Anspruch auf Arbeitslosengeld II
Übernahme der Reparaturkosten einer Brille als Sonderbedarf für die Reparatur von therapeutischen Geräten und Ausrüstungen
Gründe:
I
Umstritten ist die Übernahme von Kosten für eine Brillenreparatur.
Der 1960 geborene Kläger bezog laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Am 3.6.2014 beantragte er bei dem beklagten Jobcenter die Übernahme der Reparaturkosten für seine Brille und fügte eine
Rechnung des Augenoptikers ebenfalls vom 3.6.2014 über einen Betrag von 110 Euro bei (10 Euro Einarbeiten Gläser, 65,50 Euro
ein Glas links, 44 Euro Entspiegelung, Abzug 9,50 Euro). Der Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 10.7.2014) und wies
den Widerspruch des Klägers zurück (Widerspruchsbescheid vom 29.8.2014). Bedarfe für Reparaturen von Brillen seien wie die
Brillen selbst durch den Regelbedarf abgedeckt und stellten keinen unabweisbaren Bedarf dar. Ein Sonderbedarf (§ 24 Abs 3 Satz 1 Nr 3 SGB II) liege nicht vor, denn Brillen seien bereits nach dem Wortlaut keine therapeutischen Geräte.
Die dagegen erhobene Klage hat das SG abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 2.2.2015). Nach Zulassung der Berufung hat das LSG den Gerichtsbescheid geändert und den
Beklagten verurteilt, dem Kläger die Kosten für die Reparatur seiner Brille in Höhe von 66 Euro zu erstatten (Urteil vom 14.12.2016).
Der Kläger habe einen Anspruch nach § 24 Abs 3 Satz 1 Nr 3 und Satz 2 SGB II. Zwar seien die Kosten für die Anschaffung von Brillen im Regelbedarf enthalten, dagegen fänden sich weder im Gesetzeswortlaut
noch in der Gesetzesbegründung Hinweise darauf, dass auch die Kosten für Brillenreparaturen vom Regelbedarf erfasst seien.
Vielmehr seien Brillen als "therapeutische Geräte und Ausrüstungen" zu definieren. Aus systematischen und verfassungsrechtlichen
Erwägungen sei die genannte Rechtsnorm so auszulegen, dass sie Kosten für Brillenreparaturen umfasse. Vorrangige Ansprüche
gegen Dritte, insbesondere gegen die gesetzliche Krankenversicherung, existierten nicht. Der Höhe nach sei der Rechnungsbetrag
um 44 Euro zu kürzen, da eine Entspiegelung von Brillengläsern in aller Regel nicht medizinisch notwendig sei und entgegenstehende
Gründe nicht ersichtlich seien.
Allein der Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und eine Verletzung von § 24 Abs 3 SGB II gerügt. Reparaturkosten für Brillen seien vom Regelbedarf umfasst. Aus der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) 2003
und den diesbezüglichen Hinweisen zum Fragebogen des Statistischen Bundesamts für den Bereich "therapeutische Mittel und Geräte"
sei ersichtlich, dass nur Reparaturen von therapeutischen Geräten nicht vom Regelbedarf umfasst würden, während es sich bei
Brillen um therapeutische Mittel handele.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 14. Dezember 2016 zu ändern und die Berufung des Klägers gegen
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Oldenburg vom 2. Februar 2015 insgesamt zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er führt insbesondere aus, dass ungeachtet der grammatikalischen Auslegung des unbestimmten Begriffs des "therapeutischen
Geräts" eine Unterdeckung entstehen könne, wenn Gesundheitsleistungen wie Sehhilfen weder im Rahmen des Regelbedarfs gedeckt
werden könnten, noch anderweitig gesichert seien, sodass die Sozialgerichte Regelungen wie § 24 SGB II verfassungskonform auszulegen hätten (Verweis auf BVerfG vom 23.7.2014 - 1 BvL 10/12 - BVerfGE 137, 34).
II
Die zulässige Revision des Beklagten ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§
170 Abs
1 Satz 1
SGG). Das LSG hat den Beklagten zu Recht verurteilt, die Kosten für die Reparatur der Brille des Klägers in Höhe von 66 Euro
zu übernehmen.
1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist neben den vorinstanzlichen Entscheidungen der Bescheid des Beklagten vom 10.7.2014
in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.8.2014, mit dem der Beklagte den Antrag des Klägers auf "Übernahme der Kosten
für die Reparatur meiner Brille nach § 24 Abs 3 Nr 3 SGB II/§ 31 Abs 3 SGB XII" in Höhe von (ursprünglich) 110 Euro gemäß Rechnung des Optikers vom 3.6.2014 abgelehnt hat, wovon jetzt noch 66 Euro im
Streit stehen.
In der Sache begehrt der Kläger mit seinem Antrag allein die Übernahme der Reparaturkosten für seine Brille (§ 37 Abs 1 Satz 2 SGB II). Insofern hat er den Streitgegenstand in zulässiger Weise auf diesen Sonderbedarf beschränkt, weil Leistungen nach § 24 Abs 3 Satz 1 Nr 1 bis 3 SGB II gesondert und auch erbracht werden, wenn Leistungsberechtigte keine Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich
der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung benötigen, den besonderen Bedarf jedoch aus eigenen Kräften und Mitteln
nicht voll decken können (§ 24 Abs 3 Satz 2 und 3 SGB II).
