Berechnung der Belastungsgrenze für Zuzahlungen in der Krankenversicherung der Landwirte
Gründe:
I. Die Beteiligten streiten über die Höhe der Grenze, bis zu der vom Kläger im Jahre 2004 Zuzahlungen zu Leistungen der gesetzlichen
Krankenversicherung zu erbringen sind.
Der verheiratete Kläger ist als landwirtschaftlicher Unternehmer pflichtversichertes Mitglied der Beklagten. Er hat zwei,
1991 und 1992 geborene Kinder. Seine Ehefrau war im Jahre 2004 wegen einer schwerwiegenden chronischen Krankheit in Dauerbehandlung.
Die Beklagte stellte auf Antrag des Klägers die "Zuzahlungsbelastungsgrenze" für 2004 mit 121,47 Euro fest, kehrte die Differenz
(von 38,53 Euro) zu den in diesem Jahr bereits zugezahlten 160 Euro an den Kläger aus und erteilte ihm eine Befreiungsbescheinigung
für des Rest des Kalenderjahres (Bescheid vom 4.6.2004). Dabei berechnete sie die Belastungsgrenze mit 1 % des im - damals
- letzen Einkommensteuerbescheid (2002) festgestellten Jahreseinkommens von 23.790 Euro, vermindert um 4.347 Euro für die
Ehefrau und um je 3.648 Euro für die beiden Kinder des Klägers (also 1 % von 12.147 Euro). Dagegen machte der Kläger zusätzliche
Freibeträge von je 2.160 Euro für seine Kinder geltend. Die Beklagte wies den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom
6.12.2004).
Das Sozialgericht Lübeck (SG) hat die Beklagte verurteilt, die Zuzahlungsbelastungsgrenze des Klägers für das Jahr 2004 mit - nur - 78,27 Euro festzustellen
(Urteil vom 19.1.2006). Nach §
62 Abs
2 Satz 3
SGB V seien die jährlichen Bruttoeinnahmen für jedes Kind des Versicherten um den sich nach §
32 Abs
6 Satz 1 und 2
Einkommensteuergesetz (
EStG) ergebenden Betrag zu vermindern. Das seien nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift 5.808 Euro für jedes der beiden
Kinder des Klägers: Die in §
32 Abs
6 Satz 1
EStG genannten Freibeträge von 1824 Euro für das Existenzminimum des Kindes (Kinderfreibetrag) und 1.080 Euro für den Betreuungs-
und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf seien zu addieren und dann nach §
32 Abs
6 Satz 2
EStG zu verdoppeln.
Die Beklagte hat - die vom SG zugelassene - Sprungrevision eingelegt. Sie macht geltend: Das SG habe §
62 SGB V verletzt. Aus Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Gesetzesbegründung zu dieser Vorschrift ergebe sich, dass die jährlichen
Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt jeweils um einen Kinderfreibetrag von - nur - 3.648 Euro zu mindern seien.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Lübeck vom 19.1.2006 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er verteidigt die angegriffene Entscheidung.
II. Die Revision der Beklagten ist begründet. Das sozialgerichtliche Urteil ist aufzuheben und die Sache zurückzuverweisen.
Nach § 8 Abs 1 Zweites Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte (KVLG 1989) gilt - soweit nichts Abweichendes bestimmt ist - für Leistungen nach diesem Gesetz das Dritte Kapitel des
SGB V und damit - mangels abweichender Regelung im KVLG 1989 - für Zuzahlungen Versicherter die Belastungsgrenze des §
62 SGB V. Sie verläuft hier nach §
62 Abs
1 Satz 2 Halbsatz 2
SGB V - wegen chronischer Krankheit der Ehefrau des Klägers - bei 1 % der jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt. Deren
Betrag hat das SG dem Einkommensteuerbescheid des Klägers (und seiner Ehefrau) für das Jahr 2002 mit 23.790 Euro entnommen. Damit hat es an
einem historischen Einkommen gemessen, in welcher Höhe dem Kläger Zuzahlungen zumutbar sind. Das Gesetz verlangt dagegen eine
Prüfung aufgrund der aktuellen Einkommensverhältnisse, hier des Jahres 2004.
