vom Beklagten gesetzte Frist oder die abschließende Entscheidung anzuschließen
ist. Zudem muss bei einer ausschließlich an den Fristablauf anknüpfenden Nullfeststellung sichergestellt sein, dass nicht
zu vertretende Fristversäumnisse keine nachteiligen Rechtsfolgen auslösen (BSG, a.a.O., unter Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 21.2.1990 – 1 BvR 1117/89). Eine solche Vorgabe ist indes weder § 41a Abs. 3 SGB II selbst zu entnehmen – etwa in der Art von §
106a Abs.
3 SGG – noch folgt sie aus der Wiedereinsetzungsregelung des § 27 SGB X, weil diese nur die Versäumung gesetzlicher Fristen betreffe (BSG, a.a.O.). Dass anstelle dessen nach der gesetzlichen Konzeption allein auf die Möglichkeit der rückwirkenden Verlängerung
behördlich gesetzter Fristen nach § 26 Abs. 7 Satz 2 SGB X abgestellt werden soll, erscheint demgegenüber angesichts der unbestimmten Voraussetzungen dafür einerseits („insbesondere
wenn es unbillig wäre, die durch den Fristablauf eingetretenen Rechtsfolgen bestehen zu lassen“) und der Beschleunigungsintention
des Gesetzgebers andererseits nicht als naheliegend (BSG, a.a.O.).
Auch Sinn und Zweck der Regelung sprechen nicht dafür, dass es sich um eine materiell-rechtliche Präklusionsnorm handelt.
§ 41a Abs. 3 Satz 2 bis 4 SGB II zielt – wie der ergänzende Verweis auf die §§
60,
61,
65 und
65a SGB I (§ 41a Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 2 SGB II) und die Materialien (vgl. BT-Drs. 18/8041, S. 53) verdeutlicht – auf ein besonderes Regime von Mitwirkungsobliegenheiten
im Anschluss an den Bezug vorläufig bewilligter Leistungen (BSG, a.a.O.). Die Vorschrift ist damit zum einen darauf gerichtet, den Jobcentern Kenntnis von denjenigen (der Sphäre der Leistungsbezieher
zuzuordnenden) Tatsachen zu vermitteln, welche die Grundlage für die Entscheidung über den endgültigen Leistungsanspruch bilden,
und sie überhaupt erst in die Lage zu versetzen, ihrer Amtsermittlungspflicht nach § 20 SGB X nachzukommen (BSG, a.a.O.). Auch mit einer Vorlage der angeforderten leistungserheblichen Unterlagen noch nach Ablauf der Frist bzw. der abschließenden
Entscheidung der Verwaltung wird dieser Zweck erreicht. Soweit die Regelung weiterhin insbesondere mit der Nullfeststellung
nach Satz 4 eine Verfahrensvereinfachung bei fehlender Mitwirkung bewirken soll, erreicht sie dies bei vollständig unterbliebener
Mitwirkung stets. Dass mit ihr darüber hinaus eine Verfahrensbeschleunigung auch bei Vorlage der angeforderten Unterlagen
nach Ablauf der gesetzten Frist bezweckt wäre, ist hingegen nicht zu erkennen. Hiergegen spricht schon der oben dargestellte
Vergleich mit anderen Präklusionsnormen, die – wie verfassungsrechtlich gefordert – eindeutig und klar die Präklusionswirkung
regeln und auch Vorkehrungen für den Fall unverschuldeter Fristversäumnis vorsehen.
Den Gesetzesmaterialien sind ebenso wie schon dem Gesetzestext keine Ausführungen dazu zu entnehmen, ob eine verspätete Mitwirkung
im Klageverfahren präkludiert sein soll (vgl. BT-Drs. 18/8041, S. 53). Auch hier ist nicht erkennbar, dass der Gesetzgeber
an ein vorübergehendes Fehlverhalten den dauerhaften Untergang des Leistungsanspruchs hat knüpfen wollen (vgl. Hengelhaupt,
in: Hauck/Noftz, § 41a SGB II Rn. 376).
Durch diese verfassungskonforme Auslegung wird § 41a Abs. 3 Satz 2 bis 4 SGB II gegenüber den allgemeinen Mitwirkungsregelungen im
SGB I auch nicht funktionslos, wenn verspätet vorgelegte Nachweise auch nach der abschließenden Entscheidung nach § 41a Abs. 3 Satz 1 SGB II noch zu berücksichtigen sind. Machten Selbständige bis zum Inkrafttreten des 9. SGB II-ÄndG keine Angaben über ihre betrieblichen Einkünfte und Ausgaben, konnte das Einkommen im Bewilligungszeitraum für die abschließende
Entscheidung geschätzt werden, wenn das tatsächliche Einkommen nicht innerhalb eines Zeitraums von zwei Monaten nach Ende
des Bewilligungszeitraums nachgewiesen wurde (§ 3 Abs. 6 Alg II-V in der bis zur Aufhebung durch die Siebte Verordnung zur Änderung der Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung vom 26.7.2016, BGBl. I 1858 zum 1.8.2016 geltenden Fassung; vgl. BSG, a.a.O.). Hatten die Jobcenter danach bei fehlender Mitwirkung von Amts wegen Ermittlungen zu den Grundlagen einer Schätzung
nach § 3 Abs. 6 Alg II-V anzustellen und die dazu maßgeblichen Überlegungen im Bescheid über die abschließende Bewilligung im Einzelnen wiederzugeben,
so hat sich dies durch die Einführung von § 41a Abs. 3 SGB II grundlegend geändert (BSG, a.a.O.). Liegen die Voraussetzungen für eine Nullfeststellung nach § 41a Abs. 3 Satz 4 SGB II vor, können die Jobcenter nach dem Bezug vorläufig bewilligter Leistungen abschließende Entscheidungen ohne jeden weiteren
Ermittlungs- und Begründungsaufwand treffen (BSG, a.a.O.). Dadurch ist auch der Anreiz zu einer Mitwirkung an der Einkommensfeststellung auf Seiten der Leistungsbezieher
erheblich verstärkt, ohne dass er entfällt, wenn nach der abschließenden Entscheidung noch Vorbringen und Unterlagen zu berücksichtigen
sind (BSG, a.a.O.).
