Tatbestand
Die Klägerin begehrt von dem Beklagten die Erstattung von Kosten iHv 43.212,09 €, die sie im Jahr 2011 zur Finanzierung der
stationären Unterbringung von E G (im Folgenden: Leistungsberechtigter) aufgewendet hat.
Der am 00.00.1993 geborene Leistungsberechtigte lebte zunächst mit seinen Eltern und seiner älteren Schwester in Aachen. Die
Schwester wurde vom Jugendamt der Klägerin ab 1994 in dem Kinderhaus D in Wuppertal untergebracht. Es handelt sich dabei um
eine Einrichtung des B e.V. in Wuppertal. Im Jahr 2006 wurde das Kinderhaus in eine sog. Familiengruppe umgewandelt. Die Kinder
leben dort in mehreren Gruppen gemeinsam mit den pädagogischen Mitarbeitern in einem Haus, das zu den Räumlichkeiten des Trägers
gehört. Jedes Kind hat ein eigenes Zimmer, die Gruppen werden von Hauswirtschaftskräften unterstützt.
Der Vater des Leistungsberechtigten trennte sich Anfang des Jahres 1996 von der Mutter. Diese war mit der Erziehung des Leistungsberechtigten
überfordert. Der Leistungsberechtigte wurde daraufhin 1997 ebenfalls in dem Kinderhaus in Wuppertal aufgenommen. Die Klägerin
bewilligte die Kosten mit Bescheid vom 03.12.1997 im Rahmen der Hilfe zur Erziehung nach dem KJHG. Weiter erhielt der Leistungsberechtigte Psychotherapie in Form einer Spieltherapie und Förderung durch eine Heilpädagogin.
Einen Kindergarten konnte er aufgrund von Ängsten gegenüber fremden Personen zunächst nicht besuchen, auch ein Sonderkindergarten
wäre mit den Verhaltensweisen überfordert gewesen. Die Kostenübernahme wurde von der Klägerin während der Minderjährigkeit
des Leistungsberechtigten laufend verlängert, zuletzt mit Bescheid vom 20.04.2010 für den Zeitraum 01.01.2010 bis 18.01.2011.
Der Leistungsberechtigte besuchte ab Sommer 2000 die D1-Schule für Lernbehinderte, eine Waldorfförderschule mit den Schwerpunkten
"Lernen" und "Emotionale und soziale Entwicklung". Nach dem Entwicklungsbericht der Einrichtung vom 03.02.2010 besuche er
zu dem Zeitpunkt die 10. Klasse und werde voraussichtlich in zwei Jahren den Hauptschulabschluss erlangen. Der Leistungsberechtigte
sei sehr bemüht, stets freundlich und ehrgeizig. Im Sozialverhalten zeigten sich allerdings noch Schwierigkeiten, sowohl gegenüber
den Lehrkräften als auch gegenüber den Mitschülern. Zur Erlangung des Hauptschulabschlusses war im Jahr 2011 noch Nachhilfe
in Mathematik erforderlich, was die Schule befürwortete, da der Leistungsberechtigte bereits alle schulischen Fördermaßnahmen
absolviert habe und weiterhin Unterstützung benötige.
Der Leistungsberechtigte beantragte im Hinblick auf seine bevorstehende Volljährigkeit Ende des Jahres 2010 bei der Klägerin
die weitere Kostenübernahme für die stationäre Unterbringung als Hilfe für junge Volljährige. Er werde voraussichtlich bis
2012 die Schule besuchen und benötige noch recht häufig Unterstützung bei den Hausaufgaben und im alltäglichen Leben. Die
Klägerin bewilligte die beantragten Leistungen mit Bescheid vom 26.01.2011 vom 19.01.2011 bis zum 31.07.2011. Im Rahmen des
Hilfeplanes vom 26.01.2011 wurde u.a. das Ziel vereinbart zu klären, ob der Leistungsberechtigte die Voraussetzungen des §
35a SGB VIII erfüllt, also bei ihm eine Behinderung vorliegt. Aufgrund einer Untersuchung vom 06.04.2011 diagnostizierte ein Facharzt
für Neurologie und Psychiatrie bei dem Leistungsberechtigten eine geistige Behinderung in Form einer leichten Intelligenzminderung
mit deutlicher Verhaltensstörung, die Beobachtung oder Behandlung erfordere (F 70.1G). Am 08.02.2012 wurde bei dem Leistungsberechtigten
durch den Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr. R ein Intelligenztest durchgeführt. Dieser ergab einen Wert von 69,
damit liege die intellektuelle Begabung im Bereich der geistigen Behinderung.
Die Klägerin hatte die Hilfegewährung bereits mit Bescheid vom 21.09.2011 bis zum 31.01.2012 verlängert. Mit Bescheid vom
16.02.2012 bewilligte sie die Kostenübernahme für die stationäre Einrichtung bis zum 30.06.2012. Gleichzeitig beanspruchte
die Klägerin von dem Beklagten Kostenerstattung und Fallübernahme.
Der Leistungsberechtigte erhielt am 30.07.2012 nach der 12. Klasse ein Abschlusszeugnis der D1-Schule. Die Noten sind überwiegend
"gut" und "befriedigend", lediglich in Englisch hat er "ausreichend" erhalten. Das Abschlusszeugnis steht aufgrund einer Bestätigung
der Bezirksregierung dem Sekundarstufe 1-Hauptschulabschluss gleich.
Der Leistungsberechtigte beantragte am 13.11.2012 "Hilfe nach § 35a" bei der Klägerin. Er habe sich entschieden, Ende des
Jahres in eine eigene Wohnung zu ziehen, brauche jedoch weitere Unterstützung bei verschiedenen Angelegenheiten. Insbesondere
benötige er Hilfe bei einer vernünftigen Einrichtung des Haushaltes, der Erlangung von Selbständigkeit, Ämterbesuchen, Kontakten
mit dem Vermieter, beim Kochen, Einkaufen und einer gesunden Ernährungsweise sowie Schreiben von Bewerbungen und Üben von
Bewerbungsgesprächen. Die Klägerin leitete den Antrag am 15.11.2012 an den Beklagten weiter.
