Verfahrensrüge im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren
Begriff des Verfahrensmangels
Formgerechte Rüge
Gründe:
I
Mit Urteil vom 27.6.2017 hat das LSG Baden-Württemberg einen Anspruch des Klägers auf Rente wegen Erwerbsminderung oder Rente
wegen teilweiser Erwerbsminderung auch bei Berufsunfähigkeit verneint.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger Beschwerde beim BSG eingelegt. Er rügt ausschließlich Verfahrensmängel iS von §
160 Abs
2 Nr
3 SGG.
II
Die Beschwerde des Klägers ist als unzulässig zu verwerfen. Der Kläger hat in der Begründung des Rechtsmittels entgegen §
160a Abs
2 S 3
SGG keinen Zulassungsgrund hinreichend dargelegt.
Das BSG darf gemäß §
160 Abs
2 SGG die Revision gegen eine Entscheidung des LSG nur dann zulassen, wenn
- die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr 1) oder
- das angefochtene Urteil von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abweicht (Nr 2) oder
- bestimmte Verfahrensmängel geltend gemacht werden (Nr 3).
Der Kläger macht ausschließlich geltend, das LSG-Urteil beruhe auf einem Verfahrensmangel (Revisionszulassungsgrund des §
160 Abs
2 Nr
3 SGG), weil das Urteil nicht erkennen lasse, woraus das Gericht seine Erkenntnis hergeleitet habe, dass es für eine Tätigkeit
auf einer Poststelle nicht typisch sei, Lasten über 5 kg heben zu müssen, und woher es wissen wolle, dass wirbelsäulenverdrehende,
vornübergebeugte Haltungen und Überkopfarbeiten in einer Poststelle nicht zu erwarten sein sollen. Soweit es auf eine vorangegangene
eigene Entscheidung verweise, sei dieser gerade nicht zu entnehmen, dass ein Heben von Lasten über 5 kg bei Tätigkeiten in
einer Poststelle typischerweise nicht vorkomme. Hinsichtlich der weiteren Aussagen fehle sogar jegliche Erläuterung, wie das
Gericht zu dieser Annahme gekommen sei. Hierdurch habe das LSG gegen §
128 Abs
1 S 2
SGG verstoßen.
Ein Verfahrensmangel iS von §
160 Abs
2 Nr
3 SGG ist der Verstoß des Gerichts im Rahmen des prozessualen Vorgehens im unmittelbar vorangehenden Rechtszug (vgl zB BSG Urteil vom 29.11.1955 - 1 RA 15/54 - BSGE 2, 81 - Juris RdNr 4; BSG Urteil vom 24.10.1961 - 6 RKa 19/60 - BSGE 15, 169 = SozR Nr 3 zu § 52
SGG - Juris RdNr 30). Neben der Geltendmachung des Vorliegens eines Verstoßes gegen das Verfahrensrecht ist mit der Beschwerdebegründung
darzulegen, dass die angefochtene Entscheidung auf diesem Verstoß beruhen kann. Prüfungsmaßstab ist die materiell-rechtliche
Rechtsauffassung des LSG (BSG Urteil vom 28.5.1957 - 3 RJ 219/56 - SozR Nr 79 zu §
162 SGG; BSG Beschluss vom 31.1.1979 - 11 BA 166/78 - SozR 1500 § 160 Nr 33; BSG Beschluss vom 16.11.2000 - B 4 RA 122/99 B - SozR 3-1500 § 160 Nr 33 - Juris RdNr 23). Ein entscheidungserheblicher Mangel des Berufungsverfahrens wird nur dann substantiiert
bezeichnet, wenn der Beschwerdeführer diesen hinsichtlich aller ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen darlegt, sodass
das Beschwerdegericht allein anhand dieser Begründung darüber befinden kann, ob die angegriffene Entscheidung des LSG möglicherweise
auf dem geltend gemachten Verfahrensmangel beruht (vgl zB BSG Beschluss vom 16.11.2000 - B 4 RA 122/99 B - SozR 3-1500 § 160 Nr 33 - Juris RdNr 16 mwN; BSG Beschluss vom 31.7.2017 - B 1 KR 47/16 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 30 RdNr 16 mwN). Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung des Klägers vom 4.10.2017 nicht.
Der Kläger rügt ausdrücklich einen Verstoß des LSG gegen §
128 Abs
1 S 2
SGG und nicht - was nahe läge - einen Verstoß gegen das rechtliche Gehör (Art
103 Abs
1 GG, §
62 SGG) im Sinne einer Überraschungsentscheidung, weil sich das LSG bei der Urteilsfindung auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder
eigene Sachkunde gestützt habe, die es den Beteiligten zuvor nicht offenbart habe (vgl Senatsbeschluss vom 14.12.2016 - B
13 R 204/16 B - Juris RdNr 14). Auch fehlen die hierzu notwendigen Darlegungen zum Prozessverlauf. Denn die Rüge dieses Verfahrensmangels
erfordert, dass im Einzelnen vorgetragen wird, aus welchen Gründen auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter aufgrund des
Prozessverlaufs nicht damit rechnen musste, dass das Gericht seine Entscheidung auf bestimmte Gesichtspunkte stützt (vgl Senatsbeschluss
vom 7.6.2016 - B 13 R 40/16 B - Juris RdNr 9). Dies ist der Beschwerdebegründung nicht zu entnehmen.
Vielmehr räumt der Kläger selbst ein, dass es einen - mangels diesbezüglichen Beweisantrags - mit der Nichtzulassungsbeschwerde
nicht rügefähigen Verstoß gegen §
103 SGG darstellt, wenn das LSG die in der Beschwerdebegründung aufgeführten Mutmaßungen über die Anforderungen der Tätigkeit in
einer Poststelle anstellt, ohne diese selbst ermittelt zu haben oder sich hierbei im Wege des Urkundsbeweises auf beigezogene
aktuelle Ermittlungsergebnisse aus anderen Verfahren stützen zu können. Zugleich mag es einen Verstoß gegen die Grenzen der
freien Beweiswürdigung darstellen, wenn das LSG nach Auffassung des Klägers (vgl S 3 der Beschwerdebegründung) das Gesamtergebnis
des Verfahrens nicht ausreichend berücksichtigt hat (vgl zB BSG Urteil vom 27.3.2012 - B 2 U 7/11 R - SozR 4-2700 §
2 Nr
19 RdNr
19 mwN). Gemäß §
160 Abs
2 Nr
3 Halbs 2
SGG kann aber der geltend gemachte Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung der §§
109 und
128 Abs
1 S 1
SGG und auf eine Verletzung des §
103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt
ist. Dieser Ausschluss kann auch nicht dadurch umgangen werden, dass - wie vorliegend - anstelle mangelnder Sachaufklärung
oder eines Überschreitens der Grenzen freier Beweiswürdigung ein Verstoß gegen die Begründungspflicht nach §
128 Abs
1 S 2 iVm §
136 Abs
1 Nr
6 SGG gerügt wird (vgl BSG Beschluss vom 7.6.2016 - B 13 R 40/16 B - Juris RdNr 6). Dies gilt umso mehr, als ein Verstoß gegen die Begründungspflicht des LSG nicht ersichtlich ist, wenn
- was die Darlegungen des Klägers nahelegen - überhaupt Ausführungen vorhanden sind. Dabei ist zudem zu berücksichtigen, dass
das Gericht nicht jeden Gesichtspunkt abhandeln muss; die Begründungspflicht ist selbst dann nicht verletzt, wenn die Ausführungen
zu den rechtlichen oder tatsächlichen Gegebenheiten falsch, oberflächlich oder wenig überzeugend sein sollten (vgl BSG Beschluss vom 27.6.2018 - B 13 R 273/16 B - Juris RdNr 39 mwN).
Dass der Kläger das Berufungsurteil inhaltlich für unrichtig hält, kann ebenfalls nicht zur Zulassung der Revision führen
(stRspr, vgl zB BSG Beschluss vom 25.7.2011 - B 12 KR 114/10 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 22 RdNr 4; BVerfG Beschluss vom 6.5.2010 - 1 BvR 96/10 - SozR 4-1500 § 178a Nr 11 RdNr 28 mwN).
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab, weil sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung
beizutragen (§
160a Abs
4 S 2 Halbs 2
SGG).
Die Verwerfung der unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß §
160a Abs
4 S 1 Halbs 2 iVm §
169 S 2 und 3
SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von §
193 SGG.