Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde im sozialgerichtlichen Verfahren, Verfahrensmangel der verspäteten Zustellung des
Berufungsurteils
Gründe:
Mit Urteil vom 9.6.2006 - L 14 RA 114/04 - hat das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) Ansprüche des Klägers auf Feststellung von Beitragszeiten (21.5.1958
bis 16.8.1958; 17.9.1963 bis 24.8.1967; 2.9.1967 bis 1.9.1992) und Kindererziehungszeiten (nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen)
nach dem Fremdrentengesetz (FRG) verneint und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Die Vormerkung der vom Kläger in der ehemaligen Sowjetunion zurückgelegten
Beitrags- und Beschäftigungszeiten bzw Kindererziehungszeiten sei nur möglich, wenn die Vorschriften des FRG anwendbar wären, was dem Kläger bereits in den vorangegangenen Entscheidungen dargelegt worden sei. Eine Berücksichtigung
der streitigen Zeiten nach dem FRG scheitere daran, dass der Kläger weder die Voraussetzungen des § 1 FRG noch die erleichterten Voraussetzungen des § 20 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) erfülle. Hinsichtlich dieser fehlenden Voraussetzungen werde in vollem Umfang auf die rechtskräftige Entscheidung des LSG
Nordrhein-Westfalen vom 17.1.2003 - L 13 RA 7/01 - verwiesen. Die Einbeziehung des Klägers in das FRG über § 20 WGSVG scheitere daran, dass er nicht als Verfolgter iS des § 1 Bundesentschädigungsgesetz (BEG) anerkannt sei und die Voraussetzungen des § 1 BEG auch nicht in seiner Person erfüllt seien.
Er sei im Jahre 1940 geboren und habe auf Grund der Verfolgung keinen nach § 1 BEG maßgeblichen Schaden erlitten. Die antisemitischen
Repressalien, denen er nach dem Krieg bis zu seiner Ausreise in die Bundesrepublik ausgesetzt gewesen sei, seien nicht mehr
Ausdruck nationalsozialistischer Verfolgung, sondern des Antisemitismus in der früheren UdSSR. Da ein verfolgungsbedingter
Schaden nicht zu erkennen sei, könne in diesem Zusammenhang dahinstehen, ob er zum Zeitpunkt des Verlassens der Ukraine dem
deutschen Sprach- und Kulturkreis (dSK) angehört habe.
Die Anwendung des FRG sei auch nicht aus § 17a FRG abzuleiten, weil der Kläger eine der dort kumulativ genannten Voraussetzungen nicht erfülle. Er habe zum Zeitpunkt des Beginns
des nationalsozialistischen Einflussbereichs auf sein damaliges Heimatgebiet Ukraine am 1.9.1941 nicht dem dSK angehört. Der
Zugehörigkeit des Klägers zum dSK stehe zwar nicht entgegen, dass er zu diesem Zeitpunkt erst ein Jahr alt gewesen sei, denn
bei Kleinkindern sei die Zugehörigkeit zum dSK ggf von den Eltern abzuleiten. Unter Gesamtwürdigung aller Umstände sei aber
nicht überwiegend wahrscheinlich, dass die Eltern des Klägers dem dSK angehört hätten. Es sei nicht glaubhaft gemacht, dass
die Eltern des Klägers, insbesondere seine Mutter, die deutsche Sprache wie eine Muttersprache beherrscht und in ihrem persönlichen
Bereich überwiegend verwendet hätten.
Den zahlreichen vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisanträgen habe der Berufungssenat nicht nachkommen
müssen, weil sie entweder nicht entscheidungserheblich oder bereits berücksichtigt worden seien. Ein Anlass zur vom Kläger
beantragten Terminsaufhebung zur Wahrung seines rechtlichen Gehörs habe nicht bestanden, denn er habe ausreichend Zeit zur
sachgerechten Darstellung der Probleme des Rechtsstreits gehabt und schließlich in seinen insgesamt 130 Seiten umfassenden
Schriftsätzen zu allen denkbaren Aspekten des Sachverhalts und der rechtlichen Bewertung vorgetragen.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger beim Bundessozialgericht (BSG) Beschwerde eingelegt.
Mit seiner umfangreichen Beschwerdebegründung macht der Kläger zusammengefasst im Wesentlichen folgende Verfahrensmängel geltend:
Das LSG habe den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs (§
62 Sozialgerichtsgesetz [SGG], Art
103 Abs
1 Grundgesetz) dadurch verletzt, dass es den Verhandlungstermin fehlerhaft bestimmt und durchgeführt habe, obwohl er die Vertagung des
Termins beantragt habe. Die Terminsverlegung sei erforderlich gewesen, weil der Sachverhalt noch nicht schriftlich diskutiert
und die entscheidungserheblichen Gesichtspunkte vom LSG noch nicht mitgeteilt worden seien. Akteneinsicht sei ihm nicht gewährt
worden. Es habe ihm - dem Kläger - nicht zugemutet werden können, die mündliche Verhandlung ohne gründliche Vorbereitung wahrzunehmen.
Weiter habe das LSG Ausführungen und Anträge in seinen Schriftsätzen nicht zur Kenntnis genommen und dadurch die Vorbereitung
der Berufungsbegründung massiv erschwert. Außerdem seien verschiedene Gesichtspunkte des LSG erstmals mit dem Urteil bekannt
geworden; das LSG habe unter mehreren Aspekten eine Überraschungsentscheidung getroffen. Dadurch sei ihm die Möglichkeit genommen
worden, weiter vorzutragen und Anträge zu stellen. Das LSG habe auch seine tatsächlichen, erheblichen Ausführungen nicht zur
Kenntnis genommen. Schließlich liege auch eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§
103 SGG) vor, weil das LSG die in der mündlichen Verhandlung wiederholten Beweisanträge rechtswidrig und überraschend abgelehnt habe.
Zu einer weiteren Verletzung seines Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs sei es gekommen, weil er mit der Beschwerde
vom 20.6.2006 beantragt habe, das Verfahren vor dem LSG fortzusetzen. Das LSG habe dieses Verfahren jedoch nicht fortgesetzt
und die Beschwerde überraschend an das BSG übersandt, ohne ihm dies mitzuteilen.
Der erkennende Senat lässt dahinstehen, ob der Kläger mit seiner umfangreichen, sich in Teilen wiederholenden Beschwerdebegründung
Zulassungsgründe ordnungsgemäß dargetan hat und die Beschwerde damit den Darlegungserfordernissen an eine zulässige Beschwerde
genügt. Jedenfalls ist die Beschwerde unbegründet. Keiner der zahlreichen vom Kläger gerügten Verfahrensfehler liegt tatsächlich
vor.
Die vom Kläger gerügte Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs liegt vor, wenn das LSG seiner Pflicht, das
Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in seine Erwägungen einzubeziehen, nicht nachgekommen ist (vgl BVerfG
SozR 1500 § 62 Nr 13) oder sein Urteil auf Tatsachen und Beweisergebnisse stützt, zu denen sich die Beteiligten nicht haben
äußern können (vgl BSG SozR 3-1500 §
62 Nr 12). Dementsprechend sind insbesondere Überraschungsentscheidungen verboten (vgl dazu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 8. Aufl 2005, §
62 RdNr 8a, 8b mwN). Der Vorwurf des Klägers, das LSG habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, zielt im Wesentlichen
darauf, dass es seinen Antrag auf Verlegung der mündlichen Verhandlung übergangen habe, vor dem Verhandlungstermin nicht auf
wesentliche Gesichtspunkte des Rechtsstreits hingewiesen habe, Vorbringen des Klägers nicht berücksichtigt und eine Überraschungsentscheidung
getroffen habe. Eine Verletzung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs durch das LSG auf dem Weg zu seiner Entscheidung ist
jedoch nicht ersichtlich.
Soweit der Kläger dem LSG vorwirft, es habe den gestellten Vertagungsantrag nicht übergehen dürfen, so ist nach Durchsicht
der Akten auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens nicht erkennbar, weshalb eine Vertagung hätte geboten sein
können. Der Kläger hatte ausreichend Gelegenheit, sich zu dem Urteil des Sozialgerichts und der Sache zu äußern. Er hat dies
auch umfangreich getan. Allein im Berufungsverfahren hat er sich in mehreren Schriftsätzen auf insgesamt 130 Seiten zu allen
tatsächlichen und rechtlichen Aspekten des Rechtsstreits geäußert. Hinzu kommen noch Schriftsätze von insgesamt 72 Seiten
im Rahmen der ersten Instanz. Außerdem hat eine mündliche Verhandlung stattgefunden, bei der der Kläger weitere Gelegenheit
hatte, auf die für ihn wesentlichen Gesichtspunkte hinzuweisen. Abgesehen davon waren schon vor der mündlichen Verhandlung
alle wesentlichen Gesichtspunkte zwischen den Beteiligten diskutiert worden. Dabei hatte das LSG sogar wiederholt eine Terminsanberaumung
verschoben, um dem Kläger wunschgemäß Gelegenheit zu weiteren Stellungnahmen zu geben. Da insbesondere die letzten Schriftsätze
im Wesentlichen die bis dahin vorgebrachten Argumente lediglich wortreich wiederholten, durfte das LSG zu Recht von der Entscheidungsreife
ausgehen.