2. Verfahrensrechtliche Hindernisse stehen einer Sachentscheidung des Senats nicht entgegen. Der Kläger verfolgt den von ihm
geltend gemachten Anspruch zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§
54 Abs
1 Satz 1, Abs
4 SGG), denn er begehrt die Zahlung von (nur noch) 66 Euro. Da das LSG nur diesen Teilbetrag statt der beantragten 110 Euro zu
Gunsten des Klägers ausgeurteilt und im Übrigen die Berufung zurückgewiesen hat, sind im Revisionsverfahren nur noch 66 Euro
im Streit, weil nur der Beklagte Revision eingelegt hat.
3. Rechtsgrundlage für den Anspruch auf Übernahme der Kosten für eine Brillenreparatur ist § 24 Abs 3 Satz 1 Nr 3, Satz 2 SGB II in der ab 1.4.2011 geltenden, insofern unverändert gebliebenen Fassung der Bekanntmachung vom 13.5.2011 (BGBl I 850). § 24 SGB II regelt die abweichende Erbringung von Leistungen. In Absatz 3 der genannten Norm werden die Bedarfe konkretisiert, die von vornherein nicht von dem Regelbedarf nach § 20 SGB II umfasst sind. Dazu gehören nach § 24 Abs 3 Satz 1 Nr 3 SGB II die Anschaffung und Reparaturen von orthopädischen Schuhen, Reparaturen von therapeutischen Geräten und Ausrüstungen sowie
die Miete von therapeutischen Geräten (ebenso § 31 Abs 1 Nr 3 SGB XII). Leistungen hierfür werden gesondert erbracht (§ 24 Abs 3 Satz 2 SGB II).
4. Der Kläger hat einen Anspruch auf einen Sonderbedarf nach Var 2 des § 24 Abs 3 Satz 1 Nr 3 SGB II. Die Brillenreparatur ist eine Reparatur eines therapeutischen Geräts oder einer Ausrüstung und somit nicht vom Regelbedarf
umfasst.
a) Der Kläger ist nach den Feststellungen des LSG ein erwerbsfähiger Leistungsberechtigter (§ 7 Abs 1 Satz 1 SGB II). Sein geltend gemachter Sonderbedarf entfällt nicht dadurch, dass er Hilfe von Dritten beanspruchen könnte. Insofern hat
das LSG festgestellt, dass der Kläger keine Gewährleistungsansprüche gegen den Verkäufer oder Hersteller der Brille besitzt.
Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, dass ein Anspruch gegen die gesetzliche Krankenversicherung nach §
33 Abs
2 SGB V ausscheidet, weil weder vorgetragen noch ersichtlich ist, dass der Kläger mit einem festgestellten Dioptrienwert von - 1,00
und einem Zylinderwert von - 0,75 des eingearbeiteten Glases die Voraussetzung für eine Leistung der Krankenkasse erfüllen
könnte.
b) Der geltend gemachte Sonderbedarf ist ein Reparaturbedarf gemäß § 24 Abs 3 Satz 1 Nr 3 Var 2 SGB II, weil an der ansonsten funktionsfähigen Brille des Klägers lediglich ein Glas ausgetauscht worden ist. Eine Reparatur ist
zu verneinen, wenn eine gesamte neue Brille angeschafft werden muss, nachdem die alte Brille defekt ist, oder wenn ein Austausch
von beiden Gläsern stattfindet, zB wegen veränderter Sehschärfe (vgl etwa Bockholdt, Gesundheitsspezifische Bedarfe von gesetzlich
krankenversicherten Leistungsempfängern nach dem SGB II, NZS 2016, 881, 883; Behrend in jurisPK-SGB II, 4. Aufl 2015, § 24 RdNr 87; Blüggel in Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl 2017, § 24 RdNr 120; von Boetticher in LPK-SGB II, 6. Aufl 2017, § 24 RdNr 36).
c) Der Kläger erfüllt auch die sonstigen Voraussetzungen der genannten Vorschrift, denn die Kosten für die Reparatur der Brille
sind nicht vom Regelbedarf nach § 20 SGB II umfasst, sondern vom Sonderbedarf nach § 24 Abs 3 Satz 1 Nr 3 Var 2 SGB II.
aa) Dieser Sonderbedarf ist eingeführt worden, um Bedarfe abzudecken, die nicht in die Ermittlung des Regelbedarfs eingeflossen
sind (vgl BT-Drucks 17/3404, S 102 f). Welche Bedarfe in die Ermittlung des Regelbedarfs eingeflossen sind, ergibt sich aus
der für den streitigen Zeitraum maßgebenden EVS 2008 des Statistischen Bundesamts, die dem am 1.1.2011 in Kraft getretenen
Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.3.2011 (BGBl I 453) zugrunde gelegen hat.
