Tatbestand
Die Kläger wenden sich gegen eine Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung des Beklagten bezogen auf SGB II-Leistungen für den Zeitraum von Januar bzw. Februar 2013 bis Juni 2013.
Der 1976 geborene Kläger und die 1980 geborene und mit ihm verheiratete Klägerin standen bei dem Beklagten als Bedarfsgemeinschaft
im laufenden SGB II-Leistungsbezug.
Mit Bescheid vom 18. Dezember 2012 bewilligte ihnen der Beklagte Arbeitslosengeld II für den Bewilligungszeitraum von Januar
bis Juni 2013 in Höhe von monatlich zusammen 1.585,25 €.
Nachdem die Klägerin im Januar 2013 und der Kläger ab März 2013 eine Erwerbstätigkeit aufnahmen und Einkommen erzielten, hob
der Beklagte den Bewilligungsbescheid vom 18. Dezember 2012 mit einem an den Kläger und einem an die Klägerin gerichteten
Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 6. November 2014 dahingehend auf, dass die Leistungsbewilligung gegenüber der Klägerin
für Januar und Februar 2013 teilweise und von März bis Juni 2013 ganz und gegen über dem Kläger für Februar 2013 teilweise
und von März bis Juni 2013 ganz aufgehoben wurde sowie von der Klägerin die Erstattung von insgesamt 2.421,51 € und von dem
Kläger die Erstattung von insgesamt 2.021,78 € verlangt wurde.
Hiergegen legten die beiden Kläger jeweils mit gesondertem Schreiben vom 26. November 2014 Widerspruch ein. Beide Schreiben
tragen in den Verwaltungsakten des Beklagten den Stempelaufdruck „18.12.14“. Der Beklagte teilte den Klägern mit Schreiben
vom 21. Januar 2015 jeweils mit, dass ihr Widerspruch vom 26. November 2018 bei ihm am 19. Dezember 2014 eingegangen sei.
Mit Widerspruchsbescheiden vom 27. Februar 2015 und 2. März 2015 wurden die Widersprüche der Kläger mit der gleichlautenden
Begründung jeweils als unzulässig verworfen, dass der Widerspruch gegen den Bescheid vom 6. November 2014, der als am 9. November
2014 bekannt gegeben gelte, trotz ordnungsgemäßer Belehrung über die einmonatige Widerspruchsfrist nach Ablauf der Widerspruchsfrist
am 9. Dezember 2014 verspätet am 18. Dezember 2014 bei dem Beklagten eingegangen sei. Es seien keine Gründe erkennbar, die
das Fristversäumnis rechtfertigen und eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ermöglichen würden. Das Vorbringen werde
als Antrag auf Überprüfung der Entscheidung nach § 44 SGB X gewertet, der gesondert beschieden werde.
Hiergegen haben die Kläger gemeinsam am 10. März 2015 bei dem Sozialgericht Neubrandenburg Klage erhoben und zur Begründung
behauptet, sie hätten ihre Widerspruchsschreiben vom 26. November 2014 am selben Tag in den Hausbriefkasten des Beklagten
eingeworfen.
Die Kläger haben beantragt,
die Aufhebungs- und Erstattungsbescheide vom 6. November 2014 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 27. Februar 2015 und
2. März 2015 aufzuheben.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hat behauptet, dass die Widerspruchsschreiben am 18. Dezember 2014 im Leistungsbereich des Jobcenters abgegeben und dort
abgestempelt worden seien. Es gebe keinerlei Anhaltspunkte für einen früheren Eingang der Widersprüche.
Jeweils mit Bescheid vom 18. August 2015 hat der Beklagte die Anträge der Kläger mit Schreiben vom 26. November 2014 auf Überprüfung
des Bescheides vom 6. November 2014 abgelehnt.
Am 8. Oktober 2015 haben die Kläger erneut die Überprüfung der Aufhebungs- und Erstattungsbescheide vom 6. November 2014 gemäß
§ 44 SGB X beantragt. Hierüber hat der Beklagte noch nicht entschieden, weil das Überprüfungsverfahren auf Wunsch der Kläger im Hinblick
auf die Entscheidung im vorliegenden Rechtsstreit ruht.
