Gründe:
A. Gegenstand und Sachverhalt des Ausgangsverfahrens
I. Streitgegenstand
Streitig ist, ob der Kläger vom 25.11.2014 bis 30.6.2015 höheres Arbeitslosengeld (Alg) beanspruchen kann.
II. Sachverhalt
Der Kläger deutscher Staatsangehörigkeit, der seinen Wohnsitz in H./Deutschland hat, war vom 1.7.1990 bis 30.11.2014 bei einem
Unternehmen in F./Schweiz als Werkzeugvoreinsteller/Fräser tätig. Sein Arbeitseinkommen betrug 80 645,45 CHF im Jahr 2012,
72 800 CHF im Jahr 2013 und 83 086,20 CHF vom 1.1.2014 bis 31.10.2014. Während dieser Beschäftigung ist er täglich von seinem
Wohnsitz in Deutschland zu seinem Arbeitsplatz in der Schweiz gependelt. Eine am 1.11.2014 begonnene Tätigkeit in Deutschland
als Werkzeugvoreinsteller beendete der Arbeitgeber durch Kündigung am 10.11.2014 mit Wirkung zum 24.11.2014. Das Arbeitsentgelt
für November 2014 in Höhe von 2232,77 Euro wurde erst am 11.12.2014 abgerechnet und ausgezahlt.
Die Bundesagentur für Arbeit (Beklagte) bewilligte Alg vom 25.11.2014 bis 24.11.2016 in Höhe von 29,48 Euro täglich nach einem
Bemessungsentgelt in Höhe von 73,73 Euro täglich (Bescheid vom 2.1.2015). Den Widerspruch des Klägers, mit dem er geltend
machte, das Gehalt seiner Beschäftigung in der Schweiz müsse als Berechnungsgrundlage für das Alg herangezogen werden, wies
sie zurück (Widerspruchsbescheid vom 16.1.2015). Nach den Regelungen zur europäischen Sozialrechtskoordinierung müsse eine
Bemessung nach innerstaatlichem Recht und nach Maßgabe des §
152 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung - (
SGB III) eine fiktive Bemessung nach der Qualifikationsgruppe 3 (Beschäftigungen, die eine abgeschlossene Ausbildung in einem Ausbildungsberuf
erfordern) erfolgen. Mit Wirkung ab 1.7.2015 wurde die Bewilligung von Alg wegen der erneuten Aufnahme einer Beschäftigung
durch den Kläger aufgehoben.
Das Sozialgericht Konstanz hat die Beklagte unter Änderung der angefochtenen Bescheide verurteilt, das Alg nach einem (höheren)
Bemessungsentgelt von 93,03 Euro zu berechnen und die Klage im Übrigen abgewiesen (Urteil vom 19.1.2016). Das Landessozialgericht
(LSG) Baden-Württemberg hat die Berufungen der Beklagten und des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 16.3.2017). Nach Art 62
Abs 1 VO (EG) 883/2004 iVm Art 62 Abs 2 VO (EG) 883/2004 sei der Berechnung des Alg nur das in der letzten Beschäftigung in
Deutschland erzielte Entgelt, nicht jedoch dasjenige der Tätigkeit in der Schweiz, zugrunde zu legen. Zwar könne das Arbeitsentgelt
für November 2014 nach den innerstaatlichen Vorschriften nicht berücksichtigt werden, weil es beim Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis
noch nicht abgerechnet gewesen sei. Es müsse ein fiktives Bemessungsentgelt zugrunde gelegt werden, weil in dem Bemessungszeitraum
keine 150 Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt aus einer Beschäftigung im Inland vorhanden seien. Diese innerstaatlichen Regelungen
würden aber durch Art 62 Abs 1 VO (EG) 883/2004 iVm Art 62 Abs 2 VO (EG) 883/2004 "verdrängt". Nach den verschiedenen Sprachfassungen
dieser Vorschrift sei es ausreichend, wenn der Betroffene einen rechtlichen Anspruch auf das Arbeitsentgelt habe und dieses
erst nach Eintritt der Arbeitslosigkeit abgerechnet werde und zufließe. Eine fiktive Bemessung dürfe auch nach innerstaatlichem
Recht nicht erfolgen, weil die Ausnahmeregelung des Art 68 Abs 1 Satz 2 der VO (EWG) 1408/71 nicht in die VO (EG) 883/2004
übernommen worden sei.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des Art 62 Abs 1 VO (EG) 883/2004 iVm Art 62 Abs 2
VO (EG) 883/2004. Art 62 VO (EG) 883/2004 verdränge die Bemessung nach nationalem Recht nicht soweit, dass entgegen den in
Deutschland geltenden Bemessungsregelungen auch nicht abgerechnetes Arbeitsentgelt berücksichtigt werden müsse. Der Wegfall
der fiktiven Bemessung nach dem koordinierenden Sozialrecht schließe eine fiktive Bemessung nach nationalem Recht nicht aus.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 16. März 2017 und des Sozialgerichts Konstanz vom 19. Januar 2016
aufzuheben, die Klage abzuweisen und die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 16. März 2017 zurückzuweisen und
diese unter teilweiser Aufhebung der Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 16. März 2017 und des Sozialgerichts
Konstanz vom 19. Januar 2016 sowie unter Abänderung des Bescheids vom 2. Januar 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 16. Januar 2015 zu verurteilen, dem Kläger Arbeitslosengeld für die Zeit vom 25. November 2014 bis 30. Juni 2015 unter
Berücksichtigung des in der Schweiz erzielten Einkommens zu erbringen.