Da der Vorschrift des § 41a Abs. 3 SGB II schon keine Präklusionswirkung zukommt, kann offenbleiben, ob der Beklagte die Kläger ordnungsgemäß über die Folgen einer
Fristversäumnis belehrt hat oder, wie es das Sozialgericht angenommen hat, auf die Möglichkeit nachträglicher Vorlage der
Unterlagen hätte hinweisen müssen.
b) Auch die Erstattungsbescheide vom 24. Januar 2020 sind rechtswidrig.
Die Voraussetzungen des § 41a Abs. 6 SGB II liegen nicht vor. Danach sind die aufgrund der vorläufigen Entscheidung erbrachten Leistungen auf die abschließend festgestellten
Leistungen anzurechnen. Soweit im Bewilligungszeitraum in einzelnen Kalendermonaten vorläufig zu hohe Leistungen erbracht
wurden, sind die sich daraus ergebenden Überzahlungen auf die abschließend bewilligten Leistungen anzurechnen, die für andere
Kalendermonate dieses Bewilligungszeitraums nachzuzahlen wären. Überzahlungen, die nach der Anrechnung fortbestehen, sind
zu erstatten. Das gilt auch im Fall des Absatzes 3 Satz 3 und 4.
Die Aufhebung des Bescheides vom 11. März 2019 zieht die Rechtswidrigkeit der Erstattungsbescheide vom 24. Januar 2020 nach
sich, da es an einer bestandskräftigen abschließenden Entscheidung nach § 41a Abs. 3 SGB II fehlt (vgl. Grote-Seifert, in: jurisPK-SGB II, Stand: 1.4.2021, § 41a Rn. 74).
c) Schließlich lagen auch die Voraussetzungen für eine Zurückverweisung an den Beklagten vor.
Das Sozialgericht durfte den Beklagten für die noch erforderlichen Ermittlungen als besser ausgestattet ansehen. Der Beklagte
hätte die Unterlagen des Klägers zu 1. zur sachgerechten Prozessvertretung genauso durcharbeiten müssen, wenn das Sozialgericht
die Sache selbst spruchreif gemacht hätte. Dass die damit intendierte Entlastung des Gerichts mit den Interessen des Klägers
nicht vereinbar wäre, ist ebenfalls weder ersichtlich noch von ihm geltend gemacht. Jedenfalls bei einer vollständig unterbliebenen
Sachverhaltsaufklärung ist der Ausnahmecharakter des §
131 Abs.
5 SGG mit der Zurückverweisung in die Verwaltung nicht verkannt (BSG, a.a.O.). Der §
131 Abs.
5 SGG verlangt dabei schon von seinem Wortlaut kein kausales bzw. vorwerfbares Unterlassen der Amtsermittlungspflichten des Beklagten.
Sein Anwendungsbereich ist auch nicht auf diese Fälle teleologisch zu reduzieren. Der Vorschrift kommt gerade kein Sanktionscharakter
gegenüber der Verwaltung zu, sondern Leitbild der Vorschrift ist neben der Entlastung der Gerichte, eine sachgerechte, umfassende
Prüfung der Angelegenheit im Interesse des Klägers herbeizuführen. Hierzu gehört auch, ihm die Möglichkeit zu belassen, zunächst
eine materiell-rechtliche Entscheidung der Verwaltung zu erlangen, bevor er ggfs. den weiteren Rechtsweg vor den Gerichten
beschreiten muss. Die erneute Befassung des Beklagten mit der Leistungsprüfung hat ihre Ursache in der fehlenden Präklusionswirkung
des § 41a Abs. 3 SGB II. Eine erweiternde Auslegung des §
131 Abs.
5 SGG, um die von dem Beklagten gewünschte, aber mit der Vorschrift des § 41a Abs. 3 SGB II in einem solchen Fall nicht erreichte Entlastung der Verwaltung herbeizuführen, ist nicht sachgerecht (vgl. zu allem Urteil
des Senats vom 22.6.2021, a.a.O.).
Die Zurückweisungsentscheidung erfolgte fristgerecht innerhalb von sechs Monaten nachdem der Beklagte dem Sozialgericht die
Akte mit abschließenden Unterlagen des Klägers für den streitigen Zeitraum übersandt hatte.
III. Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG. Zu berücksichtigen ist, dass die Kläger die erforderliche Mitwirkungshandlung erst im Klageverfahren vorgenommen haben und
der Beklagte keine Veranlassung zur Klageerhebung gegeben hat. Die Kosten für die Fortführung des Verfahrens sind dann jedoch
dem Beklagten aufzuerlegen.
IV. Die Revision war nach §
160 Abs.
2 Nr.
1 SGG zuzulassen, weil die Sache grundsätzliche Bedeutung hat und bislang höchstrichterlich nicht geklärt ist.