Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde im sozialgerichtlichen Verfahren; Bezeichnung des Verfahrensmangels eines Verstoßes
gegen den Amtsermittlungsgrundsatz
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten in der Hauptsache über die Bewilligung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.
Die 1954 geborene Klägerin ist in der Zeit von April 1970 bis Juni 1972 als Textilverkäuferin ausgebildet worden. Nach einer
Kindererziehungszeit bis Juli 1973 war sie von Februar 1974 bis Juli 1975 als Bandarbeiterin beschäftigt. Nach einer sich
anschließenden Zeit der Arbeitslosigkeit, Krankheit und weiteren Kindererziehung war die Klägerin seit dem 1.10.2000 als Küchenkraft
tätig.
Den Antrag der Klägerin auf Rente wegen Erwerbsminderung lehnte die Beklagte nach Auswertung medizinischer Unterlagen und
Einholung eines Gutachtens des Sachverständigen Dr. T. mit Bescheid vom 27.2.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 1.8.2003 ab. Im anschließenden Klageverfahren hat das Sozialgericht Oldenburg (SG) die Verwaltungsakte des Niedersächsischen Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie beigezogen, weitere Befundberichte
der behandelnden Ärzte beigezogen und den Orthopäden Dr. S. zum Sachverständigen ernannt. Auf dieser Grundlage hat das SG die Klage mit Urteil vom 3.7.2006 abgewiesen. Die Klägerin hat gegen dieses Urteil Berufung eingelegt und geltend gemacht,
sie sei aufgrund der erheblichen Schmerzen im Wirbelsäulen- und Schulterbereich sowie in den Händen nicht mehr erwerbsfähig.
Zwischenzeitlich sei sie auch in neurologisch-psychiatrischer Behandlung, sodass sich auch in dieser Hinsicht eine Einschränkung
der Erwerbsfähigkeit ergebe. Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) hat weitere medizinische Befunde beigezogen,
eine Auskunft des letzten Arbeitgebers der Klägerin eingeholt und die Orthopädin Dr. P. als Sachverständige gehört und die
Berufung mit Beschluss vom 9.4.2009 zurückgewiesen.
II
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des LSG ist begründet.
Gemäß §
160 Abs
2 Nr
3 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) ist die Revision gegen eine Entscheidung des LSG ua zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem
die angefochtene Entscheidung beruhen kann. Wird der Verfahrensmangel - wie vorliegend - auf eine Verletzung von §
103 SGG gestützt, muss er sich auf einen Beweisantrag beziehen, dem das LSG "ohne hinreichende Begründung" nicht gefolgt ist. Die
Beschwerdebegründung muss hierzu jeweils folgende Punkte enthalten (BSG, Beschlüsse vom 12.12.2003, B 13 RJ 179/03 B, SozR 4-1500 § 160a Nr 3 und vom 22.10.2008, B 5 KN 1/06 B, juris): (1) Bezeichnung eines für das Revisionsgericht ohne weiteres auffindbaren Beweisantrags, dem das LSG nicht gefolgt
ist, (2) Wiedergabe der Rechtsauffassung des LSG, aufgrund deren bestimmte Tatfragen als klärungsbedürftig hätten erscheinen
müssen, (3) Darlegung der von dem betreffenden Beweisantrag berührten Tatumstände, die zu weiterer Sachaufklärung Anlass gegeben
hätten, (4) Angabe des voraussichtlichen Ergebnisses der unterbliebenen Beweisaufnahme und (5) Schilderung, dass und warum
die Entscheidung des LSG auf der angeblich fehlerhaft unterlassenen Beweisaufnahme beruhen kann, das LSG mithin bei Kenntnis
des behaupteten Ergebnisses der unterlassenen Beweisaufnahme von seinem Rechtsstandpunkt aus zu einem anderen, dem Beschwerdeführer
günstigeren Ergebnis hätte gelangen können (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 5, 35, 45 und § 160a Nr 24, 34). Der von der Klägerin in diesem Sinne formgerecht gerügte Verfahrensfehler liegt vor. Das LSG hat
seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen (§
103 SGG) verletzt, indem es zur Frage des Vorliegens einer die Erwerbsfähigkeit mindernden Gesundheitsstörung nicht, wie von der
Klägerin beantragt, einen weiteren Sachverständigen auf psychiatrischem Gebiet gehört hat. Auf diesem Mangel kann die angegriffene
Entscheidung auch beruhen.
