Beachtung des Vorbringens der Beteiligten bei Nichtverkündung der Entscheidung
Gründe:
I
Der Kläger begehrt Rente wegen voller Erwerbsminderung. Im Verfahren über seine Berufung hat ihn der Senat des Landessozialgerichts
Baden-Württemberg (LSG) mit Schreiben vom 20. September 2005 ua darauf hingewiesen, dass nach Aktenlage eine Entscheidung
nach §
153 Abs
4 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) "in Betracht" komme, und eine Äußerungsfrist von zwei Wochen gesetzt. Daraufhin hat der Kläger die Einholung eines Gutachtens
nach §
109 SGG beantragt, jedoch den vom LSG angeforderten Vorschuss nicht innerhalb der gesetzten Frist eingezahlt, sondern mit Fax vom
15. Dezember 2005 um Fristverlängerung gebeten. Der Vorsitzende hat ihm mit Schreiben vom 19. Dezember 2005 mitgeteilt, dass
wegen der Fristüberschreitung die Einholung eines Gutachtens nach §
109 SGG ebenso ausscheide wie eine Fristverlängerung; ferner beabsichtige das Gericht, über den Rechtsstreit alsbald nach §
153 Abs
4 SGG zu entscheiden. Mit Fax vom 27. Dezember 2005 (Absendung laut Kopfzeile um 15:40 Uhr), das dem LSG an diesem Tage zugegangen
ist, hat der Kläger der beabsichtigten Entscheidung widersprochen und wegen Widersprüchen bzw Unzulänglichkeiten in den bisher
eingeholten Gutachten ua weitere Beweiserhebung nach §§
103,
106 SGG beantragt. Am 29. Dezember 2005 wurde dem Prozessbevollmächtigten des Klägers der am 28. Dezember 2005 abgesandte Beschluss
des LSG vom 27. Dezember 2005 zugestellt, der die Berufung zurückweist, ohne das Vorbringen des Klägers von diesem Tage zu
erwähnen.
Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des LSG rügt der Kläger ua als Verfahrensfehler
eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör bzw einen Verstoß gegen §
153 Abs
4 SGG. Die Frist zwischen Anhörung und Entscheidung sei zu kurz gewesen. Die Anhörungsmitteilung des LSG, die keine Fristsetzung
enthalten habe, sei ihm erst am 21. Dezember 2005 zugegangen. Das Berufungsgericht habe bereits am 27. Dezember 2005 durch
Beschluss entschieden; ihm sei nicht einmal eine Woche zur Stellungnahme verblieben, wobei auch berücksichtigt werden müsse,
dass Weihnachten in die Frist gefallen sei und folglich erst zum ersten Werktag, dem 27. Dezember 2005, eine Stellungnahme
möglich gewesen sei. Der Beschluss des Berufungsgerichts habe sein beim LSG an diesem Tag eingegangenes Schreiben, mit dem
er der beabsichtigten Entscheidung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung widersprochen und ua weitere Beweisaufnahme
nach §§
103,
106 SGG beantragt habe, jedoch nicht berücksichtigt.
II
Die Beschwerde des Klägers ist zulässig und begründet. Der gerügte Verfahrensverstoß liegt tatsächlich vor.
Der Kläger hat die Verletzung seines Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§
62 SGG) bzw des §
153 Abs
4 SGG hinreichend bezeichnet; die Rüge trifft auch zu.
Gemäß §
153 Abs
4 Satz 1
SGG kann das LSG, außer in den Fällen des §
105 Abs
2 Satz 1
SGG, die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für
erforderlich hält. Nach Satz 2 der Vorschrift sind die Beteiligten vorher zu hören. Die Anhörungspflicht nach §
153 Abs
4 Satz 2
SGG ist Ausdruck des verfassungsrechtlichen Gebots des rechtlichen Gehörs (Art 103 des Grundgesetzes >GG<), das im Beschlussverfahren nicht verkürzt werden darf (BSG vom 9. April 2003 - B 5 RJ 140/02 B). Wird in einem Anhörungsschreiben nach §
153 Abs
4 Satz 2
SGG ein neuer, nicht erkennbar unsubstantiierter Beweisantrag gestellt, darf nicht nach Satz 1 dieser Vorschrift entschieden
werden; vielmehr muss das Gericht entweder eine mündliche Verhandlung durchführen oder erneut zur beabsichtigten Zurückweisung
durch Beschluss anhören (BSG vom 17. September 1997, SozR 3-1500 § 153 Nr 4; BSG vom 20. Oktober 1999, SozR 3-1500 § 153 Nr 8; BSG vom 24. Februar 2000 - B 2 U 32/99 R -, HVBG-INFO 2000, 1083).