Auch der Kläger rügt eine Verletzung des Art 62 VO (EG) 883/2004. Die Beschränkung des Anspruchs auf inländische Bezugsgrößen
bei nur kurzer Beschäftigung diskriminiere mobile gegenüber immobilen Arbeitnehmern. Gegenüber Grenzgängern werde er in ungerechtfertigter
Weise benachteiligt.
B. Entscheidungsgründe:
Der Senat setzt das Verfahren gemäß §§
165,
153 Abs
1, §
114 Sozialgerichtsgesetz aus und legt dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) die im Tenor genannten Fragen gemäß Art 267 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) zur Vorabentscheidung vor. Nach Vorprüfung geht er davon aus, dass es von der zutreffenden Auslegung des Art 62 Abs 1 VO
(EG) 883/2004 iVm Art 62 Abs 2 VO (EG) 883/2004 abhängt, ob der Kläger in dem streitigen Zeitraum vom 25.11.2014 bis 30.6.2015
höheres Alg beanspruchen kann.
I. Die maßgeblichen Rechtsvorschriften
1. Nationales Recht
Die maßgeblichen Vorschriften des nationalen Rechts zur Höhe des Alg in den §§
149 ff
SGB III (anwendbar ist hier das
SGB III in der Fassung des seit dem 1.4.2012 geltenden Gesetzes zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt vom 20.12.2011,
BGBl I 2854 ff) lauten auszugsweise wie folgt:
Das Arbeitslosengeld beträgt ...
2. für die übrigen Arbeitslosen 60 Prozent (allgemeiner Leistungssatz) des pauschalierten Nettoentgelts (Leistungsentgelt),
das sich aus dem Bruttoentgelt ergibt, das die oder der Arbeitslose im Bemessungszeitraum erzielt hat (Bemessungsentgelt).
§
150 SGB III - Bemessungszeitraum und Bemessungsrahmen
(1) Der Bemessungszeitraum umfasst die beim Ausscheiden aus dem jeweiligen Beschäftigungsverhältnis abgerechneten Entgeltabrechnungszeiträume
der versicherungspflichtigen Beschäftigungen im Bemessungsrahmen. Der Bemessungsrahmen umfasst ein Jahr; er endet mit dem
letzten Tag des letzten Versicherungspflichtverhältnisses vor der Entstehung des Anspruchs.
(2) Bei der Ermittlung des Bemessungszeitraums bleiben außer Betracht ...
3. Zeiten, in denen Arbeitslose Elterngeld oder Erziehungsgeld bezogen oder nur wegen der Berücksichtigung von Einkommen nicht
bezogen haben oder ein Kind unter drei Jahren betreut und erzogen haben, wenn wegen der Betreuung und Erziehung des Kindes
das Arbeitsentgelt oder die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit gemindert war,
4. Zeiten, in denen Arbeitslose eine Pflegezeit nach ... in Anspruch genommen haben sowie ..., wenn wegen der Pflege das Arbeitsentgelt
oder die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit gemindert war; ...