Die Klägerin hat mit Schriftsatz an das Berufungsgericht vom 8.10.2008 unter anderem darauf hingewiesen, dass durch die bisherige
Sachaufklärung ein bei ihr vorliegendes "Schmerzsyndrom" nicht abgeklärt sei und beantragt,
"dieser vorliegenden chronischen Schmerzsymptomatik im Zusammenhang mit einer depressiven Erkrankung der Klägerin durch ein
einzuholendes psychiatrisches/nervenfachärztliches Zusatzgutachten nachzugehen."
Sie hat außerdem nach Zustellung des Prozesskostenhilfe ablehnenden Beschlusses vom 11.2.2009 mit weiterem Schriftsatz vom
10.3.2009 unter Vorlage einer Bescheinigung des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. W. vom 23.2.2009 beantragt:
"Die Klage nicht durch Beschluss zurückzuweisen, sondern - wie beantragt - zur Abklärung der sich aus der ärztlichen Stellungnahme
des Dr. med. R. W. ergebenden Möglichkeit einer rentenrelevanten psychischen Erkrankung ein psychiatrisch-nervenfachärztliches
Zusatzgutachten einzuholen."
Die Klägerin hat damit jedenfalls beantragt, zu der von Dr. W. bescheinigten "depressiven Episode als Belastungsstörung ..."
mit "... Auswirkungen auf alle Lebensbereiche ..., natürlich auch auf die berufliche Leistungsfähigkeit" und deren rentenrechtlich
relevanten Auswirkungen auf ihre Leistungsfähigkeit Beweis zu erheben durch Zuziehung eines medizinischen Sachverständigen
auf psychiatrischem Fachgebiet. Sie hat dem Berufungsgericht so unmittelbar vor dessen angekündigter Entscheidung durch Beschluss
vor Augen geführt, dass sie die gerichtliche Aufklärungspflicht in einem bestimmten Punkt noch nicht als erfüllt angesehen
hat (sog Warnfunktion, vgl Beschluss des Senats vom 12.2.2009, B 5 R 48/08 B juris RdNr 7 mwN) und hat in der Beschwerdebegründung hinreichend deutlich ausgeführt, dass sie ihren Beweisantrag auch
noch am Schluss des Verfahrens aufrechterhalten hat. Zu einer erneuten Wiederholung ihres Beweisantrages nach dem Schreiben
des LSG vom 11.3.2009, in dem dieses den Schriftsatz vom 10.3.2009 lediglich zum Anlass genommen hatte, nochmals auf seine
frühere Ankündigung einer Entscheidung durch "Beschluss gemäß §
155 Abs
4 SGG" hinzuweisen, war die Klägerin ohnehin nicht verpflichtet (BSG vom 6.2.2007, B 8 KN 16/05 B, SozR 4-1500 § 160 Nr 12). Das LSG hätte sich ausgehend von seiner Rechtsauffassung aus objektiver Sicht gedrängt fühlen
müssen, diesem Antrag zu folgen. Das Berufungsgericht hat dem zeitlichen Umfang des beruflichen Leistungsvermögens prozessentscheidende
Bedeutung für die streitige Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit beigemessen und seine Überzeugung vom Vorliegen eines
noch "wenigstens sechs Stunden täglich körperlich leichte Arbeiten bei Einhaltung weiterer qualitativer Leistungseinschränkungen"
umfassenden Restleistungsvermögens im Wesentlichen auf die in erster Instanz durchgeführte "medizinische Beweisaufnahme" und
das von ihm selbst veranlasste "Sachverständigengutachten der Orthopädin Dr. P. vom 26. Mai 2008" gestützt. Zum weiteren Vortrag
der Klägerin hat das Berufungsgericht ausgeführt:
"... Soweit die Klägerin geltend macht, das Ausmaß ihrer Schmerzerkrankung bzw. der sich zwischenzeitlich eingestellten Depressionen
stünde der Ausübung einer körperlich leichten Tätigkeit entgegen, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Der von den medizinischen
Sachverständigen erhobene klinische Befund, sowie die noch im Januar 2009 durch Dr. W. mitgeteilte soziale Partizipation (die
Klägerin versuche mit ihrem Freundes- und Bekanntenkreis Kontakt zu halten, sie gehe schwimmen, um sich körperlich zu stärken)
ergeben nicht das Bild eines Menschen, der in einem solchen Ausmaß von Schmerzen gepeinigt ist, dass ihm die regelmäßige,
täglich wenigstens sechsstündige Verrichtung körperlich leichter Arbeiten nicht mehr möglich wäre.