Seiner Anhörungspflicht ist das LSG zunächst mit Anhörungsschreiben vom 20. September 2005 mit Fristsetzung von zwei Wochen
nachgekommen. Unerheblich ist, ob das LSG aufgrund des Antrags auf Einholung eines Gutachtens nach §
109 SGG und der dann versäumten Frist zur Einzahlung des Kostenvorschusses zu einer zweiten Anhörung verpflichtet war, die es mit
Schreiben vom 19. Dezember 2005 (ohne Fristsetzung) vorgenommen hat. Es ist nicht vorgeschrieben, wenn auch zweckmäßig, bei
Anhörungen eine Frist zu setzen, binnen deren eine Stellungnahme abzugeben ist (vgl BSG Beschluss vom 22. Mai 2000 - B 2 U 80/00 B -, veröffentlicht bei Juris). Ein Verfahrensfehler ist nicht schon darin zu erblicken, dass ein Gericht eine Stellungnahme
zur beabsichtigen Entscheidung durch Beschluss nicht abgewartet hat (vgl BSG Beschluss vom 22. Juni 1998 - B 12 KR 85/97 B -, veröffentlicht bei Juris). Wenn jedoch - wie hier - eine Stellungnahme vorliegt, mit der der beabsichtigten Entscheidung
ohne mündliche Verhandlung widersprochen wird und weitere Beweisanträge gestellt werden, darf sie das LSG nicht unbeachtet
lassen. Dies folgt aus dem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs.
Das LSG hätte die bereits am Tag des Erlasses des Beschlusses bei Gericht eingegangene Stellungnahme des Klägers vom 27. Dezember
2005 berücksichtigen müssen. Darauf, ob der Schriftsatz dem Vorsitzenden Richter des LSG unter Umständen noch vorgelegt worden
ist, kommt es nicht an; das Gericht ist insgesamt dafür verantwortlich, dass das rechtliche Gehör eingehalten wird (vgl BVerfGE
67, 199, 201 f). Unerheblich ist auch, ob der Schriftsatz nach Ablauf einer Äußerungsfrist eingegangen ist. Art
103 Abs
1 GG verlangt, dass alle eingereichten Schriftsätze zur Kenntnis genommen werden, soweit das Vorbringen nicht ausnahmsweise aus
Gründen des formellen oder materiellen Rechts außer Betracht bleiben kann (vgl BVerfGE 63, 80, 85). Diese Voraussetzungen sind hier nicht gegeben. Das
SGG enthält bei richterlichen Fristen, jedenfalls für das hier maßgebliche Berufungsverfahren, keine Präklusionsvorschriften
hinsichtlich der Beachtung eines Vortrags (vgl auch Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG-Komm, 8. Aufl, §
64 Nr 2, §
65 Nr 2; Düring in Jansen >Hrsg<,
SGG-Komm, 2. Aufl, §
65 RdNr 2). Das Gericht ist vielmehr verpflichtet, Vorbringen der Beteiligten auch dann zu beachten, wenn es nach Ablauf einer
gesetzten Erklärungsfrist oder nach Fertigung, aber vor Hinausgabe der Entscheidung einläuft (vgl BVerfG vom 14. April 1988
- 1 BvR 544/86 -, NJW 1988, 1963). Dies gilt auch im Rahmen des §
153 Abs
4 Satz 2
SGG. Vorliegend hätte bei ordnungsgemäßer Verfahrensweise der Schriftsatz vom 27. Dezember 2005 den an der Entscheidung beteiligten
Richtern spätestens am Folgetag vorgelegt werden können. Zu diesem Zeitpunkt war die Entscheidung noch nicht verbindlich.
Gemäß §
142 Abs
1 iVm §
133 SGG werden Beschlüsse, die - wie hier - ohne mündliche Verhandlung ergehen, erst mit Zustellung wirksam. Das LSG hat die Zustellung
des unter dem 27. Dezember 2005 gefassten Beschlusses zwar mit Schlussverfügung des Vorsitzenden an demselben Tag angeordnet,
die Fertigung ist jedoch erst am nächsten Tag (28. Dezember 2005) durch die Verwaltung veranlasst worden. Laut Empfangsbekenntnis
des Prozessbevollmächtigten des Klägers ist der Beschluss dort am 29. Dezember 2005 zugestellt worden. Somit war der Beschluss
zum Zeitpunkt des Eingangs des Schreibens des Klägers (27. Dezember 2005 nachmittags) noch nicht zugestellt, sondern befand
sich noch im Bereich des LSG und war damit noch nicht wirksam (vgl auch BSG SozR 4-1500 § 154 Nr 1).
Der vom Kläger in dem Schriftsatz vom 27. Dezember 2005 gestellte Beweisantrag war aber weder unsubstantiiert noch bereits
bekannt. Insbesondere hatte der Kläger den Beweisantrag weder bereits in der Berufungsbegründungsschrift vom 15. August 2005
noch in seinem Schriftsatz vom 4. Oktober 2005, mit dem er allein die Einholung eines Gutachtens nach §
109 SGG beantragt hat, gestellt. Dann aber durfte das LSG in dieser Verfahrenssituation (noch) nicht durch Beschluss nach §
153 Abs
4 Satz 2
SGG entscheiden, sondern hätte entweder eine mündliche Verhandlung durchführen oder erneut zur beabsichtigten Zurückverweisung
der Berufung durch Beschluss anhören müssen (BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 4, 8).
Die angefochtene Entscheidung kann auf diesem Verfahrensfehler beruhen. Bei einer Verletzung des §
153 Abs
4 SGG sind keine näheren Ausführungen erforderlich, was in der mündlichen Verhandlung vorgetragen worden wäre. Es handelt sich
um einen absoluten Revisionsgrund (vgl BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 13; BSG Urteil vom 8. November 2001 - B 11 AL 37/01 R -, veröffentlicht bei Juris; vgl auch BSG SozR 4-1500 § 158 Nr 2).
Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerung hat der Senat die Sache im Beschlusswege nach §
160a Abs
5 SGG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.