Die EVS 2008 weist bei den Beträgen der regelbedarfsrelevanten Verbrauchsausgaben in der Abteilung 06 zur Gesundheitspflege
als Bedarfsposition unter dem Code 0613900 "therapeutische Mittel und Geräte (einschließlich Eigenanteile)" aus. Was unter
therapeutischen Mitteln und Geräten zu verstehen ist, erschließt sich aus den Ausfüllhinweisen des Statistischen Bundesamts
zur Führung des Haushaltsbuchs im Rahmen der EVS 2008 (Statistisches Bundesamt, Wirtschaftsrechnungen, Fachserie 15 Heft 7,
2013, Anlage: Erhebungsunterlagen der EVS 2008 - Haushaltsbuch, S 42). Dort werden bei dem Hinweis zu L/08-09 - ohne eine
Differenzierung zwischen therapeutischen Mitteln und Geräten vorzunehmen - unter diese Position zusammengefasst: "elektrische
und feinmechanische Gebrauchsgüter (Hörgeräte, Massagegeräte, Bestrahlungsgeräte, Blutzucker- und Blutdruckmessgeräte, Ultraschall-
und Kontaktlinsenreinigungsgeräte), Brillen, Kontaktlinsen, andere therapeutische Geräte und Ausrüstungen sowie orthopädische
Erzeugnisse (Einlagen für Schuhe, Arm- und Beinprothesen, Bruchbänder, Krankenfahrstühle, -betten, Gehstöcke), Mieten von
therapeutischen Geräten, ohne medizinische Strumpfwaren, Fieberthermometer, Wärmflaschen, Spritzen, Eisbeutel". Daraus ergibt
sich, dass Brillen und Kontaktlinsen in der Systematik der EVS 2008 therapeutische Geräte und Ausrüstungen sind, denn direkt
im Anschluss an die Nennung der Brillen und Kontaktlinsen folgen "andere" therapeutische Geräte und Ausrüstungen.
Aus den Ausfüllhinweisen ergibt sich zudem, dass nur Ausgaben für die Anschaffung von Brillen in der EVS als regelbedarfsrelevant
berücksichtigt und damit vom Regelbedarf umfasst sind, denn der unmittelbar nachfolgende Hinweis zu L/10 führt die Reparaturkosten
von therapeutischen Geräten und Ausrüstungen gesondert auf. Dementsprechend waren die Ausgaben für therapeutische Mittel und
Geräte (einschließlich Eigenanteile) gesondert von den Ausgaben für Reparaturen von therapeutischen Geräten und Ausrüstungen
(einschließlich Eigenanteile) in das Haushaltsbuch einzutragen (Statistisches Bundesamt, aaO, S 43). Diese Ausgaben sind,
anders als jene, nicht in die Regelbedarfsermittlung eingeflossen (vgl nur BT-Drucks 17/3404, S 58 und S 140, dort Code 0613090
in Abgrenzung zu Code 0613900). Hierfür bestehende Bedarfe werden durch den Sonderbedarf nach § 24 Abs 3 Satz 1 Nr 3 Var 2 SGB II abgedeckt.
bb) Dieses Ergebnis steht im Einklang mit dem Sinn und Zweck des Gesamtsystems. Während Brillen als solche zu den typischen
langlebigen Gebrauchsgütern gezählt werden, wie auch Waschmaschinen, Kühlschränke, Fahrräder (BT-Drucks 17/3404, S 58, 103),
die im Regelbedarf vorgesehen sind, wurden die der Sonderauswertung der EVS 2003 noch als regelbedarfsrelevant zugrunde gelegten
Positionen "orthopädische Schuhe, Reparaturen von therapeutischen Geräten sowie Miete von therapeutischen Geräten" ausdrücklich
nicht mehr für den Regelbedarf berücksichtigt, sondern es ist ein neuer einmaliger Bedarf im SGB II und im SGB XII eingeführt worden (BT-Drucks 17/3404, S 58, 103, 124). Zur Begründung wird ausgeführt, dass mit der Reparatur eines therapeutischen
Geräts wie der Brille eine seltene und untypische Bedarfslage auftritt, die wegen der Höhe der benötigten Mittel im Rahmen
eines Sonderbedarfs erfasst werden soll. Diese Begründung folgt letztlich aus dem der Regelbedarfsermittlung zugrunde liegenden
Statistikmodell. Wegen der Seltenheit solcher Sonderbedarfe wie Reparaturkosten für eine Brille wäre eine Berücksichtigung
im Regelbedarf nicht sachgerecht. Sie würde vielmehr zu Verzerrungen führen, weil der regelbedarfsrelevante Betrag so niedrig
wäre, dass er realistisch kaum messbar wäre und den tatsächlichen Bedarf nicht abbilden würde (siehe dazu BT-Drucks 17/3404,
S 103, 124).
5. Der dem Kläger zustehende Sonderbedarf für die Reparatur seiner Brille ist vom Beklagten in Höhe der vom LSG ausgeurteilten
66 Euro zu übernehmen. Insofern ist das LSG von einem angemessenen Betrag ausgegangen. Dies ist von den Beteiligten nicht
mit Verfahrensrügen angegriffen worden.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG.