Gegenstand des Verfahrens bei weiterem Bescheid nach dem ZRBG
Gründe:
I
Streitig ist die Gewährung von Altersrente insbesondere unter Berücksichtigung von Fremdrentenzeiten sowie einer Beschäftigung
in einem Ghetto.
Die am 13. November 1921 in Lublin/Polen geborene jüdische Klägerin ist als Verfolgte im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes
anerkannt. Sie lebt seit 1950 in Israel, wo sie die israelische Staatsangehörigkeit erwarb. Ihren Rentenantrag vom 20. Juli
1994 lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, die Wartezeit sei nicht erfüllt; eine Berücksichtigung der geltend gemachten
Beitrags- bzw Beschäftigungszeit von April 1936 bis September 1939 als Schneiderin in Polen sei nicht möglich, weil die Zugehörigkeit
zum deutschen Sprach- und Kulturkreis (dSK) iS von § 17a des Fremdrentengesetzes (FRG) nicht glaubhaft gemacht sei (Bescheid vom 30. Juli 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. Juni 1998).
Das Sozialgericht Düsseldorf (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 9. November 2001). Hiergegen hat die Klägerin Berufung eingelegt. Während des Berufungsverfahrens
hat sie bei der Beklagten beantragt, aufgrund ihrer Tätigkeit in einem Ghetto Leistungen nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung
von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) zu gewähren. Die Beklagte hat den Antrag mit der Begründung abgelehnt,
die aktuellen Angaben der Klägerin widersprächen ihren und den Angaben der Zeugen im Entschädigungsverfahren, in denen von
Zwangsarbeiten die Rede gewesen sei (Bescheid vom 23. Oktober 2003). Der Bescheid enthielt die Rechtsmittelbelehrung, dass
er Gegenstand des anhängigen Verfahrens geworden sei.
Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) hat die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zurückgewiesen und die Klage gegen den Bescheid vom 23. Oktober 2003 abgewiesen (Urteil vom 22. März 2004). Es hat seine
Entscheidung im Wesentlichen auf folgende Begründung gestützt: Die Voraussetzungen für die Gewährung von Regelaltersrente
(RAR) lägen nicht vor. Auch habe die Beklagte zu Recht einen Anspruch der Klägerin nach dem ZRBG abgelehnt. Dieser Bescheid
sei analog §
153 Abs
1, §
96 Abs
1 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) Gegenstand des Verfahrens geworden. Der Ausgangsbescheid und der Bescheid nach dem ZRBG verneinten denselben Rentenanspruch
unabhängig voneinander und stünden zueinander im Verhältnis von Erst- zu Zweitbescheid. Der zweite Bescheid lasse den ersten
Bescheid unberührt. Der Gedanke der Prozessökonomie gebiete aber die Einbeziehung des zweiten Bescheids, weil beide Bescheide
hinsichtlich Regelungsgehalt und Streitgegenstand weitgehend kongruent seien. Eine Berücksichtigung der geltend gemachten
Beschäftigungszeit wegen Reinigungsarbeiten im Ghetto Lublin vom Sommer 1940 bis März 1942 nach Maßgabe des ZRBG sei nicht
möglich. Es sei weder bewiesen noch glaubhaft gemacht, dass die Klägerin im Ghetto eine aus eigenem Willensentschluss zustande
gekommene Beschäftigung gegen Entgelt ausgeübt habe.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des §
96 SGG sowie von Art
19 Abs
4 des Grundgesetzes (
GG). Zu Unrecht habe das Berufungsgericht den Bescheid über die Ablehnung von Leistungen nach dem ZRGB analog §
96 SGG in das Verfahren mit einbezogen. Analogien seien restriktiv vorzunehmen. Dies gelte insbesondere, wenn - wie hier - streitgegenständliche
Versicherungszeiträume vollständig voneinander abgrenzbar seien. Sie, die Klägerin, habe zum einen eine Beschäftigungszeit
nach dem FRG von 1936 bis 1939 und in einem getrennten Verfahren eine solche Zeit nach dem ZRBG wegen einer Tätigkeit in einem Ghetto
von 1940 bis 1942 geltend gemacht. Auch die gesetzlichen Voraussetzungen für die Anerkennung dieser Versicherungszeiten seien
in beiden Fällen unterschiedlich. So erfordere die Anwendung des FRG die Zugehörigkeit zum dSK, während dies im Rahmen des ZRBG gerade nicht erforderlich sei. Zudem würden bei der Beurteilung
einer Beschäftigungszeit in einem Ghetto in beiden genannten Gesetzen unterschiedliche Maßstäbe für die Glaubhaftmachung einer
solchen gelten. Durch die unzulässige Einbeziehung des Bescheids nach dem ZRBG in das Berufungsverfahren sei ihr Rechtsschutz
unzulässig verkürzt worden, indem ihr insoweit verfahrensrechtlich "zwei Instanzen" genommen worden seien.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 22. März 2004 insoweit aufzuheben, als es die Klage hinsichtlich
des Bescheids der Beklagten vom 23. Oktober 2003 abgewiesen hat, und die Beklagte zu verurteilen, ein Vorverfahren durchzuführen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angegriffene Urteil für zutreffend.
II
Die Revision der Klägerin ist unbegründet.
Streitgegenstand ist die Ablehnung der Gewährung von RAR an die Klägerin aufgrund des Bescheids der Beklagten vom 30. Juli
1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. Juni 1998 sowie des Bescheids vom 23. Oktober 2003.
Zu Recht ist das LSG davon ausgegangen, dass hinsichtlich des Begehrens der Klägerin auf Gewährung von RAR der Bescheid der
Beklagten vom 23. Oktober 2003 in das (Berufungs-)Verfahren einbezogen worden ist. Im Gegensatz zur Auffassung des Berufungsgerichts
war dieser (zweite) Bescheid jedoch nicht analog §
96 SGG, sondern in direkter Anwendung dieser Vorschrift in das Verfahren einzubeziehen.
Nach §
96 Abs
1 SGG, der für das Verfahren vor den Landessozialgerichten gemäß §
153 Abs
1 SGG entsprechend gilt, wird ein neuer Verwaltungsakt dann Gegenstand des Verfahrens, wenn er den mit der Klage angefochtenen
früheren Verwaltungsakt abändert oder ersetzt. Geändert oder ersetzt wird ein Bescheid immer nur dann, wenn er denselben Streitgegenstand
wie der Ursprungsbescheid betrifft (BSGE 10, 103; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG-Komm, 8. Aufl 2005, §
96 RdNr 4) bzw wenn in dessen Regelung eingegriffen und damit die Beschwer des Betroffenen vermehrt oder vermindert wird (BSGE
91, 279 RdNr 7 mwN; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO RdNr 4b). Ein bloßer Sachzusammenhang mit dem anfänglich erhobenen
Anspruch ist jedenfalls nicht ausreichend. Diese Feststellung, ob der neue Bescheid in die Regelung des Erstbescheids eingegriffen
hat, ist durch Vergleich der in beiden Verwaltungsakten getroffenen Regelungen (der ergangenen "Verfügungssätze") zu treffen
(BSGE 47, 168 = SozR 1500 § 96 Nr 13; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO RdNr 4a).
Der Verfügungssatz des mit Widerspruchsbescheid vom 2. Juni 1998 bestätigten (Ausgangs-)Bescheids vom 30. Juli 1997 lautet:
"Der Antrag vom 20. Juli 1994 auf Gewährung eines Altersruhegeldes wird hiermit abgelehnt"; in der Begründung bezog sich die
Beklagte auch auf die Voraussetzungen einer RAR nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch. In dem (nachfolgenden) Bescheid vom
23. Oktober 2003 heißt es: "Ihrem Antrag vom 15.9.2003 auf Bewilligung von RAR unter Berücksichtigung von Beitragszeiten nach
Maßgabe des ZRBG kann nicht entsprochen werden." Zwar hat die Beklagte mit dem zweiten Bescheid den Ausgangsbescheid nicht
ausdrücklich geändert oder (teilweise) ersetzt. Sie hat aber in dem Bescheid nach dem ZRBG an der Ablehnung der Gewährung
einer Altersrente festgehalten. In beiden Bescheiden hat die Beklagte mit ihrer Verneinung der Ansprüche ausdrücklich zum
Ausdruck gebracht, dass sie dem Begehren der Klägerin auf Gewährung von Altersrente nicht entsprechen möchte; dh die Beklagte
hat die Ablehnung des gesamten Leistungsbegehrens ausdrücklich in den jeweiligen Verfügungssatz aufgenommen und sich nicht
allein auf Begründungselemente (zB Versicherungszeiten) hinsichtlich der begehrten Rente bezogen. Mit einem Rentenantrag -
wie ihn die Klägerin 1994 gestellt hat - will die Antragstellerin offenkundig jede denkbare Möglichkeit wahrnehmen, eine laufende
Geldleistung aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung zu erlangen. Welche Voraussetzungen hierfür vorliegen müssen,
ist eine Frage des einschlägigen Rentenrechts, dessen Anwendbarkeit ihm Einzelnen durchaus umstritten sein kann. Schon deshalb
kann aus dem Umstand, welche Tatsachen ein Rentenantragsteller zur Stützung seines Antrags vorträgt, nicht geschlossen werden,
er wolle seinen Antrag insoweit einschränken, dass nur bestimmte Zeiten zu seinen Gunsten berücksichtigt werden sollen. Es
sei im Übrigen darauf hingewiesen, dass durchaus Fälle denkbar sind, in denen die Anwendung des ZRBG zu einer niedrigeren
Leistung führt (hierzu zB BT-Drucks 15/1475 S 3 f). Auch deshalb kann es nicht in der Hand des Antragstellers liegen, ob diese
Neuregelung in seinem Verfahren zu beachten ist.