§
62 SGB V bestimmt zwar nicht ausdrücklich, die "jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt" welchen Kalenderjahres für die Belastungsgrenze
maßgeblich sein sollen. Aus Systematik und Zweck der Regelung ergibt sich aber, dass es die Einnahmen des Kalenderjahres sind,
für das die Belastungsgrenze zu berechnen ist. §
62 Abs
1 Satz 1
SGB V spricht von Zuzahlungen "während jeden Kalenderjahres". Der hier entscheidende Satz 2 knüpft mit den "jährlichen" Bruttoeinnahmen
an den so bestimmten Zeitraum an. Nur dadurch wird das Ziel des Gesetzes erreicht, Versicherte durch Zuzahlungen finanziell
nicht zu überfordern. Denn welche Belastungen nach dem Maßstab des Gesetzes noch erträglich sind, richtet sich nach dem aktuellen
Einkommen, aus dem die Zuzahlungen zu bestreiten sind. Ein historisches - uU Jahre zurückliegendes - Einkommen steht dazu
regelmäßig nicht mehr zur Verfügung.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den Besonderheiten der Landwirtschaft, die § 32 Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte (ALG) mit einer Regelung berücksichtigt, an der sich das SG bei seiner Entscheidung orientiert haben dürfte und die auch von der Beklagten entsprechend herangezogen worden sein mag:
Die Höhe von Beitragszuschüssen zur Alterssicherung der Landwirte richtet sich nach dem jährlichen Einkommen, und dieses wird
aus den Einkünften ermittelt, die sich aus dem sich auf das zeitnächste Veranlagungsjahr beziehenden Einkommensteuerbescheid
ergeben, sofern eine Veranlagung zur Einkommensteuer für eines der letzten vier Kalenderjahre erfolgt ist (§ 32 Abs 3 Satz 4 ALG). Eine solche Ausnahmeregelung gibt es zur Berechnung der Zuzahlungsgrenze nicht. Das SG hat mithin - offenbar an die Systematik des ALG anknüpfend - zu Unrecht die "Feststellungen des zuständigen Finanzamtes in dem zuletzt erstellten Einkommensteuerbescheid"
mit der Begründung für maßgebend erklärt, der Kläger unterliege als landwirtschaftlicher Unternehmer der Buchführungspflicht
nach §
4 EStG. Insofern hat das SG den Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2002 erkennbar nicht lediglich als Beweismittel zur Bestimmung der voraussichtlichen
Bruttoeinnahmen im Jahre 2004 herangezogen, sondern die darin enthaltenen Feststellungen aus Rechtsgründen als verbindlich
angesehen.
Die vom SG aufgrund seiner Rechtsauffassung unterlassenen Feststellungen zu den Bruttoeinnahmen des Klägers und seiner Ehefrau im Jahre
2004 kann das Revisionsgericht nicht nachholen (§
163 SGG). Sie sind auch nicht entbehrlich. Ohne sie kann der Senat insbesondere nicht die vom SG für grundsätzlich bedeutsam gehaltene Frage entscheiden, ob das maßgebliche Einkommen nur um Kinderfreibeträge von je 3.648
Euro zu mindern ist oder - wie vom SG angenommen - noch um zusätzliche Freibeträge von je 2.160 Euro für Betreuungs-, Erziehungs- und Ausbildungsbedarf, mit der
Folge, dass die Belastungsgrenze des Klägers um weitere 43,20 Euro (1 % von 4.320 Euro) sinken würde. Denn es erscheint nicht
ausgeschlossen, dass selbst eine nach der Methode des SG aus den aktuellen Einnahmen des Jahres 2004 berechnete Belastungsgrenze nicht unter dem von der Beklagten festgestellten
Betrag (121,47 Euro) liegt. Das wäre bei einem Ausgangsbetrag der Bruttoeinnahmen in Höhe von 28.110 Euro der Fall.
Damit ist das Urteil des SG aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an die Tatsacheninstanz zurückzuverweisen (§
170 Abs
2 SGG). Der Senat verweist den Rechtsstreit aus prozessökonomischen Gründen nicht an das SG, sondern an das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) zurück (§
170 Abs
4 SGG) .
Das LSG wird zunächst die im Jahre 2004 erzielten Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt zu ermitteln haben und dabei - wie die
Beklagte - wohl weiterhin Kindergeld (das der Kläger nach seinen Angaben im Revisionsverfahren für das Jahr 2004 bezogen hat)
unberücksichtigt lassen dürfen (vgl dazu BSGE 92, 46 RdNr 27 = SozR 4-2500 § 61 Nr 1 RdNr 28), obwohl das Kindergeld seit Umstellung des Systems des Familienlastenausgleichs
grundsätzlich keine zweckbestimmte Sozialleistung mehr ist, sondern zur Förderung der Familie nur insoweit dient, wie es zur
gebotenen steuerlichen Freistellung des Einkommens in Höhe des Existenzminimus des Kindes einschließlich der Bedarfe für Betreuung
und Erziehung oder Ausbildung nicht erforderlich ist (§
31 Satz 2
EStG). Sollte das LSG darüber hinaus dem §
62 Abs
2 Satz 3
SGB V iVm §
32 Abs
6 Satz 1 und 2
EStG einen Minderungsbetrag von 5.808 Euro je Kind entnehmen, so wird es weiter zu prüfen haben, ob davon das gezahlte Kindergeld
abzuziehen ist, weil die steuerliche Freistellung für ein Kind alternativ durch die Freibeträge nach §
32 Abs
6 EStG oder durch Kindergeld nach dem X. Abschnitt des
EStG bewirkt wird. Die Kumulierung von Freibetrag (5.808 Euro) und Kindergeld (1.848 Euro) könnte sich auch deshalb verbieten,
weil mit dem dadurch erreichten Betrag von 7.656 Euro die Entlastung für ein Kind um 76 % höher läge als "für den ersten in
dem gemeinsamen Haushalt lebenden Angehörigen des Versicherten" (2004: 15 % von 28.980 Euro = 4.347 Euro).
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.