(3) Der Bemessungsrahmen wird auf zwei Jahre erweitert, wenn
1. der Bemessungszeitraum weniger als 150 Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt enthält, ...
(1) Bemessungsentgelt ist das durchschnittlich auf den Tag entfallende beitragspflichtige Arbeitsentgelt, das die oder der
Arbeitslose im Bemessungszeitraum erzielt hat ...
(4) Haben Arbeitslose innerhalb der letzten zwei Jahre vor der Entstehung des Anspruchs Arbeitslosengeld bezogen, ist Bemessungsentgelt
mindestens das Entgelt, nach dem das Arbeitslosengeld zuletzt bemessen worden ist ...
(1) Kann ein Bemessungszeitraum von mindestens 150 Tagen mit Anspruch auf Arbeitsentgelt innerhalb des auf zwei Jahre erweiterten
Bemessungsrahmens nicht festgestellt werden, ist als Bemessungsentgelt ein fiktives Arbeitsentgelt zugrunde zu legen. ...
(2) Für die Festsetzung des fiktiven Arbeitsentgelts ist die oder der Arbeitslose der Qualifikationsgruppe zuzuordnen, die
der beruflichen Qualifikation entspricht, die für die Beschäftigung erforderlich ist, auf die die Agentur für Arbeit die Vermittlungsbemühungen
für die Arbeitslose oder den Arbeitslosen in erster Linie zu erstrecken hat. Dabei ist zugrunde zu legen für Beschäftigungen,
die
1. eine Hochschul- oder Fachhochschulausbildung erfordern (Qualifikationsgruppe 1), ein Arbeitsentgelt in Höhe von einem Dreihundertstel
der Bezugsgröße,
2. einen Fachschulabschluss, den Nachweis über eine abgeschlossene Qualifikation als Meisterin oder Meister oder einen Abschluss
in einer vergleichbaren Einrichtung erfordern (Qualifikationsgruppe 2), ein Arbeitsentgelt in Höhe von einem Dreihundertsechzigstel
der Bezugsgröße,
3. eine abgeschlossene Ausbildung in einem Ausbildungsberuf erfordern (Qualifikationsgruppe 3), ein Arbeitsentgelt in Höhe
von einem Vierhundertfünfzigstel der Bezugsgröße,
4. keine Ausbildung erfordern (Qualifikationsgruppe 4), ein Arbeitsentgelt in Höhe von einem Sechshundertstel der Bezugsgröße.
2. Unionsrecht
Maßgebliche Bestimmung des Unionsrechts im Streitfall ist Art 62 VO (EG) 883/2004. Die Anwendbarkeit der VO (EG) 883/2004
folgt aus Art 8 iVm dem Anhang II Abschnitt A Nr 1 des Abkommens vom 21.6.1999 zwischen der Europäischen Gemeinschaft und
ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit vom 21.6.1999
(ABl 2002, L 114, S 6) in der durch den Beschluss Nr 1/2012 des gemischten Ausschusses, eingesetzt im Rahmen des Abkommens
vom 31.3.2012 (ABl 2012, L 103, S 51), geltenden Fassung (vgl EuGH Urteil vom 21.3.2018, J. Klein-Schiphorst, C-551/16, EU:C:2018:200, RdNr 3 f, 28).
II. Erwerb des Anspruchs auf Alg unter Berücksichtigung von Unionsrecht
Die Beklagte erbringt die Leistungen bei Arbeitslosigkeit als zuständiger Träger des Wohnmitgliedstaats während der letzten
Beschäftigung nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften (Art 11 Abs 3 VO [EG] 883/2004). Der Kläger erfüllte vom 25.11.2014
bis zum 30.6.2015 sämtliche Anspruchsvoraussetzungen auf Alg, ohne die eine Klage auf höhere Leistungen von vornherein keinen
Erfolg haben kann (vgl Bundessozialgericht [BSG] Urteil vom 9.12.2004 - B 7 AL 24/04 R - BSGE 94, 109 = SozR 4-4220 § 3 Nr 1). Die nach schweizerischen Rechtsvorschriften zurückgelegten Beschäftigungszeiten hat die Beklagte
für den Erwerb des Anspruchs auf Alg berücksichtigt (Art 61 Abs 1 VO [EG] 883/2004). Etwaige Rechte aus dem bilateralen Abkommen
zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik Deutschland über Arbeitslosenversicherung vom 20.10.1982
sind unbeachtlich, weil die Ansprüche des Klägers auf Alg vollständig nach dem Inkrafttreten der VO (EG) 883/2004 begründet
worden sind (vgl EuGH Urteil vom 5.2.2002, Kaske, C-277/99, EU:C:2002:74, RdNr 33).
III. Beurteilung der Höhe des Alg nach innerstaatlichem Recht
Nach innerstaatlichem Recht muss die Höhe des Alg des Klägers aufgrund einer fiktiven Bemessung berechnet werden. Dies beruht
auf §
152 Abs
1 SGB III. Auch innerhalb des auf zwei Jahre erweiterten Bemessungsrahmens (§
150 Abs
3 Satz 1 Nr
1 SGB III) lag bei dem Kläger kein Bemessungszeitraum (Zeitraum versicherungspflichtiger Beschäftigungen, §
150 Abs
1 Satz 1
SGB III) von mindestens 150 Tagen mit Anspruch auf Arbeitsentgelt im Inland vor. Die Beklagte ist weiter davon ausgegangen, dass
sich ihre Vermittlungsbemühungen entsprechend der langjährigen Tätigkeit des Klägers als Werkzeugvoreinsteller bzw Fräser
auf vergleichbare Tätigkeiten richten müssen (§
152 Abs
2 Satz 1,
2 Nr
3 SGB III) und hat unter Berücksichtigung der Bezugsgröße für das Jahr 2014 (33 180 Euro) zu Recht ein tägliches Alg in Höhe von 29,48
Euro errechnet.
Bei der fiktiven Bemessung nach §
152 Abs
1 SGB III, die unabhängig von dem individuell erzielten Entgelt ist, wird pauschalierend ein von der Bezugsgröße in der Sozialversicherung
(§ 18 Sozialgesetzbuch Viertes Buch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - [SGB IV]) abhängiges Entgelt zugeordnet.
Dies soll der Vereinfachung des Leistungsrechts dienen (vgl BT-Drucks 15/1515, Entwurf eines Dritten Gesetzes für moderne
Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 5.9.2003, S 71, 85 f zu den inhaltsgleichen Vorgängerregelungen). Die Bezugsgröße im
Sinne der Vorschriften für die Sozialversicherung bestimmt sich im Grundsatz nach dem Durchschnittsentgelt der gesetzlichen
Rentenversicherung im vorvergangenen Kalenderjahr (§
18 Abs
1 SGB IV). Für dieses Durchschnittsentgelt ist die Entwicklung der Bruttolöhne und -gehälter maßgebend (§ 69 Abs 2 Satz 1 Nr 1 Sozialgesetzbuch
Sechstes Buch - Gesetzliche Rentenversicherung).
Das während der kurzen Beschäftigung des Klägers in Deutschland vom 1.11.2014 bis 24.11.2014 erarbeitete Arbeitsentgelt war
nach innerstaatlichem Recht auch aus einem weiteren Grund nicht zu berücksichtigen. Die Voraussetzung des §
150 Abs
1 Satz 1
SGB III, dass das Arbeitsentgelt beim Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis bereits abgerechnet war, lag nicht vor. Zweck der Regelung
ist es, unter Inkaufnahme vereinfachter Maßstäbe bei der Leistungsberechnung eine schnelle Feststellung und Auszahlung des
Alg ohne aufwändige Ermittlungen des "erarbeiteten Arbeitsentgeltanspruchs" durch die Arbeitsverwaltung zu ermöglichen. Dabei
wird hingenommen, dass diejenigen Teile des Arbeitseinkommens unberücksichtigt bleiben, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht
abgerechnet sind (ständige Rechtsprechung; vgl BSG Urteil vom 6.3.2013 - B 11 AL 12/12 R - SozR 4-4300 § 132 Nr 9 RdNr 20 mwN).