Mit Gerichtsbescheid vom 22. März 2019 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, es fehle
bereits am erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis der Klage. Ein solches liege nur dann vor, wenn der Kläger ein berechtigtes
Interesse geltend mache und dieses nicht auf einfachere und schnellere Art und Weise zu erreichen sei (vgl. BSG, Urteil vom 24. Februar 2011 – B 14 AS 75/10 R –, juris). Diese Sachentscheidungsvoraussetzung beruhe auf dem auch im Prozessrecht geltenden Gebot von Treu und Glauben
(§
242 BGB), dem Verbot des Missbrauchs prozessualer Rechte und dem Grundsatz der Effizienz staatlichen Handelns; prozessuale Rechte
dürften nicht zu Lasten der Funktionsfähigkeit des staatlichen Rechtspflegeapparates missbraucht werden (vgl. Meyer-Ladewig,
SGG, 12. Aufl. 2017, vor § 51, Rn 16a m.w.N. zur BSG-Rspr.).
Vorliegend habe der Beklagte am Ende seiner beiden Widerspruchsbescheide jeweils ausdrücklich darauf hingewiesen, das Vorbringen
im Widerspruch – also das bei ihm laut Stempel am 18. Dezember 2014 eingegangene Widerspruchsschreiben vom 26. November 2014
– als Antrag auf Überprüfung der Entscheidung nach § 44 SGB X zu werten. Der Vortrag des Beklagten, wonach der Überprüfungsantrag am 8. Oktober 2015 gestellt worden sei, sei damit schlicht
falsch.
Danach komme es auf die, evtl. mit Partei-/Zeugenvernehmung und ggf. erst in zweiter Instanz endgültig zu klärenden Frage,
ob die Widerspruchsfrist gewahrt worden sei, gar nicht mehr an. Vielmehr habe sich der Beklagte verbindlich bereit erklärt,
sogleich in die Sachprüfung einzusteigen, was – schon vom zeitlichen Moment her gesehen -, nur im wohlverstandenen Interesse
der Kläger liegen könne. Ihr Rechtsschutz werde dadurch in keiner Weise tangiert, da sie gegen einen etwaigen negativen Überprüfungsbescheid
erneut Widerspruch einlegen und ggf. erneut Klage erheben könnten. Schließlich drohe keine „Überprüfungssperre“ durch § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II a.F. i.V.m. § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X. Zwar gelte die dort geregelte Einjahresfrist auch für Aufhebungs- und Erstattungsbescheide (vgl. SG Cottbus, Urteil vom
28. Oktober 2016 – S 31 AS 3057/15 –, juris, Rn. 37). Diese Frist sei hier aber nach Maßgabe von § 44 Abs. 4 Satz 3 SGB X (Fristbeginn also am 1. Januar 2015) eindeutig gewahrt.
Gegen den am 2. April 2019 zugestellten Gerichtsbescheid haben die Kläger am 30. April 2019 Berufung eingelegt und zur Begründung
ausgeführt, sie hätten ein Rechtsschutzinteresse. Dies ergebe sich, was das Sozialgericht vollkommen übersehen habe, bereits
daraus, dass nur durch die Erhebung eines Widerspruches und einer Klage eine aufschiebende Wirkung eintrete und die angegriffenen
Erstattungsbescheide damit nicht rechtskräftig und nicht vollstreckbar seien. Ein Überprüfungsverfahren habe diese Wirkung
jedoch nicht und die Kläger müssten aufgrund der dann eingetretenen Rechtskraft der Erstattungsbescheide zunächst Zahlungen
leisten, um diese nach einem Überprüfungsverfahren sich erstatten zu lassen. Ein solches Vorgehen liege daher gerade nicht
in ihrem wohlverstandenen Interesse, sondern ignoriere komplett ihr Rechtsschutzziel und ihre Belange. Ferner haben die Kläger
eine eidesstattliche Versicherung der Klägerin vom 7. April 2015 über den Geschehensablauf am 26. November 2014 vorgelegt.
Die Kläger beantragen,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts A-Stadt vom 22. März 2019 und die Aufhebungs- und Erstattungsbescheide vom 6. November
2014 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 27. Februar 2015 und 2. März 2015 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Begründung verweist er auf die überzeugenden Ausführungen im erstinstanzlichen Urteil.
Einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung haben die Beteiligten zugestimmt.
Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten
Bezug genommen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind.
In diesem Sinne hat das Sozialgericht auf eine zulässige Klage nicht über den geltend gemachten materiellen Anspruch entschieden.
Das Sozialgericht hat zu Unrecht ein Rechtschutzinteresse der Kläger verneint und damit im Ergebnis die Klage verfahrensfehlerhaft
als unzulässig abgewiesen, ohne die Begründetheit der Klage zu prüfen.
Die Anfechtungsklage der Kläger ist zulässig.