Das Amtsgericht Wuppertal holte im Rahmen eines Betreuungsverfahrens ein psychiatrisches Gutachten der Fachärztin für Psychiatrie
und Psychotherapie Dr. U vom 03.11.2012 über den Leistungsberechtigten ein. Die Ärztin berichtet darin über zwei Intelligenztests,
die bei dem Leistungsberechtigten im Jahr 2005 durchgeführt worden seien. Im ersten Test sei ein IQ von 70 und im zweiten
ein IQ von 64 ermittelt worden. Diese Werte lägen im Bereich der Intelligenzminderung. Damals seien eine Anpassungsstörung
mit Anteilen einer posttraumatischen Belastungsstörung und eine unterdurchschnittliche Begabung zwischen dem unteren Drittel
des lernbehinderten Bereiches und dem oberen Drittel der Intelligenzminderung diagnostiziert worden. Im Jahr 2012 sei dann
von dem Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie ein IQ von 69 gemessen worden. Die Gutachterin gelangt zu dem Ergebnis,
bei dem Leistungsberechtigten bestehe eine leichte Intelligenzminderung im oberen Bereich. Es lägen Symptome einer leichten
geistigen Behinderung und einer seelischen Erkrankung in Form einer leichten Intelligenzminderung und einer Anpassungsstörung,
gegenwärtig mit depressiver Symptomatik, vor. Die seelische Erkrankung sei mit einer anderen Symptomatik bereits 2005 diagnostiziert
worden. Die Möglichkeit einer Verschlimmerung mit Übergang auch in eine seelische Behinderung bestehe. Die Behinderung werde
lebenslang bestehen. Die Gutachterin empfiehlt auf dieser Grundlage die Bestellung eines rechtlichen Betreuers für verschiedene
Aufgabenkreise. Das Amtsgericht Wuppertal bestellte daraufhin für den Leistungsberechtigten am 28.11.2012 einen rechtlichen
Betreuer mit den Aufgabenkreisen Vermögensangelegenheiten, Vertretung bei Sozialleistungsträgern, Ämter und Behörden, Wohnungsangelegenheiten
und berufliche Angelegenheiten.
Der Leistungsberechtigte mietete zum 01.01.2013 eine Ein-Zimmer-Wohnung in Wuppertal an. In diese zog er am 05.01.2013 ein.
Die Klägerin bewilligte die Kosten für die stationäre Unterbringung noch bis zum 05.01.2013, da die neue Mietwohnung am 31.12.2012
noch nicht bezugsfertig gewesen sei.
Die Betreuerin beantragte Leistungen des ambulant betreuten Wohnens bei dem Beklagten. Der Beklagte lehnte den Antrag mit
Bescheid vom 10.01.2013 ab. Es liege keine wesentliche Behinderung vor, allein die festgestellte leichte Intelligenzminderung
sei dafür nicht ausreichend. Es bestehe lediglich Hilfebedarf bei finanziellen und behördlichen Angelegenheiten, bei Bewerbungen
sowie beim Umzug in eine eigene Wohnung. Dieser Bedarf könne durch die rechtliche Betreuerin gedeckt werden. Mit der gleichen
Begründung lehnte der Beklagte am 11.01.2013 auch den Erstattungsanspruch der Klägerin ab.
Der Beklagte gewährte dem Leistungsberechtigten mit Bescheid vom 13.03.2013 für den Zeitraum 05.01.2013 bis 31.07.2013 Hilfe
für junge Volljährige nach § 41 SGB VIII im Umfang von 5,33 Fachleistungsstunden pro Woche. Seine sachliche Zuständigkeit sei zwar nicht gegeben, da keine wesentliche
Behinderung vorliege. Eingliederungshilfe könne daher nicht gewährt werden. Als zweitangegangener Träger habe er jedoch im
Rahmen der Jugendhilfe entschieden. Die Bewilligung wurde mit Bescheid vom 29.07.2013 vom Beklagten bis zum 31.07.2014 verlängert,
wiederum als Leistung der Jugendhilfe.
Die Klägerin hat am 28.12.2015 Klage bei dem Sozialgericht Aachen erhoben und zunächst die Erstattung ihrer gesamten Aufwendungen
für die stationäre Unterbringung im Jahr 2011 iHv 45.420,09 € begehrt. Der Anspruch beruhe auf §
104 SGB IX, denn sie habe die Kosten als nachrangig verpflichteter Leistungsträger getragen. Vorrangig verpflichtet sei gem. § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII der Beklagte, denn bei dem Leistungsberechtigten liege eine geistige Behinderung vor. Bei dem Intelligenztest im Jahr 2012
sei ein IQ von 69 festgestellt worden, das entspreche einer leichten Intelligenzminderung. Allein dieser Umstand reiche aus,
um bei dem Leistungsberechtigten von einer wesentlichen geistigen Behinderung auszugehen. Die Behinderung wirke sich auch
auf dessen Teilhabemöglichkeiten aus. Dies werde durch das Gutachten der Fachärztin Dr. U bestätigt. Der Beklagte sei als
überörtlicher Träger der Sozialhilfe für die stationäre Unterbringung sachlich und örtlich zuständig gewesen. Der Erstattungsanspruch
bestehe für das gesamte Jahr, da er gem. § 111 SGB X rechtzeitig geltend gemacht worden sei. Zur Wahrung der Ausschlussfrist genüge es, wenn der Erstattungsanspruch während der
laufenden Hilfe geltend gemacht werde.
Mit Schriftsatz vom 21.12.2016 hat die Klägerin erklärt, im Jahr 2011 sei Kindergeld iHv 2.208,00 € vereinnahmt worden, wodurch
sich die geltend gemachte Forderung auf 43.212,09 € reduziere.