IV. Beurteilung der Höhe des Alg nach Unionsrecht
1. Anwendbare Vorschriften der VO (EG) 883/2004
Der Kläger, der nach den Rechtsvorschriften zweier Mitgliedstaaten zum Bezug von Alg berechtigt ist, fällt aufgrund seiner
Zugehörigkeit zu einem System der sozialen Sicherheit in den persönlichen Geltungsbereich der VO (EG) 883/2004. Die Höhe seiner
Arbeitslosenunterstützung bestimmt sich nach Art 62 Abs 1 VO (EG) 883/2004 iVm Art 62 Abs 2 VO (EG) 883/2004. Die ausschließlich
für Grenzgänger geltende Regelung des Art 62 Abs 3 VO (EG) 883/2004, nach der das Entgelt entscheidend ist, welches der Arbeitslose
im Beschäftigungsstaat erhalten hat, findet auf den Kläger keine Anwendung. Er hat die Grenzgängereigenschaft mit der Aufnahme
der Beschäftigung im Inland verloren.
Unionsrechtlich geklärt ist, dass die Anknüpfung der Berechnung des Alg an die nationalen Regelungen der Mitgliedstaaten bei
Vorbeschäftigung im Wohnsitzstaat mit höherrangigem EU-Recht vereinbar ist. Zwar bestimmt Art 48 Satz 1 Buchst a AEUV, dass eine Zusammenrechnung aller nach den verschiedenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften berücksichtigten Zeiten für
den Erwerb und die Aufrechterhaltung des Leistungsanspruchs sowie für die Berechnung der Leistungen erfolgen soll. Der Unionsgesetzgeber
hat jedoch einen weiten Ermessensspielraum (vgl EuGH Urteil vom 31.5.2001, Leclere und Deaconescu, C-43/99, EU:C:2001:303, RdNr 29) bei der Ausgestaltung des Freizügigkeitsrechts. Ein Unterschied zwischen den in den Rechtsvorschriften
des Mitgliedstaats der letzten Beschäftigung vorgesehenen Leistungen und solchen, die nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats
erbracht werden können, kann nicht als eine Beschränkung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer angesehen werden. Die Unterschiede
ergeben sich vielmehr aus der fehlenden Harmonisierung des Unionsrechts (vgl EuGH Urteil vom 11.4.2013, Jeltes, C-443/11, EU:C:2013:224, RdNr 45 f; Otting in Hauck/Noftz, EU-Sozialrecht, K Art 62 VO (EG) 883/2004, RdNr 2, Stand Juli 2015; Felten
in Spiegel, Kommentar zum zwischenstaatlichen Sozialversicherungsrecht, 4. Aufl 2017, Art 62 RdNr 1; aA Fressco, Analytical
Report 2015, 45 f).
2. Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen für das Verfahren Art 62 Abs 1 VO (EG) 883/2004 regelt, dass der zuständige
Träger eines Mitgliedstaats, nach dessen Rechtsvorschriften bei der Berechnung der Leistungen die Höhe des früheren Entgelts
oder Erwerbseinkommens zugrunde zu legen ist, ausschließlich das Entgelt oder Erwerbseinkommen berücksichtigt, das die betreffende
Person während ihrer letzten Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit nach diesen Rechtsvorschriften erhalten hat.
Nach Art 62 Abs 2 VO (EG) 883/2004 findet Art 62 Abs 1 VO (EG) 883/2004 auch Anwendung, wenn nach den für den zuständigen
Träger geltenden Rechtsvorschriften ein bestimmter Bezugszeitraum für die Ermittlung des als Berechnungsgrundlage für die
Leistungen heranzuziehenden Entgelts vorgesehen ist und die betreffende Person während dieses Zeitraums oder eines Teils davon
den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats unterlag.
Aus der in Art 62 Abs 1 VO (EG) 883/2004 enthaltenen Beschränkung der Berechnung der Arbeitslosenunterstützung nach den innerstaatlichen
Rechtsvorschriften auf das "während" der letzten Beschäftigung "erhaltene" Arbeitsentgelt haben die Vorinstanzen in Übereinstimmung
mit der höchstrichterlichen sozialgerichtlichen Rechtsprechung abgeleitet, dass eine fiktive Bemessung nach §
152 SGB III ausgeschlossen sei. Dies soll auch gelten, wenn die letzte Beschäftigung im Wohnmitgliedstaat weniger als 150 Tage mit Anspruch
auf Arbeitsentgelt, etwa nur wenige Wochen oder Tage, umfasst (vgl BSG Urteil vom 17.3.2015 - B 11 AL 12/14 R - SozR 4-4300 § 131 Nr 6; LSG Baden-Württemberg Urteil vom 22.3.2013 - L 8 AL 1225/11 - DE:LSGBW:2013:0322.L8AL1225.11.OA, RdNr 22 ff; aA LSG Baden-Württemberg Urteil vom 19.10.2011 - L 3 AL 5476/10 - DE:LSGBW:2011:1019.L3AL5476.10.OA, RdNr 34). Nicht entschieden ist, ob ein Ausschluss der fiktiven Bemessung nach innerstaatlichen
Vorschriften auch greift, wenn das Arbeitsentgelt bis zum Ausscheiden aus dem Beschäftigungsverhältnis noch nicht iS des §
150 Abs
1 Satz 1
SGB III abgerechnet war (vgl zum Ganzen: BSG Urteil vom 17.3.2015 - B 11 AL 12/14 R - SozR 4-4300 § 131 Nr 6, RdNr 27 f). Hieraus leitet sich die Frage ab, ob Art 62 Abs 1 VO (EG) 883/2004 die innerstaatlichen
Rechtsvorschriften nicht nur hinsichtlich einer dort vorgesehenen fiktiven Bemessung, sondern auch weiterer Berechnungsregelungen
modifiziert bzw verdrängt.
Würden beide Vorlagefragen bejaht, hätte die Revision der Beklagten keinen Erfolg und die Urteile der Vorinstanzen wären zu
bestätigen. Dagegen wäre die Revision der Beklagten erfolgreich, wenn die erste Vorlagefrage bejaht und die zweite Vorlagefrage
verneint würde. Insofern weist die Beklagte zu Recht darauf hin, dass das Arbeitsentgelt dann nicht berücksichtigt werden
könnte. Dem Alg des Klägers wäre dann nach Ansicht des Senats mangels anderer Berechnungsmöglichkeiten im innerstaatlichen
Recht eine fiktive Bemessung zugrunde zu legen.
3. Entscheidungen des EuGH
Eine Entscheidung des EuGH zur Auslegung des Art 62 VO (EG) 883/2004, der eine Antwort auf die Vorlagefragen entnommen werden
könnte, ist nicht ersichtlich.
Zwar liegt ein Urteil des EuGH zu Art 68 Abs 1 VO (EWG) 1408/71, der Vorgängerregelung von Art 62 VO (EG) 883/2004, vor. Nach
Art 68 Abs 1 Satz 2 VO (EWG) 1408/71 war eine fiktive Bemessung nach dem koordinierenden Sozialrecht bei einer Beschäftigung
im Wohnmitgliedstaat von weniger als vier Wochen vorgeschrieben. Die Arbeitslosenunterstützung war dann nach dem Entgelt zu
berechnen, "das am Wohnort oder Aufenthaltsort des Arbeitslosen für eine Beschäftigung üblich ist, die der Beschäftigung,
die er zuletzt im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats ausgeübt hat, gleichwertig oder vergleichbar ist". Für die besondere,
hier nicht gegebene Konstellation eines Grenzgängers hat der EuGH ausgeführt, dass abgesehen von dem Sonderfall des Art 68
Abs 1 Satz 2 VO (EWG) 1408/71, das "frühere" Entgelt, das in der Regel der Berechnung der Leistungen bei Arbeitslosigkeit
zugrunde zu legen sei, nach der VO (EWG) 1408/71 dasjenige Entgelt sei, das der Arbeitnehmer während seiner letzten Beschäftigung
"erhalten" habe. Hiervon abweichend müsse die Berechnung der Leistungen nur in bestimmten Ausnahmefällen auf der Grundlage
des vermuteten und nicht des tatsächlichen Entgelts für die letzte Beschäftigung erfolgen (vgl EuGH Urteil vom 28.2.1980,
Fellinger, 67/79, EU:C:1980:59). Diese Entscheidung betrifft jedoch allein das Verhältnis zwischen einer Bemessung nach dem
Entgelt der letzten Beschäftigung im zuständigen Wohnmitgliedstaat und der in Art 68 Abs 1 Satz 2 VO (EWG) 1408/71 festgelegten
fiktiven Bemessung auf der Ebene des Unionsrechts. Eine Aussage zur Zulässigkeit des Rückgriffs auf eine nach den innerstaatlichen
Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats vorgeschriebene fiktive Bemessung ist hiermit nicht verbunden.
In einem weiteren Urteil vom 1.10.1992 (Grisvard/Kreitz, C-201/91, EU:C:1992:368) hatte sich der EuGH mit der Auslegung des Art 68 Abs 1 VO (EWG) 1408/71 iVm Art 71 Abs 1 Buchst a Ziffer
ii VO (EWG) 1408/71 zu befassen. Seine Entscheidung, dass das im Beschäftigungsstaat zuletzt bezogene Entgelt des Grenzgängers
ohne die während der letzten Beschäftigung geltenden Begrenzungsvorschriften des Beschäftigungsstaats (Entgeltobergrenzen
des deutschen Arbeitslosenversicherungssystems) zu berücksichtigen seien, hat der EuGH damit begründet, dass grundsätzlich
die Vorschriften des Wohnmitgliedstaats anzuwenden seien. Zudem hat er mit Bezug auf die Koordinierung der nationalen Systeme
der sozialen Sicherheit betont, dass eine "Beschäftigung" iS von Art 71 Abs 1 VO (EWG) 1408/71 eine solche sei, die nach den
Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem sie ausgeübt werde, als solche angesehen werde (vgl EuGH Urteil vom 11.11.2004,
Adanez-Vega, C-372/02, EU:C:2004:705). Diese Ausführungen unterstreichen die Bedeutung der Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats für
die Berechnung der Arbeitslosenunterstützung, betreffen jedoch andere tatsächliche Ausgangslagen.
4. Zu den Vorlagefragen
Zwar könnte eine enge Auslegung des Wortlauts des Art 62 Abs 1 VO (EG) 883/2004 ("ausschließlich das Entgelt" - "erhalten
hat") für die Rechtsauffassung der Vorinstanzen sprechen, der auch in der innerstaatlichen Literatur zugestimmt wird. Allerdings
enthält Art 62 Abs 1 VO (EG) 883/2004 auch eine Bezugnahme auf die Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats ("nach
dessen Rechtsvorschriften bei der Berechnung der Leistungen ..."). Bei einer Auslegung des Art 62 VO (EG) 883/2004 ist indes
nicht nur dessen Wortlaut, sondern sind auch der Zusammenhang der Vorschrift und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der
Regelung verfolgt werden (vgl EuGH Urteil vom 21.3.2018, J. Klein-Schiphorst, C-551/16, EU:C:2018:200, RdNr 34). Da Art 61 VO (EG) 883/2004 eine Zusammenrechnung der in verschiedenen Mitgliedstaaten zurückgelegten
Beschäftigungs- und Versicherungszeiten auch bei nur kurzer Beschäftigung durch den damit nach Art 61 VO (EG) 883/2004 für
die Leistungserbringung zuständigen Träger eines Mitgliedstaats vorsieht, soll Art 62 VO (EG) 883/2004 den vom Unionsgesetzgeber
aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung intendierten Rückgriff der Mitgliedstaaten auf die innerstaatlichen Bemessungsvorschriften
auch dann ermöglichen, wenn kein ausreichend langer Bezugszeitraum für die Berechnung der Arbeitslosenunterstützung vorliegt.
Der Senat neigt daher zu der Ansicht, dass Art 62 Abs 1 VO (EG) 883/2004 nur an den "Regelfall" der Bemessung nach einem früheren
Entgelt anknüpfen will. Dies dürfte andere Bemessungsregelungen und -methoden wie die Heranziehung allein des beim Ausscheiden
auch abgerechneten Arbeitsentgelts und eine ersatzweise fiktive Bemessung nach den innerstaatlichen Vorschriften nicht ausschließen.
Einer fiktiven Bemessung nach innerstaatlichem Recht dürfte auch nicht entgegenstehen, dass die Ausnahmeregelung zur fiktiven
Bemessung in Art 68 Abs 1 Satz 2 der VO (EWG) 1408/71 nicht in die VO (EG) 883/2004 übernommen worden ist. Grund hierfür war
die schwierige praktische Umsetzbarkeit dieser Vorschrift auf der Ebene des Unionsrechts (vgl Karl in Marhold, Das neue Sozialrecht
der EU, 2005, 43 f; vgl zur Anwendung des Art 68 Abs 1 Satz 2 der VO [EWG] 1408/71: LSG Berlin Urteil vom 22.3.2002 - L 10 AL 162/00). Dies kann aber nach Ansicht des Senats nicht zum gänzlichen Ausschluss einer im innerstaatlichen Recht vorhandenen anders
ausgestalteten (fiktiven) Bemessung führen.
Zweifel an der bisherigen Auslegung des Art 62 Abs 1 VO (EG) 883/2004 iVm Art 62 Abs 2 VO (EG) 883/2004 durch die innerstaatlichen
Gerichte ergeben sich auch aus den Grundsätzen der europäischen Sozialrechtskoordinierung. Art 48 AEUV sieht nur eine Koordinierung und keine Harmonisierung der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten vor. Entsprechend dem Erwägungsgrund
Nr 4 der VO (EG) 883/2004 ("Es ist notwendig, die Eigenheiten der nationalen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit zu
berücksichtigen und nur eine Koordinierungsregelung vorzusehen") bleiben die Mitgliedstaaten für die Festlegung der innerstaatlichen
Voraussetzungen der Leistungen der sozialen Sicherheit zuständig. Materielle und formelle Unterschiede zwischen den Systemen
der sozialen Sicherheit der einzelnen Mitgliedstaaten und folglich zwischen den Ansprüchen der dort Versicherten werden durch
die Bestimmungen des Koordinierungsrechts grundsätzlich nicht berührt (vgl EuGH Urteil vom 16.7.2009, Chamier-Glisczinski,
C-208/07, EU:C:2009:455, RdNr 84; EuGH Urteil vom 11.4.2013, Jeltes, C-443/11, EU:C:2013:224, RdNr 43; EuGH Urteil vom 19.9.2013, Brey, C-140/12, EU:C:2013:565, RdNr 43; EuGH Urteil vom 14.6.2016, Kommission/Vereinigtes Königreich, C-308/14, EU:C:2016:436, RdNr 67; EuGH Urteil vom 21.3.2018, J. Klein-Schiphorst, C-551/16, EU:C:2018:200, RdNr 44). Einem solchen System ist immanent, dass die Voraussetzungen für die Arbeitslosenunterstützung nach
den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten unterschiedlich ausgestaltet sind.
Für eine Auslegung des Art 62 Abs 1 VO (EG) 883/2004 iVm Art 62 Abs 2 VO (EG) 883/2004, die den Begriff des "erhaltenen Entgelts"
nur im Sinne einer regelmäßigen Anknüpfung für die Sozialrechtskoordinierung versteht und die jeweiligen Berechnungsregelungen
und -methoden der Mitgliedstaaten im Übrigen unberührt lässt, spricht nach Ansicht des Senats, dass ansonsten in mehrfacher
Hinsicht in die innerstaatliche Gestaltung der Arbeitslosenunterstützung eingegriffen würde. So wäre bei alleiniger Berücksichtigung
des Entgelts der letzten Beschäftigung etwa auch ein wegen Kindererziehung oder Pflege reduziertes Entgelt während der letzten
Beschäftigung im Wohnmitgliedstaat zu berücksichtigen. Dies soll nach innerstaatlichem Recht jedoch gerade außer Betracht
bleiben (§
150 Abs
2 Satz 1 Nr
3,
4 SGB III). Auch könnte fraglich sein, ob ein höheres bestandsgeschütztes Bemessungsentgelt nach §
151 Abs
4 SGB III aus einem früheren, noch nicht erloschenen Anspruch auf Alg der Bemessung zugrunde gelegt werden könnte. Das Gemeinschaftsrecht
steht günstigeren Vorschriften des nationalen Rechts aber nicht entgegen, sofern sie mit ihm vereinbar sind (vgl EuGH Urteil
vom 5.2.2002, Kaske, C-277/99, EU:C:2002:74, RdNr 33). Zudem ist in Art 62 Abs 1 VO (EG) 883/2004 nur bezogen auf den "Bezugszeitraum" eine Modifikation
der nationalen Rechtsvorschriften ausdrücklich festgeschrieben.
Aus den dargelegten Gründen hält der Senat eine Auslegung des Art 62 Abs 1 VO (EG) 883/2004 iVm Art 62 Abs 2 VO (EG) 883/2004,
nach der jegliches Entgelt während der letzten Beschäftigung unbesehen der (weiteren) innerstaatlichen Voraussetzungen als
Berechnungsgrundlage heranzuziehen und eine fiktive Bemessung nicht möglich ist, für nicht zweifelsfrei und sieht den in den
Vorlagefragen formulierten Klärungsbedarf.