Selbst wenn die Beklagte während des Berufungsverfahrens keinen ausdrücklichen weiteren Bescheid erlassen hätte, hätte das
LSG das Begehren der Klägerin auch unter Einbeziehung von sonstigen geltend gemachten oder erkennbaren Zeiten wie auch Ghettozeiten
prüfen müssen. Für die von der Klägerin gegen den (ersten) Bescheid erhobene Anfechtungs- und Leistungsklage ist die Sach-
und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung maßgeblich (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO,
§ 54 RdNr 37a). Zu diesem Zeitpunkt war ihr Leistungsbegehren nach allen Richtungen, insbesondere hinsichtlich der geltend
gemachten Beschäftigung als Schneiderin in Polen von 1936 bis 1939 nach dem FRG, aber auch im Hinblick auf die behaupteten Reinigungsarbeiten im Ghetto Lublin von Sommer 1940 bis März 1942 nach dem ZRBG
zu prüfen. Denn zwischenzeitlich war das Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto und zur
Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch vom 20. Juni 2002 (BGBl I 2074) in Kraft getreten (grundsätzlich mit Wirkung
zum 1. Juli 2002, im Hinblick auf Art 1 jedoch auch schon mit Wirkung vom 1. Juli 1997, vgl Art 3 des Gesetzes). Das ZRBG
war vorliegend zu beachten, denn auch durch Erfüllung der in diesem Gesetz aufgeführten Voraussetzungen einer Ghettoarbeit
kann es zu einem Anspruch auf Altersrente kommen (vgl auch Urteil des erkennenden Senats vom 3. Mai 2005 - B 13 RJ 34/04 R -, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen; vgl ferner Senatsurteil vom 17. Februar 2005 - B 13 RJ 31/04 R - zur Einbeziehung des Anspruchs auf Rente wegen Erwerbsminderung nach dem ab 1. Januar 2001 geltenden Recht in ein laufendes
Verfahren, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen).
Somit war auch der Bescheid vom 23. Oktober 2003, mit dem die Beklagte zur Erfüllung der Voraussetzungen des ZRBG Stellung
genommen hat, in unmittelbarer Anwendung des §
96 SGG in das Berufungsverfahren einzubeziehen. Dies folgt auch aus folgenden Überlegungen: Der Beklagten bleibt es unbenommen,
auch während eines anhängigen Gerichtsverfahrens (sei es von Amts wegen, sei es auf Antrag) einen angefochtenen Bescheid nach
§ 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) zu überprüfen. Denn diese Regelung erfasst auch Verwaltungsakte, die noch nicht unanfechtbar geworden sind (siehe die Wendung
in § 44 Abs 1 und Abs 2: "auch nachdem er unanfechtbar geworden ist"). Ergeht aber ein derartiger - positiver - Bescheid während
eines Gerichtsverfahrens, so nimmt er den ursprünglich angefochtenen Bescheid (teilweise) zurück, "ändert" ihn also iS des
§
96 Abs
1 SGG. Entsprechendes gilt, wenn - zB nach Bewilligung einer Rente - die Beklagte einer während des Gerichtsverfahrens eingetretenen
(tatsächlichen oder rechtlichen) Änderung durch einen Bescheid nach § 48 Abs 1 SGB X Rechnung trägt. Dann aber muss auch ein Bescheid, mit dem die Beklagte während eines Gerichtsverfahrens ablehnt, nach § 44 SGB X tätig zu werden oder einer Änderung Rechnung zu tragen, Gegenstand des Verfahrens werden. Nur so kann auch vermieden werden,
dass - durch welcherart Vorgehen auch immer - über denselben Streitgegenstand (hier: Anspruch der Klägerin auf Altersrente)
mehrere gerichtliche Verfahren nebeneinander geführt werden (vgl zur Vermeidung widersprechender Entscheidungen bzw zur Prozessökonomie
Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 96 RdNr 1).
Hingegen liegt, entgegen der Ansicht der Klägerin, im Vorgehen des LSG keine Verletzung der Rechtsweggarantie des Art
19 Abs
4 GG. Soweit - wie hier - ein weiterer Bescheid Gegenstand des Berufungsverfahrens wird, ist weder ein Vorverfahren noch ein erstinstanzliches
Gerichtsverfahren erforderlich; verfassungsrechtliche Bedenken bestehen insoweit nicht (vgl BSGE 11, 146, 147 f; ferner BSG Urteil vom 14. Februar 1989 - 7 RAr 62/87).
Da die Klägerin lediglich die erörterte Verfahrensrüge erhoben hat, ist auf materiell-rechtliche Gesichtspunkte nicht einzugehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 Abs
1 SGG.