Zu weiteren Ermittlungen auf medizinischem Gebiet, insbesondere in Form der Einholung eines neurologischen bzw psychiatrischen
Sachverständigengutachtens, besteht aus der Sicht des erkennenden Senats kein Anlass. Aus den vorliegenden Sachverständigengutachten
ergibt sich kein Anhalt für ein neurologisches Defizit bzw eine psychische Erkrankung von rentenrelevantem Ausmaß.
Das weitere Vorbringen der Klägerin in ihrem Schriftsatz vom 10. März 2009 gibt weder Anlass zu einer anderen Bewertung ihres
beruflichen Leistungsvermögens, noch macht es weitere Sachermittlungen auf medizinischem Gebiet erforderlich. Soweit die Klägerin
geltend macht, ihr Leistungsvermögen sei durch eine psychische Erkrankung in erheblichem Ausmaß eingeschränkt und in diesem
Zusammenhang rügt, dass im bisherigen Verfahren lediglich orthopädische Gutachten eingeholt worden seien, ist auf Folgendes
hinzuweisen: Von der Klägerin wurde im bisherigen Rechtsstreit keine psychische Erkrankung als Ursache für ihre Leistungsminderung
geltend gemacht; sowohl im Verwaltungs- als auch im erstinstanzlichen Gerichtsverfahren hat die Klägerin ausschließlich unter
Hinweis auf orthopädische Beschwerden den Rentenanspruch verfolgt. Ebenso findet sich kein Hinweis in der Berufungsbegründung
darauf, dass eine bei der Klägerin etwaige vorliegende psychische Erkrankung bisher nicht berücksichtigt worden wäre. Hier
ist lediglich darauf hingewiesen worden, dass sich die Klägerin zwischenzeitlich in neurologisch-psychiatrischer Behandlung
bei Dr. W. befinde. Der von Dr. W. vom Senat eingeholte Befundbericht vom 16. September 2006 hat eine von der Wirbelsäule
ausgehende Schmerzerkrankung beschrieben. Eine psychische Erkrankung ist dem Bericht nicht zu entnehmen. Auch keinem der vielzählig
zu den Akten gelangten anderen Befundberichte, Gutachten und ärztlichen Unterlagen ist ein Anhaltspunkt dafür zu entnehmen,
dass die Klägerin aufgrund einer psychischen Erkrankung erwerbsgemindert sein könnte. Erstmals mit Schriftsatz vom 27.1.2009
hat die Klägerin einen ärztlichen Bericht des Dr. W. vom 19. Januar 2009 vorgelegt, aus dem die Diagnose einer "lang anhaltenden"
depressiven Episode hervorgeht. Daraus folgt zum einen, dass der von der Klägerin seit Januar 2003 geltend gemachte Rentenanspruch
nur schwerlich auf eine erstmals im Januar 2009 beschriebene psychische Erkrankung gestützt werden kann. Zum anderen sind
aber auch Anhaltspunkte für eine seit Januar 2009 bestehende rentenrelevante Leistungsminderung auf psychiatrischem Fachgebiet
der Bescheinigung des Dr. W. nicht zu entnehmen. Insoweit wird auf die bereits im Beschluss des Senats vom 11. Februar 2009
gemachten Ausführungen verwiesen. Zu ergänzen ist, dass der Senat mangels vorhandener entsprechender älterer ärztlicher Berichte
davon ausgeht, dass es sich bei der nunmehr bescheinigten depressiven Episode um eine Akuterkrankung der Klägerin handelt.
Unbeachtlich ist in diesem Zusammenhang, dass Dr. W. die Diagnose einer "lang anhaltenden" depressiven Episode gestellt hat,
denn den von ihm mitgeteilten Befunden ist keinerlei Anhaltspunkt dafür zu entnehmen, auf welchen konkreten Zeitraum sich
"lang anhaltend" beziehen soll. Daran ändert auch die nunmehr von der Klägerin vorgelegte Bescheinigung von Dr. W. vom 23.
Februar 2009 nichts. Denn auch dieser ist nicht zu entnehmen, dass es sich bei der psychischen Erkrankung bereits um einen
über Monate bestehenden Zustand handelt. Eine bei der Klägerin etwa bestehende Akuterkrankung ist damit für die Annahme einer
dauerhaften Erwerbsminderung nicht ausreichend ..."
Diese Ausführungen genügen nicht, die fehlende Zuziehung eines medizinischen Sachverständigen auf psychiatrischem Gebiet zu
rechtfertigen. Zwar gilt für die Zuziehung eines weiteren Sachverständigen nicht der Grundsatz, dass auch neue Beweismittel
bis zur Grenze der Zumutbarkeit heranzuziehen sind (vgl hierzu BVerwG vom 26.8.1983, 8 C 76/80, Buchholz 310 §
86 Abs
1 VwGO Nr
147 S 9), und steht die Entscheidung darüber, ob ein weiterer Sachverständiger gehört werden soll, im pflichtgemäßen Ermessen
des Tatsachengerichts, das sich insbesondere auf die Ernennung eines einzigen Sachverständigen beschränken kann (§§
118 Abs
1 Satz 1 iVm §
404 Abs
1 Satz 1 und
2 Zivilprozessordnung [ZPO]). Das Gericht überschreitet die Grenzen seiner Entscheidungskompetenz aber, wenn es von der Zuziehung eines weiteren
Sachverständigen absieht, obwohl sich ihm dies - wie hier - hätte aufdrängen müssen.
Die Klägerin weist zutreffend darauf hin, dass dem Berufungsgericht Äußerungen medizinischer Sachverständiger allein auf orthopädischem
Gebiet zur Verfügung standen, die sich zudem mit dem Vorliegen von Erkrankungen auf psychiatrischem Fachgebiet nicht auseinandersetzen.
Unter diesen Umständen hätte sich das LSG nicht darauf beschränken dürfen, die von Dr. W. bestätigte "lang anhaltende" Depression
(vgl hierzu im Übrigen ua auch das sozialmedizinische Gutachten des Dr. L. für die AOK - Die Gesundheitskasse für Niedersachsen
vom 12.3.2008, S 325 ff, 328 der Berufungsakte: "... weitere Diagnose(n) 000 Verdacht auf zunehmend depressiv gefärbte Stimmungslage
...") trotz fehlender eigener Sachkunde lediglich als "Akuterkrankung" zu bewerten und ihr einen rentenrechtlich relevanten
Einfluss auf die Erwerbsfähigkeit abzusprechen. Das Berufungsgericht hat weder dargetan, warum es im Blick unter anderem auf
die "soziale Partizipation" der Klägerin selbst in der Lage sein sollte die gestellte Diagnose überhaupt in Frage zu stellen
noch, welche eigenen Erkenntnismittel ihm zur Verfügung stehen, deren Dauer und Auswirkungen zu beurteilen. Es hätte vielmehr
davon ausgehen müssen, dass schon logisch der Zeitpunkt der erstmaligen Diagnosestellung hinsichtlich des Vorliegens eines
die Bezeichnung aus psychiatrischer Sicht rechtfertigenden Zustandes allenfalls begrenzt aussagefähig sein kann, und daher
von der Zuziehung eines weiteren ärztlichen Sachverständigen auf psychiatrischem Fachgebiet nicht absehen dürfen. Gilt dies
nach der oberstgerichtlichen Rechtsprechung schon dann, wenn sich ein bereits gehörter "nervenärztlicher" Sachverständiger
mit Einwänden nur pauschal auseinandergesetzt hat (vgl BSG, Urteil vom 17.2.1994, 13 RJ 45/93, SozR 3-2200 § 1246 Nr 44), so ist von einer entsprechenden Sachaufklärungspflicht des Tatsachengerichts erst recht dann
auszugehen, wenn es erstmals um die fachliche Würdigung eines möglicherweise einschlägigen Krankheitsbildes geht.
Bei dieser Sachlage ist in Übereinstimmung mit dem Vorbringen der Klägerin auch nicht auszuschließen, dass die beantragte
Zuziehung eines weiteren medizinischen Sachverständigen auf psychiatrischem Gebiet weitere Gesundheitsstörungen erbracht hätte,
die im Zusammenwirken mit den bereits festgestellten Leiden das Leistungsvermögen in einem rentenrechtlich relevanten Umfang
mindern könnten.
Die Voraussetzungen des §
160 Abs
2 Nr
3 SGG liegen somit vor. Der Senat hebt gemäß §
160a Abs
5 SGG die angefochtene Berufungsentscheidung auf und verweist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurück.
Die beabsichtigte Rechtsverfolgung hat gleichzeitig iS von §
73a Abs
1 SGG iVm §
114 ZPO hinreichende Aussicht auf Erfolg. Der Klägerin ist daher Prozesskostenhilfe zu gewähren.
Das Berufungsgericht wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.