Die Klägerin hat beantragt,
den Beklagten zu verpflichten, ihr die für den Hilfeempfänger E G in der Zeit vom 01.01.2011 bis 31.12.2011 aufgewendeten
Jugendhilfeleistungen in Höhe von 43.212,09 € zu erstatten.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte hat die Voraussetzungen des § 104 SGB X als nicht gegeben angesehen, da er nicht vorrangig verpflichtet sei. Der Leistungsberechtigte sei nicht geistig behindert,
insbesondere sei der festgestellte IQ von 69 für diese Annahme nicht ausreichend. Da eine verlässliche und präzise Ermittlung
des IQ häufig nicht möglich sei, reiche dies als Kriterium zur Beurteilung, ob eine wesentliche Behinderung vorliege, nicht
aus. Es müssten darüber hinaus Einschränkungen der Fähigkeiten und Fertigkeiten in verschiedenen Lebensbereichen beschrieben
werden. Der Leistungsberechtigte sei weitgehend selbständig, es bestehe nur in wenigen Lebensbereichen Hilfebedarf, so zB
beim Umgang mit Taschengeld. Dies sei nicht ausreichend, um von einer wesentlichen Behinderung auszugehen, denn bei dem Leistungsberechtigten
bestünden keine erheblichen Einschränkungen in den verschiedenen Lebensbereichen. Darüber hinaus könne ein Kostenerstattungsanspruch
gem. § 111 SGB X lediglich für den Zeitraum ab dem 16.02.2011 bestehen, da er erst ab dem 16.02.2012 geltend gemacht worden sei.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.
Das Sozialgericht hat den Beklagten mit Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 24.03.2017, dem Beklagten zugestellt am 24.05.2017,
verpflichtet, der Klägerin die für den Hilfeempfänger E G in der Zeit vom 19.01.2011 bis 31.12.2011 aufgewendeten Jugendhilfeleistungen
in Höhe von 41.102,14 € zu erstatten. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Die Klage sei hinsichtlich des Zeitraums 19.01.2011
bis 31.12.2011 zulässig und begründet. Es bestehe ein Erstattungsanspruch gem. § 104 SGB X, da der Beklagte vorrangig verpflichteter Leistungsträger sei. Die Jugendhilfeleistungen in Form der stationären Unterbringung
seien mit denen der Eingliederungshilfe identisch und es bestehe auch ein Anspruch auf solche Leistungen, denn der Leistungsberechtigte
sei geistig behindert. Bei einem IQ-Wert von 69 sei auch ohne Hinzutreten weiterer Umstände von einer zwar leichten, aber
wesentlichen Behinderung auszugehen. Selbst wenn man zusätzlich fordern würde, dass die Teilhabemöglichkeiten eingeschränkt
sind, wäre dies gegeben. In dem Gutachten der Fachärztin Dr. U würden solche Einschränkungen beschrieben. Der Erwerb des Hauptschulabschlusses
stehe der Annahme einer wesentlichen Behinderung nicht entgegen, denn der Leistungsberechtigte habe dies erst nach zwölf Jahren
an einer Waldorfförderschule geschafft. Der Beklagte sei sachlich und örtlich für die Kostenübernahme im Rahmen der Eingliederungshilfe
zuständig. Hinsichtlich des Zeitraums vom 01.01.2011 bis 18.01.2011 sei ein Erstattungsanspruch jedoch gem. § 111 SGB X ausgeschlossen, da die Klägerin die Leistungen mit Bescheid vom 20.04.2010 für den Zeitraum 01.01.2010 bis 18.01.2011 gewährt
habe. Für diesen Zeitraum hätte der Erstattungsanspruch daher bis zum 18.01.2012 geltend gemacht werden müssen, was jedoch
nicht der Fall sei, da dies erst am 16.02.2012 erfolgt sei.
Der Beklagte hat am 23.06.2017 Berufung eingelegt. Seine Zuständigkeit für die Kostenübernahme sei nicht gegeben, da bei dem
Leitungsberechtigten keine wesentliche geistige Behinderung vorliege. Allein der IQ von 69 sei dafür nicht ausreichend, da
er unmittelbar an der Grenze zum Schwellenwert 70 liege. Dies mache es erforderliche, die weiteren Umstände des Einzelfalles
in den Blick zu nehmen. Diese sprächen dafür, dass bei dem Leistungsberechtigten lediglich eine Lernbehinderung vorgelegen
habe, die nicht das Ausmaß einer geistigen Behinderung erreiche. Der Leistungsberechtige komme in vielen Lebensbereichen gut
zurecht, allein aus den Problemen im Umgang mit Geld lasse sich eine wesentliche Teilhabeeinschränkung nicht herleiten. Die
weitgehende Selbstständigkeit des Leistungsberechtigten werde durch die vorliegenden Entwicklungsberichte bestätigt. Das Gutachten
der Fachärztin Dr. U sei erst später erstellt worden und hinsichtlich des streitigen Zeitraums nicht aussagekräftig. Auch
die weiteren Lebensumstände des Leistungsberechtigten, wie etwa die Unterbringung in einer Einrichtung, die nicht für geistig
behinderte Kinder vorgesehen sei, und der Besuch einer Walddorfförderschule, bei der sich nicht um eine Schule für geistig
behinderte Kinder handele, sprächen gegen das Vorliegen einer geistigen Behinderung.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 24.03.2017 zu ändern und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung des Beklagten zurückzuweisen und das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 24.03.2017 zu ändern und den Beklagten
zu verurteilen, die für den Hilfeempfänger E G in der Zeit vom 01.01.2011 bis 18.01.2011 aufgewendeten Jugendhilfeleistungen
in Höhe von weiteren 2.109,95 € zu erstatten.
Die Berufung des Beklagten sei zurückzuweisen, da das Sozialgericht zu Recht und mit zutreffender Begründung einen Erstattungsanspruch
gem. § 104 SGB X bejaht habe. Dieser bestehe jedoch auch hinsichtlich des Zeitraums 01.01.2011 bis 18.01.2011, denn die Ausschlussfrist des
§ 111 SGB X greife nicht ein.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakten
der Klägerin und des Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
I. Die Berufung des Beklagten ist gemäß §§
143,
144 SGG statthaft sowie form- und fristgerecht erhoben worden (§§
151 Abs.
1,
64 Abs.
2 SGG). Die Berufungssumme des §
144 Abs.
1 Nr.
2 SGG iHv 10.000 € wird erreicht, denn der Beklagte wendet sich gegen seine Verurteilung zur Kostenerstattung iHv 41.102,14 €.