Das LSG war auch nicht gehalten, vor der Durchführung der mündlichen Verhandlung seine eigene Rechtsauffassung zu allen vom
Kläger vorgebrachten Argumenten schriftlich darzulegen und zu begründen. Der Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör
verpflichtet das Prozessgericht grundsätzlich nicht, die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden
Gesichtspunkte vorher mit den Beteiligten zu erörtern (vgl BSG SozR 3-1500 § 112 Nr 2 S 3 = NJW 2000, 3590, 3591 mwN). Etwas anderes gilt allerdings dann, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen rechtlichen Gesichtspunkt stützt,
mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen
nicht zu rechnen brauchte (vgl BVerfGE 86, 133, 144 f = DVBl 1992, 1215, 1217 = Juris RdNr 36). Trotzdem bleibt die abschließende Wertung der streitigen Sach- und Rechtsfragen dem Urteil vorbehalten.
Dies gilt auch für den vom Kläger mehrfach gestellten Antrag, das LSG möge ihm vorab diejenige Definition des Begriffs der
"Muttersprache" mitteilen, die es seiner Entscheidung zugrunde legen wolle.
Es liegen keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, dass das LSG in irgendeinem rechtlich relevanten Punkt eine Überraschungsentscheidung
getroffen hätte. Völlig neue Gesichtspunkte, mit denen der Kläger nicht hatte rechnen müssen, enthält das Urteil des LSG nicht.
Alle Sach- und Rechtsfragen, auf die das Urteil sich stützt, waren bereits Gegenstand vielfacher schriftsätzlicher Erörterungen
und auch schon des vorinstanzlichen Verfahrens. Dass der Kläger sich eine andere rechtliche Würdigung gewünscht hätte, macht
das Urteil nicht zu einer Überraschungsentscheidung.
Mit seinen weiteren Rügen, das Berufungsgericht habe Schriftsätze, Anträge etc nicht zur Kenntnis genommen und sich hiermit
in den Entscheidungsgründen nicht auseinandergesetzt, macht der Kläger letztlich geltend, das Urteil sei entgegen §
136 Abs
1 Nr
6 SGG nicht mit ausreichenden Gründen versehen. Ein Urteil ist jedoch nur dann nicht mit ausreichenden Entscheidungsgründen versehen,
wenn ihm hinreichende Gründe objektiv nicht entnommen werden können, etwa weil die angeführten Gründe unverständlich oder
verworren sind, nur nichtssagende Redensarten enthalten oder zu einer vom Beteiligten aufgeworfenen, eingehend begründeten
und für die Entscheidung erheblichen Rechtsfrage nur ausführen, dass diese Auffassung nicht zutreffe (vgl BSG SozR Nr 9 zu
§
136 SGG; SozR 1500 §
136 Nr 8). Entscheidungsgründe fehlen dagegen nicht schon dann, wenn das Gericht sich unter Beschränkung auf den Gegenstand der
Entscheidung einer bündigen Kürze befleißigt und nicht jeden Gesichtspunkt, der erwähnt werden könnte, abgehandelt hat. Ebenso
wenig ist die Begründungspflicht bereits dann verletzt, wenn die Ausführungen des Gerichts zu den rechtlichen Voraussetzungen
und zum tatsächlichen Geschehen aus der Sicht eines Dritten falsch, oberflächlich oder wenig überzeugend sind (vgl BSG vom
21.12.1987 - 7 BAr 61/84, Juris). Nach diesen Maßstäben erweist sich der Vorwurf des Klägers als haltlos, das Urteil sei nicht mit ausreichenden Entscheidungsgründen
versehen. Das LSG hat sein Urteil sorgfältig und eingehend begründet und ist auf alle wesentlichen vom Kläger vorgebrachten
Argumente eingegangen. Dagegen war das LSG nicht verpflichtet, auf das ausufernde Vorbringen des Klägers im Einzelnen einzugehen,
weil nicht ersichtlich ist, dass dies für die Entscheidung erforderlich gewesen wäre.
Auch der Vorwurf der mangelnden Sachaufklärung (§
103 SGG) greift nicht. Nach der Rechtsprechung des BSG (vgl zB BSG SozR 1500 §
160 Nr 5) ist das Gericht nur dann gemäß §
103 SGG zu weiteren Ermittlungen verpflichtet, wenn die vorliegenden Beweismittel nicht ausreichen.
Der Kläger hat zwar in der mündlichen Verhandlung zahlreiche Beweisanträge gestellt, das LSG hat jedoch in seinem Urteil zu
jedem einzelnen Beweisantrag Stellung genommen und ausgeführt, weshalb es die jeweils beantragte Beweiserhebung für nicht
erforderlich hielt. Auch für den erkennenden Senat ist nicht ersichtlich, dass weitere Beweiserhebungen im Hinblick auf die
zu entscheidenden Sach- und Rechtsfragen geboten gewesen wären. Der Senat hält es nicht für erforderlich, hierauf im Einzelnen
weiter einzugehen und verweist insoweit auf die zutreffenden Ausführungen des LSG, die das Absehen von weiteren Beweiserhebungen
rechtfertigen.
Die Zustellung des Berufungsurteils, dessen Übersendung der Kläger wohl als verspätet rügen möchte, liegt zwar geringfügig
über dem in den gesetzlichen Sollvorschriften genannten Zeitraum (vgl §§
134 Abs
2,
135 SGG), ein zur Aufhebung der vorinstanzlichen Entscheidung führender Verfahrensfehler liegt jedoch erst dann vor, wenn die Zustellung
des Urteils erst nach mehr als fünf Monaten erfolgt (vgl Meyer-Ladewig in ders/Keller/Leitherer, aaO, § 134 RdNr 4 mwN).
Schließlich ist dem LSG auch kein Verfahrensfehler unterlaufen, indem es dem angeblichen Antrag des Klägers auf Akteneinsicht
nicht entsprochen hat. Abgesehen davon, dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung zur Sache verhandelt hat, ohne auf seinen
Antrag hinzuweisen, und somit nicht alles getan hat, um sein Recht auf rechtliches Gehör zu wahren (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
aaO, § 62 RdNr 11c mwN), ist weder der Beschwerdebegründung noch den Verfahrensakten zu entnehmen, welches weitere entscheidungserhebliche
Vorbringen dem Kläger durch die Akteneinsicht ermöglicht worden wäre. Dazu hat der Kläger auch dann nichts vorgetragen, nachdem
ihm die Akten im Anschluss an das Berufungsverfahren im Rahmen einer Protokollberichtigung zugänglich gemacht worden waren.
Im Hinblick darauf ist auszuschließen, dass die angeblich vorenthaltene Akteneinsicht den Prozessausgang beeinflusst haben
kann.
Der Senat hat auch die übrigen Ausführungen der umfangreichen Beschwerdebegründung zur Kenntnis genommen, sieht jedoch keinen
Anlass, auf jedes vom Kläger vorgebrachte Argument eigens einzugehen. Denn auch bei Berücksichtigung der darin aufgezeigten
Gesichtspunkte bleibt es dabei, dass dem LSG auf dem Weg zu seinem Urteil Verfahrensfehler nicht vorzuwerfen sind.
Auf die vom Kläger gerügte, wenn auch vielfach in Verfahrensfehler "gekleidete", Unrichtigkeit des Berufungsurteils kann schon
nach den gesetzlichen Vorgaben eine Nichtzulassungsbeschwerde nicht gestützt werden.
Soweit der Kläger dem LSG noch vorwirft, das Verfahren auf seine Beschwerde vom 20.6.2006 nicht fortgesetzt zu haben, so kann
es sich hierbei schon nicht um einen Verfahrensfehler auf dem Weg zu einer Entscheidung handeln, da dieser Antrag nach dem
Urteil des LSG gestellt worden ist. Im Übrigen sieht die Prozessordnung eine Fortsetzung des Verfahrens nach dem Urteil des
LSG nicht vor, da gegen diese Entscheidung ein Rechtsmittel in Form der Nichtzulassungsbeschwerde gegeben ist (vgl §
178a Abs
1 Satz 1 Nr
1 SGG). Das LSG hat daher völlig korrekt die Beschwerde des Klägers an das BSG als Beschwerdegericht übersandt.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.