Die Berufung ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat den Beklagten zu Recht verurteilt, der Klägerin die für den Hilfeempfänger
E G in der Zeit vom 19.01.2011 bis 31.12.2011 aufgewendeten Jugendhilfeleistungen iHv 41.102,14 € zu erstatten. Die Klage
ist zulässig und begründet.
1. Streitgegenstand des Verfahrens ist der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch auf Erstattung der für den Hilfeempfänger
E G 2011 aufgewendeten Jugendhilfeleistungen iHv 43.212,09 €. Dabei handelt es sich um die Kosten, die sie für die stationäre
Unterbringung des Leistungsberechtigten aufgewendet hat, abzüglich des vereinnahmten Kindergeldes. Weitere Einnahmen sind
nicht erzielt worden.
2. Die Klage ist als echte Leistungsklage (§
54 Abs.
5 SGG) statthaft, denn die Klägerin und der Beklagte stehen als Träger der Jugend- und Sozialhilfe in einem Gleichordnungsverhältnis,
so dass ein Verwaltungsakt nicht zu ergehen brauchte (BSG Urteil vom 25.09.2014 - B 8 SO 7/13 R).
3. Der Anspruch der Klägerin auf Erstattung der im Zeitraum 19.01.2011 bis 31.12.2011 aufgewendeten Jugendhilfeleistungen
iHv 41.102,14 € beruht auf § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Hat ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht, ohne dass die Voraussetzungen von § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen, ist nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, soweit der vorrangig
verpflichtete Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis
erlangt hat. So liegt der Fall hier.
Ein Fall des § 103 SGB X liegt nicht vor. Die Norm regelt den Anspruch des Leistungsträgers, dessen Leistungsverpflichtung nachträglich entfallen
ist. Der Anspruch auf die geleistete Rehabilitationsmaßnahme gegen die Klägerin ist aber nicht nachträglich entfallen. Die
Klägerin beruft sich vielmehr darauf, irrtümlich von ihrer Zuständigkeit ausgegangen zu sein. Für solche Fälle kann lediglich
ein Anspruch aus § 104 SGB X eingreifen (BSG Urteil vom 26.06.2007 - B 1 KR 34/06 R).
Auch eine Zuständigkeitsanmaßung, also ein zielgerichteter Eingriff in fremde Zuständigkeiten, der zum Ausschluss des Erstattungsanspruchs
führt (BSG Urteil vom 04.04.2019 - B 8 SO 11/17 R), liegt nicht vor. Die geistige Behinderung des Leistungsberechtigte hat zwar schon
länger bestanden, sie ist jedoch erst bekannt geworden, als im Zusammenhang mit der Verlängerung der Hilfe über das 18. Lebensjahr
hinaus entsprechende Untersuchungen durchgeführt worden sind.
Die nachrangige Verpflichtung der Klägerin beruht auf § 10 Abs. 4 SGB VIII in der bis zum 31.12.2019 gF. Nach dieser Vorschrift gehen die Leistungen nach dem SGB VIII zwar grundsätzlich den Leistungen nach dem SGB XII vor. Abweichend davon gehen Leistungen nach § 27a Abs. 1 SGB XII i.V.m. § 34 Abs. 6 SGB XII und Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, jedoch den Leistungen
nach dem SGB VIII vor. Der in § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII normierte Nachrang der Kinder- und Jugendhilfe gegenüber der Sozialhilfe setzt voraus, dass die Leistungen gleich, gleichartig,
einander entsprechend, kongruent, einander überschneidend oder deckungsgleich sind (BSG Urteil vom 25.09.2014 - B 8 SO 7/13 R).
Es kann offen bleiben, ob bei dem Leistungsberechtigten auch eine seelische Behinderung bestand, denn selbst wenn dies der
Fall gewesen sein sollte, würde aufgrund der geistigen Behinderung unabhängig davon, welche Behinderung im Vordergrund steht,
eine vorrangige Leistungsverpflichtung des nach §§ 97 f SGB XII sachlich und örtlich zuständigen Sozialhilfeträgers bestehen (BSG Urteil vom 26.10.2017 - B 8 SO 12/16 R).
Die Klägerin ist nachrangig verpflichteter Leistungsträger, denn beim Leistungsberechtigten bestand eine wesentliche geistige
Behinderung iSv § 53 Abs. 1 SGB XII in der bis zum 31.12.2019 gF (aF) und er hatte somit vorrangig Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII.
Nach § 53 Abs. 1 SGB XII aF erhalten Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von §
2 Abs.
1 Satz 1
SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung
bedroht sind, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalls, insbesondere nach
Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Nach Abs.
3 der Vorschrift ist es die besondere Aufgabe der Eingliederungshilfe, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine Behinderung
oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern. Hierzu gehört
insbesondere, den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, ihnen
die Ausübung eines angemessenen Berufs oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit zu ermöglichen oder sie so weit wie möglich
unabhängig von Pflege zu machen.
Nach § 2 der Eingliederungshilfe-Verordnung in der bis zum 31.12.2019 gF sind geistig wesentlich behindert im Sinne des § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII Personen, die infolge einer Schwäche ihrer geistigen Kräfte in erheblichem Umfange in ihrer Fähigkeit zur Teilhabe am Leben
in der Gesellschaft eingeschränkt sind. Die Prüfung der Wesentlichkeit einer Behinderung ist wertend an deren Auswirkungen
für die Eingliederung in der Gesellschaft auszurichten. Entscheidend ist mithin nicht, wie stark die geistigen Kräfte beeinträchtigt
sind und in welchem Umfang ein Funktionsdefizit vorliegt, sondern wie sich die Beeinträchtigung auf die Teilhabemöglichkeit
auswirkt (vgl. BSG Urteile vom 13.07.2017 - B 8 SO 1/16 R und vom 22.03.2012 - B 8 SO 30/10 R).
Die Notwendigkeit von Beeinträchtigungen der Teilhabemöglichkeiten ändert indes nichts daran, dass zunächst eine geistige
Behinderung festgestellt werden muss. Nach dem Diagnoseschlüssel ICD 10 F 70 (leichte Intelligenzminderung) besteht bei einem
IQ im Bereich von 50 bis 69 eine leichte geistige Behinderung (vgl. hierzu LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 15.02.2016 -
L 20 SO 476/12). Eine solche Erkrankung liegt bei dem Leistungsberechtigen vor, denn im Jahr 2012 ist von dem Facharzt für
Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr. Quecke ein IQ von 69 gemessen worden. Dagegen lässt sich nicht einwenden, dass es sich dabei
um eine einmalige Momentaufnahme handele, die aufgrund der Messtoleranzen einen solchen Schluss nicht zulasse. Dies folgt
aus den Darlegungen der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. U in dem Gutachten vom 03.11.2012. Die leichte geistige
Behinderung wird auch von allen weiteren vorliegenden ärztlichen Berichten und Gutachten bestätigt, nämlich den fachärztlichen
Stellungnahmen vom 06.04.2011 und 08.02.2012. Im Hinblick auf diese übereinstimmenden ärztlichen Äußerungen sieht der Senat
keinen Anlass, am Vorliegen einer leichten geistigen Behinderung zu zweifeln. Diese wird letztlich auch nicht von dem Beklagten
in Frage gestellt, der jedoch keine Teilhabebeeinträchtigungen zu erkennen vermag.
Der Leistungsberechtigte ist aufgrund dieser Erkrankung in seiner Möglichkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt.
Zur Feststellung der Teilhabebeschränkung sind die Auswirkungen der Erkrankung in den unterschiedlichen Lebensbereichen zu
untersuchen. Der Senat zieht zu diesem Zweck die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit
(International Classification of Functioning, Disability and Health - ICF) heran (Stand Oktober 2005, herausgegeben vom Deutschen
Institut für Medizinische Dokumentation und Information [DIMDI], S. 97 ff.). Bei der ICF handelt es sich um eine Klassifikation
der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization - WHO), die eine international einheitliche Kommunikation über
die Auswirkungen von Gesundheitsproblemen unter Beachtung des gesamten Lebenshintergrunds eines Menschen ermöglichen soll.
Die Teilhabeeinschränkungen werden darin in den neun Lebensbereichen erfasst, 1. Lernen und Wissensanwendung, 2. Allgemeine
Aufgaben und Anforderungen, 3. Kommunikation, 4. Mobilität, 5. Selbstversorgung, 6. Häusliches Leben, 7. Interpersonelle Interaktion
und Beziehungen, 8. Bedeutende Lebensbereiche (Erziehung, Arbeit und Beschäftigung, Wirtschaftliches Leben) und 9. Gemeinschafts-,
soziales und staatsbürgerliches Leben. Da die ICF die Teilhabeeinschränkungen in allen Lebensbereichen erfasst, ist sie besonders
geeignet, die Frage nach dem Vorliegen einer wesentlichen Behinderung zu beantworten (vgl. Wehrhahn, in: jurisPK-
SGB IX, 3. Aufl. 2018, §
99 Rn. 16; Gutzler, in: Hauck/Noftz,
SGB IX, 03/21, §
99 Rn. 14). Der Gesetzgeber hat dem Rechnung getragen, indem er in §
118 SGB IX in der ab 01.01.2020 gF die aufgeführten Kriterien als für die Bedarfsermittlung relevante Beeinträchtigungen der Aktivität
und Teilhabe definiert hat.
Offen bleiben kann, ob eine Teilhabeeinschränkung in einem Lebensbereich ausreichend ist, um eine wesentliche Behinderung
bejahen zu können. Das BSG geht davon aus, dass bei Kindern eine wesentliche Behinderung bereits vorliege, wenn die mit einer Behinderung einhergehenden
Beeinträchtigungen der erfolgreichen Teilnahme am Unterricht in einer Grundschule entgegenstehen, weil Lerninhalte ohne zusätzliche
Hilfestellung nicht aufgenommen und verarbeitet werden könnten, denn eine Grundschulbildung bilde die essentielle Basis für
jegliche weitere Schullaufbahn bzw eine valide spätere berufliche Tätigkeit (vgl. BSG Urteil vom 22.03.2012 - B 8 SO 30/10 R). Nach der von der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe
herausgegebenen "Orientierungshilfe für die Feststellungen der Träger der Sozialhilfe zur Ermittlung der Leistungsvoraussetzung
nach dem SGB XII i.V.m. der Eingliederungshilfe-Verordnung" vom 24.11.2009 müssen neben einem IQ-Wert von unter 75 (Kriterium A) und einem Auftreten der Störung vor dem 18. Lebensjahr
(Kriterium C) erhebliche Einschränkungen der Anpassungsfähigkeit in mindestens zwei Lebensbereichen vorliegen (Kriterium B).
Der Senat muss im vorliegenden Verfahren nicht entscheiden, ob eine Einschränkung in ein oder zwei Lebensbereichen ausreichend
ist, um eine wesentliche Behinderung bejahen zu können, denn bei dem Leistungsberechtigten bestehen Einschränkungen in zahlreichen
Lebensbereichen:
Der Leistungsberechtigte ist in dem Lebensbereich Allgemeine Aufgaben und Anforderungen (ICF Lebensbereich Nr. 2) eingeschränkt,
dazu gehören u.a. die Planung und Strukturierung des Tages sowie die Umsetzung und Bewältigung der täglichen Alltagsanforderungen.
Nach dem Gutachten der Sachverständigen Dr. U vom 03.11.2012 hat der Leistungsberechtigte Probleme, komplexe Sachzusammenhänge
zu verstehen und zu bearbeiten. Diese Einschränkung wird auch in allen Entwicklungsberichten der stationären Einrichtung beschrieben,
so heißt es zB in dem Bericht vom 02.08.2012, er sei in seiner Selbstständigkeit noch nicht so weit gereift, dass er alleine
leben könnte. Seine Dienste erledige er zwar selbstständiger, dies jedoch nur, weil es seine Aufgabe sei und nicht, weil er
es als wichtig erachte. Eine besondere Herausforderung sei jedoch das Zeitmanagement mehrerer Termine oder notwendiger Abläufe.
Es falle ihm schwer, Termine zu planen und logistisch korrekt durchzuführen. Daran zeigt sich deutlich die Einschränkung bei
der Planung und Strukturierung des Tages sowie bei der Umsetzung und Bewältigung der täglichen Alltagsanforderungen.
Eine Einschränkung des Leistungsberechtigten besteht auch im Bereich häusliches Leben (ICF Lebensbereich Nr. 6), dazu gehören
die Fähigkeiten, sich geeigneten Wohnraum zu verschaffen, den Einkauf zu erledigen, Mahlzeiten zuzubereiten und Hausarbeiten
zu erledigen. Die Sachverständige Dr. U hatte in ihrem Gutachten vom 03.11.2012 vorgeschlagen, dem rechtlichen Betreuer u.a.
den Aufgabenkreis Wohnungsangelegenheiten zu übertragen, da der Leistungsberechtigte aufgrund seiner Intelligenzminderung
mit den zu regelnden Angelegenheiten - auch finanzieller Art - mit dem Vermieter überfordert sei. Weitere Einschränkungen
im Bereich häusliches Leben zeigen sich in dem Antrag auf ambulante Hilfen vom 12.11.2012, denn dort gibt der Leistungsberechtigte
an, Hilfe bei der Einrichtung des Haushaltes sowie beim Kochen und Einkaufen zu benötigen.
Eine weitere Einschränkung besteht im Bereich der bedeutenden Lebensbereiche (ICF Lebensbereich Nr. 8). Dazu gehört der Zugang
zu und die Teilnahme an Bildungsangeboten wie Schule, Hochschule und Ausbildung, insbesondere auch die Bewältigung von Anforderungen
sowie das Erlernen und Umsetzen von vermittelten Inhalten. Auch hier bestehen erhebliche Einschränkungen. Das zeigt sich schon
daran, dass der Leistungsberechtigte nicht auf einer Regelschule beschult werden konnte, sondern auf einer Förderschule. Es
handelt sich um eine Waldorfförderschule mit den Schwerpunkten "Lernen" und "Emotionale und soziale Entwicklung", also gerade
um eine Institution, die Defizite im schulischen Bereich durch eine besondere Förderung ausgleichen soll. Und selbst auf dieser
Schule benötigte der Leistungsberechtigte noch Nachhilfe in Mathematik, um das Abschlusszeugnis zu erreichen. Entgegen der
Auffassung des Beklagten hat er keinen Hauptschulabschluss erhalten, sondern ein Abschlusszeugnis der Förderschule, das dem
Hauptschulabschluss nach Sekundarstufe 1 gleichsteht. Dafür benötigte er nicht wie sonst üblich zehn sondern zwölf Schuljahre,
was ebenfalls die erheblichen Einschränkungen im schulischen Bereich dokumentiert.
Zu den bedeutenden Lebensbereichen gehört der Bereich Arbeit (eine Arbeit erhalten, behalten und beenden, insbesondere Suche
nach einer Arbeit und der Kontaktaufnahme mit Arbeitgebern). Auch insoweit besteht Hilfebedarf. Der Leistungsberechtigte hat
nach dem Abschluss der Schule nicht direkt mit einer Ausbildung begonnen, sondern nach dem Entwicklungsbericht vom 02.08.2012
zunächst an einem Berufsorientierungsjahr teilgenommen. In dem Antrag auf ambulante Hilfen vom 12.11.2012 gibt er an, er werde
noch viel Hilfe benötigen, um Bewerbungen zu schreiben und Bewerbungsgespräche zu führen.
Schließlich gehören zu den bedeutenden Lebensbereichen noch der Umgang mit Geld und Bankangelegenheiten sowie das Erschließen
öffentlicher wirtschaftlicher Ansprüche. Insoweit bestehen bei dem Leistungsberechtigten ebenfalls Einschränkungen, denn nach
dem Gutachten der Sachverständigen Dr. U vom 03.11.2012 ist der Leistungsberechtigte bei finanziellen Angelegenheiten auf
Hilfe angewiesen. Er verliert schnell den Überblick und hat Probleme, sich das Geld so einzuteilen, dass es bis zum Monatsende
reicht. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass er seinem Vermögen krankheitsbedingt durch rechtsgeschäftliche Erklärungen
Schaden zufüge. In der Vergangenheit ist dies aufgrund der Intelligenzminderung fast geschehen, als er der Schwester erlaubt
hatte, auf sein Girokonto zuzugreifen und ein Testabonnement abgeschlossen hatte. Dies wird bestätigt durch den Entwicklungsbericht
vom 02.08.2012, wonach beim Umgang mit Geld und finanziellen Angelegenheiten erhebliche Defizite bestanden. Er konnte sich
sein Geld nicht selbst einteilen und Gefahren bei Vertragsabschlüssen nicht bzw. nur sehr schlecht einschätzen. Er war dabei
auf Erklärung und Begleitung durch die Mitarbeiter der Einrichtung angewiesen.
Im Hinblick auf die zahlreichen Einschränkungen in unterschiedlichen Lebensbereichen ist der Senat aufgrund einer Gesamtbetrachtung
zu dem Ergebnis gekommen, dass eine wesentliche geistige Behinderung vorliegt. Dem Beklagten ist zwar zuzugeben, dass der
Leistungsberechtigte in anderen Bereichen, wie etwa der Kommunikation, der Mobilität und der Gestaltung sozialer Beziehungen,
über Kompetenzen verfügt. Die vorhandenen Kompetenzen in anderen Bereichen ändern indes nichts daran, dass zahlreiche Teilhabeeinschränkungen
in relevanten Lebensbereichen bestehen. Demzufolge war der Leistungsberechtigte nach der Entlassung aus der stationären Einrichtung
Anfang des Jahres 2013 nicht zu einer eigenständigen Lebensführung in der Lage. Er benötigte weiter intensive Unterstützung
und für ihn musste ein rechtlicher Betreuer bestellt werden. Letztlich wird dies auch von dem Beklagten nicht in Abrede gestellt,
denn er hat dem Leistungsberechtigten weiter ambulante Hilfen im Umfang von 5,33 Fachleistungsstunden pro Woche bewilligt.
Dann muss bei einem festgestellten IQ von 69 vom Vorliegen einer wesentlichen geistigen Behinderung ausgegangen werden.
Der Beklagte war für die vorrangigen Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII in Form der stationären Unterbringung zuständig. Die sachliche Zuständigkeit des Beklagten folgte bis zum 30.06.2016 aus
§ 97 Abs. 2 Satz 1 SGB XII i.V.m. § 2 Abs. 1 Nr. 1 lit. a der Ausführungsverordnung Nordrhein-Westfalen zum SGB XII (AV-SGB XII NRW). Danach war der überörtliche Träger der Sozialhilfe sachlich zuständig für Leistungen nach dem Fünften bis Neunten Kapitel
des SGB XII für Personen, die in § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII genannt sind, Menschen mit einer geistigen Behinderung, Menschen mit einer seelischen Behinderung oder Störung, Anfallskranke
und Suchtkranke bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres, wenn es wegen der Behinderung oder des Leidens dieser Personen in
Verbindung mit den Besonderheiten des Einzelfalls erforderlich ist, die Hilfe in einer teilstationären oder stationären Einrichtung
zu gewähren.
Bei der Familienwohngruppe, in der der Leistungsberechtigte im Jahr 2011 gelebt hat, handelt es sich um eine stationäre Einrichtung
iSv § 2 Abs. 1 Nr. 1 lit. a AV-SGB XII NRW. Dieser im Landesrecht enthaltene Begriff der Einrichtung ist wie der in § 13 Abs. 2 SGB XII auszulegen. Eine Einrichtung iSd § 13 Abs. 2 SGB XII ist ein in einer besonderen Organisationsform zusammengefasster Bestand von personellen und sächlichen Mitteln unter verantwortlicher
Trägerschaft, der auf gewisse Dauer angelegt und für einen wechselnden Personenkreis zugeschnitten ist und der Pflege, der
Behandlung oder sonstigen nach dem SGB XII zu deckenden Bedarfe oder der Erziehung dient. Soweit Personen dezentral untergebracht sind, ist es für die Bejahung einer
Einrichtung erforderlich, dass die dezentrale Unterkunft zu den Räumlichkeiten der Einrichtung gehört, der Hilfebedürftige
also in die Räumlichkeiten des Trägers eingegliedert ist. Dies ist nur der Fall, wenn die Unterkunft der Rechts- und Organisationssphäre
des Einrichtungsträgers so zugeordnet ist, dass sie als Teil des Einrichtungsganzen anzusehen ist. Die Vorhaltung von Wohnraum
durch den Träger der Einrichtung selbst ist also keine bloße Formalie, sondern wesentliches Merkmal einer Zuordnung zur Rechts-
und Organisationssphäre des Einrichtungsträgers. Zudem ist erforderlich, dass der Einrichtungsträger von der Aufnahme bis
zur Entlassung des Hilfeempfängers nach Maßgabe des angewandten Konzepts die Gesamtverantwortung für dessen tägliche Lebensführung
übernimmt (BSG Urteil vom 26.10.2017 - B 8 SO 12/16 R). Die Familiengruppe erfüllt diese Voraussetzungen, denn das Haus, in dem sie untergebracht
ist, gehört nicht den Betreuern, wie etwa bei einer Pflegefamilie, sondern zu den Räumlichkeiten des Leistungserbringers.
Dieser hat auch die Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung übernommen, denn es handelte sich um eine sog. familienanaloge
Gruppe, die den gesamten Hilfebedarf der Bewohner - wie in einer Familie - abdecken sollte. Die Mitarbeiter des Leistungserbringers
waren auch rund um die Uhr vor Ort und standen somit jederzeit zur Betreuung zur Verfügung.
Die örtliche Zuständigkeit des Beklagten beruht auf § 98 Abs. 2 SGB XII in der bis zum 31.07.2019 gF. Danach ist für die die stationäre Leistung der Träger der Sozialhilfe örtlich zuständig, in
dessen Bereich die Leistungsberechtigten ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt der Aufnahme in die Einrichtung haben
oder in den zwei Monaten vor der Aufnahme zuletzt gehabt hatten. Der Leistungsberechtigte hatte seinen gewöhnlichen Aufenthalt
vor der Aufnahme in die Einrichtung in Aachen und damit im Zuständigkeitsbereich des Beklagten.
Der Beklagte hat auch nicht bereits selbst geleistet, bevor er von der Leistung der Klägerin Kenntnis erlangt hat. Er hat
im Zeitraum 01.01.2011 bis 31.12.2011 keine Kosten für die stationäre Unterbringung getragen.
Der Umfang des Erstattungsanspruchs richtet sich gem. § 104 Abs. 3 SGB X nach den für den vorrangig verpflichteten Leistungsträger geltenden Rechtsvorschriften. Für den Beklagten gelten die Vorschriften
der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII aF i.V.m. dem
SGB IX aF. Diese Leistungen umfassen gem. § 54 Abs. 1 SGB XII aF i.V.m. §
55 Abs.
1 SGB IX auch eine stationäre Unterbringung (LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 15. 02.2016 - L 20 SO 476/12). Im vorliegenden Verfahren
entsprechen sich die Leistungen der Jugend- und der Sozialhilfe, denn beide Leistungssysteme sehen eine stationäre Unterbringung
vor.
II. Die Anschlussberufung der Klägerin ist zulässig und begründet.
Die auch im sozialgerichtlichen Verfahren grundsätzlich nach §
202 SGG i.V.m. §
524 ZPO mögliche Anschlussberufung ist kein Rechtsmittel, sondern nur ein angriffsweise wirkender Antrag, mit dem sich der Gegner
(hier: die Klägerin) innerhalb des Rechtsmittels des Berufungsklägers (hier: des Beklagten) an dessen Rechtsmittel anschließt.
Sie bietet die Möglichkeit, die vom Berufungskläger angefochtene Entscheidung des SG auch zu seinen, des sich Anschließenden, Gunsten ändern zu lassen, ohne dass insoweit eine Beschwer vorliegen müsste. Mit
ihr können aber nicht Ansprüche zur Überprüfung des Berufungsgerichts gestellt werden, die von der Berufung gar nicht erfasst
werden; anderenfalls liegt kein Fall einer "Anschließung" an das eingelegte Rechtsmittel vor. Für die Zulässigkeit der Anschlussberufung
ist es deshalb erforderlich, dass sie den gleichen prozessualen Anspruch wie die Hauptberufung betrifft, also die Anschlussberufung
einen Anspruch betreffen muss, der bereits im erstinstanzlichen Verfahren Gegenstand des Verfahrens war. Eine Klageerweiterung
im Wege der Anschlussberufung, etwa im Hinblick auf weitere Leistungszeiträume, ist nicht zulässig (BSG Urteil vom 26.10.2017 - B 8 SO 12/16 R).
So verstanden betrifft die Anschlussberufung der Klägerin den gleichen prozessualen Anspruch wie die Hauptberufung, denn sie
hat von Anfang an die Erstattung der Kosten für das gesamte Jahr 2011 geltend gemacht. Der Zulässigkeit der Anschlussberufung
steht nicht entgegen, dass damit die Berufungssumme des §
144 Abs.
1 Nr.
2 SGG iHv 10.000 € nicht erreicht wird. Denn die Anschlussberufung ist, da sie kein Rechtsmittel ist, unabhängig von einer solchen
Beschränkung zulässig. Die Anschlussberufung ist fristgerecht gem. §
524 Abs.
2 ZPO bis zum Ablauf der dem Berufungsbeklagten gesetzten Frist zur Berufungserwiderung eingelegt worden. Der Klägerin ist mit
Verfügung vom 11.07.2017 eine Frist von vier Wochen zur Berufungserwiderung gesetzt worden. Diese Verfügung ist ihr am 01.08.2017
zugegangen. Die Berufungserwiderung einschließlich der Anschlussberufung ist hiervon ausgehend fristgerecht am 29.08.2017
eingegangen.
Die Anschlussberufung ist begründet, denn die Klägerin hat einen Anspruch auf Erstattung der Kosten für den Zeitraum 01.01.2011
bis zum 18.01.2011 iHv 2.109,95 €. Die Voraussetzungen eines Erstattungsanspruchs nach § 104 SGB X liegen wie dargelegt vor. Der Anspruch wird nicht durch § 111 SGB X ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift ist der Anspruch auf Erstattung ausgeschlossen, wenn der Erstattungsberechtigte ihn
nicht spätestens zwölf Monate nach Ablauf des letzten Tages, für den die Leistung erbracht wurde, geltend macht (§ 111 Satz 1 SGB X). Der Lauf der Frist beginnt frühestens mit dem Zeitpunkt, zu dem der erstattungsberechtigte Leistungsträger von der Entscheidung
des erstattungspflichtigen Leistungsträgers über seine Leistungspflicht Kenntnis erlangt hat (§ 111 Satz 2 SGB X). Die Klägerin hat ihren Erstattungsanspruch am 16.02.2012 bei der Beklagten rechtszeitig angemeldet. Zu diesem Zeitpunkt
lief die Ausschlussfrist des § 111 SGB X noch nicht.
Vorliegend kommt nur eine Bestimmung des Fristbeginns nach § 111 Satz 1 SGB X in Betracht. Die Anwendung des Satzes 2 der Vorschrift scheidet aus, wenn der erstattungsverpflichtete Träger eine Entscheidung
über Leistungen, wie sie der erstattungsberechtigte Träger erbracht hat, überhaupt nicht mehr treffen kann und darf (BSG Urteil vom 04.04.2019 - B 8 SO 11/17 R). Das ist hier der Fall, denn die Klägerin hat die Kosten für die stationäre Unterbringung
bereits getragen, so dass eine Entscheidung des Beklagten darüber nicht mehr ergehen konnte. Abgesehen davon liegt eine Entscheidung
des Beklagten über seine Leistungspflicht vor Geltendmachung des Erstattungsanspruchs durch die Klägerin auch nicht vor.
Die Klägerin hat zum Zeitpunkt der Geltendmachung des Erstattungsanspruchs am 16.02.2012 noch die Kosten für die stationäre
Unterbringung getragen, so dass die Frist des § 111 Satz 1 SGB X noch nicht lief. Dem steht nicht entgegen, dass die Leistung zeitabschnittsweise bewilligt worden ist, denn bei einer stationären
Unterbringung handelt es sich (auch) nach den Regelungen der §§ 53, 54 SGB XII i.V.m. §
55 SGB IX um eine einheitliche Leistung, auch wenn sie in mehreren Zeitabschnitten erbracht worden ist. Allein die Notwendigkeit, in
bestimmten Zeitabschnitten die Geeignetheit und Erforderlichkeit der Leistung (in Hilfeplangesprächen) zu überprüfen und die
darauf fußende Praxis der Träger, Kostenzusagen gegenüber dem Leistungserbringer nur abschnittsweise zu erteilen und die Leistungen
monatsweise abzurechnen, führt nach dem Recht der Eingliederungshilfe nicht dazu, dass im Anschluss an einen solchen Zeitabschnitt
(jeweils) ein Anspruch auf eine neue Teilhabeleistung entsteht. Es handelt sich nicht um eine wiederkehrende Leistung; denn
erst wenn das Teilhabeziel erreicht ist, ist die Sachleistung vollständig erbracht (BSG Urteil vom 04.04.2019 - B 8 SO 11/17 R).
Ein Geltendmachen iSv § 111 SGB X setzt nicht voraus, dass der Anspruch eingeklagt wird, sondern es ist ausreichend, dass der andere Träger zur Zahlung des
zu erstattenden Betrages aufgefordert wird (Mutschler in: jurisPK-SGB X, 2. Aufl., § 111 SGB X (Stand: 22.05.2020), Rn. 15).
III. Die Kostenentscheidung folgt aus §
197a Abs.
1 und
3 SGG i.V.m. §
154 Abs.
1 VwGO. Die Streitwertentscheidung beruht auf §
197a Abs.
3 und Abs.
1 Satz 1
SGG i.V.m. § 63 Abs. 2 Satz 1 GKG. Der Streitwert entspricht dem Betrag, zu dessen Zahlung der Beklagte verurteilt worden ist, denn er hat die Aufhebung des
Urteils und die Abweisung der Klage beantragt (§§ 40, 47 Abs. 1 und 2, 52 Abs. 3 GKG). Er war um den Betrag von 2.109,95 € zu erhöhen, den die Klägerin mit ihrer Anschlussberufung geltend macht.
IV. Gründe, gem. §
160 Abs.
2 SGG die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben.